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Wer wird Europäische Kulturhauptstadt 2025 und was heißt das für die Kulturpolitik in Deutschland? Bewegung durch Bewerbung

Von einer umfangreichen, gewinnbringenden und vielfältige positive Effekte stimulierenden Transformation schwärmen all diejenigen, die für die Initiative »Kulturhauptstadt Europas« werben. Die Auszeichnung ist mittlerweile zu einem starken Motor für kulturgeprägte Stadtentwicklung geworden. Das zeigt die Erfolgsgeschichte dieses Instruments der EU-Kulturförderung, das 1985 begann: Anfangs hatte die Initiative eher einen bunten Festivalcharakter, doch schon bald entwickelte sich ohne größeres Zutun der Kommission daraus eine Reihe, bei der es den teilnehmenden Städten gelang, ihren kulturpolitischen Herausforderungen durch interdisziplinäre Strategien neu zu begegnen.

In den letzten Jahren wurde vermehrt über das transformatorische Potenzial von Kulturpolitik publiziert. Den Reflexionen liegt dabei ein Verständnis einer Transformation zugrunde, die umfassende Veränderungen und Neuausrichtungen von Strukturen bewirkt. Die Definition der Soziologie meint dabei die sachliche und zeitliche Gesamtheit der spezifischen und relativ zielgerichteten sozialen Wandlungsprozesse. Allgemein gibt es in den letzten Jahren in den meisten Städten genügend kulturpolitische Herausforderungen, die eine transformatorische Kulturpolitik erfordern: der demografische Wandel, die Diversität und Pluralisierung der Gesellschaft, Digitalisierung und Globalisierung, ein verändertes Kommunikations- und Partizipationsverhalten von Kulturrezipienten, allzu oft stagnierende finanzielle Ressourcen bei gleichzeitig wachsenden Ausgaben, neue, häufig nicht sichtbare Kulturakteure, fehlende Netzwerkstrukturen und nach wie vor trotz vieler Projekte ein Mangel an infrastruktureller Verankerung von kultureller Bildung.

Seit der ambitionierten Ausgestaltung der Initiative zur Europäischen Kulturhauptstadt bewerben sich jedes Jahr zahlreiche Städte. Neben dem Kulturprogramm werden dabei auch kommunale Handlungsfelder wie Stadtentwicklung, Wirtschaft, Soziales, Bildung und Tourismus angegangen. Hierbei stehen die Fragen nach dem Transformationsbedarf an vorderster Stelle.

»Kulturhauptstädte bieten den Bürgern einen Rahmen, die Rolle ihrer Stadt in Europa zu reflektieren, sich ihrer zu vergewissern und durch künstlerische Aktionen mit ihrer Identität im Kleinen (in der sie umgebenden Region) und im Großen (Europa) auseinanderzusetzen«, schreibt die Europawissenschaftlerin Kristina Jacobsen in der Einleitung zu ihrer Dissertation. Ihr Interesse ist es, zu überprüfen, inwieweit die Kriterien für die Vergabe des Titels zu erfolgreichem Handeln geführt haben, das die Stadt und Gesellschaft verändert und nachwirkt. Während Kommunalpolitik oft Image und Marketing im Blick hat, auf die Steigerung von Touristenzahlen, neue Arbeitsplätze in der Kultur- und Kreativwirtschaft sowie auf andere Anschubeffekte setzt, fokussiert sie auf den Eigenwert der Kultur, wie es ja auch selbst in einem EU-Beschluss von 2014 zur europäischen Kulturpolitik beschrieben wird. Am Beispiel von RUHR.2010 und Marseille-Provence (MP 2013) fragt sie nach den kulturpolitischen Dispositionen und Perspektiven sowie den Konzeptionen der beiden Kulturhauptstädte für kulturpolitische Transformationen.

Anspruch und Wirklichkeit werden beim Namen benannt, die beiden Kulturhauptstadtjahre werden an Beispielen von Programmen und Projekten analysiert, reflektiert und kritisiert. Das Motto von RUHR.2010 lautete »Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel« und sollte Impulse für die Entwicklung einer ganzen Region anstoßen. In Sachen Cultural Governance scheint dies gelungen zu sein. Kristina Jacobsen nennt in diesem Zusammenhang die vielen Kooperationsprojekte mit Partnern in der Stadt und der Region. »Local Heroes« machte jede Woche, ein ganzes Jahr lang, eine andere der 53 Städte zur Kulturhauptstadt. Der Zusammenschluss von 20 Kunstmuseen und ein Netzwerk von elf Stadttheatern diente ebenso der dezentralen Distribution. »Jedem Kind sein Instrument« war ein Beitrag zur musikalischen Bildung, der bis zum heutigen Tag von Musikschulen und Grundschulen getragen wird. Der »Emscherkunstpfad« bleibt, ebenso wie eine jährliche Kulturkonferenz und das »European Center für Creative Economy«. Fast fünf Millionen Euro Landesmittel stehen dauerhaft für Nachhaltigkeitsarchitektur zur Verfügung.

»Vom Mythos zur Marke« lautet das Resumee der Geschäftsführung damals in Essen und Kristina Jacobsen sieht, dass in dieser Formulierung ein utilitaristisches Verständnis von Kultur als Instrument mitschwingt, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Kritisiert wird die geringe Einbindung von lokalen Künstlern und trotz einer Niedrigpreisstrategie wurden die sogenannten Nicht-Besucher nicht in dem propagierten Maße erreicht. Nicht zuletzt seien die Versprechungen der Programmverantwortlichen in Bezug auf eine nachhaltige Verbesserung der kulturellen Infrastruktur beim Thema Mobilität nicht eingelöst worden.

Experimentierfläche für kommunale Kulturpolitik

Zentrales Thema in MP 2013 war der Austausch mit den Kulturen des Mittelmeerraums. Ein vom französischen Staat finanziertes Museum, dem »Musée des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée«, wurde zum Gesicht des Kulturhauptstadtjahres und zudem Dreh- und Angelpunkt eines Stadtumbaus, der noch bis ins nächste Jahrzehnt dauern wird. Neben den städtebaulichen Neuerungen habe auch die Kunst- und Kulturszene seit dem Kulturhauptstadtjahr einen Aufwind erfahren. Aus dem ehemaligen soziokulturellen Projekt »La Friche La Belle de Mai« wurde ein Kulturzentrum für Künstler und Galeristen. Ansonsten berichtet Kristina Jacobsen von fehlender Kooperationsbereitschaft kommunaler und regionaler Akteure, von der durch MP 2013 ausgelösten Gentrifizierung und – ebenso wie bei RUHR.2010 – von der Unzufriedenheit der lokalen Kulturschaffenden hinsichtlich des Grades ihrer Einbindung in das Programm. Offenbar scheint es aber gelungen zu sein, mit niedrigschwelligen Angeboten die Partizipation der breiten Bevölkerung zu ermöglichen.

Den beiden Städten ist in der Nachbetrachtung durchaus der Wille zu einer Politik der Transformation zu attestieren. Die Kulturhauptstädte Europas hatten 2010 und 2013 das Potenzial, Entwicklungen der Stadtgesellschaft zu stimulieren, die künstlerischen Besonderheiten sichtbar zu machen und ein Selbstbildnis städtischer Kultur zu vermitteln. Sie können als Experimentierfläche dienen, um in diesem Sinne neue Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten auszuprobieren.

Während die diesjährigen Europäischen Kulturhauptstädte Galway (Irland) und Rijeka (Kroatien) ihre Programme starten, machen sich die fünf deutschen Städte der Shortlist für 2025 (Chemnitz, Hannover, Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg) auf den Weg, ihr Bid Book zu überarbeiten. Am 23. September 2020 fällt dann endgültig die Entscheidung, welche Stadt in Deutschland als Europäische Kulturhauptstadt 2025 ausgezeichnet wird.

Der Journalist Sven Scherz-Schade hat in der Dezember-Ausgabe 2019 von Politik & Kultur über vier Seiten die Bewerbungsdokumente analysiert und von den geplanten Schwerpunkten in den Kulturkonzeptionen berichtet. Chemnitz kämpft seit den neonazistischen Ausschreitungen gegen einen schlechten Leumund und verkündete mit dem Titel »Aufbrüche« das Narrativ des Programms. Wichtig war dem Projektteam wohl auch eine Strategie für eine Kulturregion, die sowohl die Steigerung der Lebensqualität im ländlichen Raum als auch die Entwicklung von Kultur als ökonomischer Motor zum Ziel hat.

Hannover lieferte ein Bewerbungsschreiben als Roman mit Akteuren wie Gottfried Wilhelm Leibniz und Kurt Schwitters und setzt auf die Stadt als Gesamtkunstwerk. Im Mittelpunkt stehe aber die Agora, der Marktplatz der Antike, mehr metaphorisch gemeint oder vielleicht letztlich doch als Bauvorhaben? Wesentlich konkreter sind die Hildesheimer, die »Beets, Roses and the Meaning of Life« zur Überschrift machen und mit einer Zuckerrübe, »das weiße Gold der Börde Niedersachsens«, klarmachen: Es geht um Regionalentwicklung, vom ÖPNV über die Breitenkultur bis zum kulturellen Erbe.

Magdeburg will raus aus der Lehre und bezieht sich dabei auf den großen Sohn der Stadt, Otto von Guericke, einen Naturwissenschaftler des 17. Jahrhunderts, der mithilfe von Kolbenpumpen die Vakuumtechnik begründete. Es gelte das Unterbelichtete zu erhellen, das Prozesshafte zu pflegen und sich um die Biodiversität zu kümmern.

Nürnberg, gewissermaßen zwischen Dürer und Führer, will eine positive internationale Geschichte schreiben; bei 46 % Bevölkerung mit Migrationshintergrund ein naheliegender Impuls. Eine Kulturhauptstadt von unten zu werden, das bestimmte bisher das Prinzip der Vorarbeiten in den allseits bekannten Kulturläden, die in Deutschland die soziokulturellen Zentren begründeten, aber auch mit Aktionen auf der Straße, unter dem Motto »umsonst & draußen« sowie mit der geballten Kraft der jungen Kreativszene.

Teilhabe und Nachhaltigkeit als Kriterien

Scherz-Schade kommt in seiner ausführlichen Recherche zu dem Schluss, dass in allen Bewerberstädten schon jetzt vieles in Bewegung gekommen sei, was der Kultur und der jeweiligen Stadtentwicklung in den kommenden Jahren guttun werde. Das war auch der Anspruch einiger kulturpolitischer Konferenzen im Vorfeld der Entscheidung. Erstmals trafen sich die Kulturverantwortlichen, damals noch aus elf Städten, im Sommer 2017 an der Universität Hildesheim und siehe da, alle waren bereit, den Wettbewerb gemeinsam zu nutzen. In Dresden hieß die Zusammenkunft ein paar Monate später zwar noch »Kampf der Konkurrenten«, danach in Chemnitz und Magdeburg waren aber schon alle dabei, am gleichen Strang zu ziehen, nämlich die Verantwortung von Kommunalpolitik und der Kulturpolitik der Länder zu propagieren und deren bundespolitische Bedeutung herauszustellen. Denn der Kulturstaat müsse sich den Herausforderungen der Transformationsprozesse in den Städten und Regionen stellen und dies auch in Kulturkonzeptionen und Kulturhaushalten umsetzen.

Anlässlich einer Podiumsdiskussion 2018 in der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin forderten Deutscher Kulturrat und Deutscher Städtetag unisono die stärkere Beteiligung des Bundes und zwar nicht nur in 2025, sondern dauerhaft, flächendeckend und nachhaltig für die Kulturentwicklung in Stadt und Land. Und damit die europäische Initiative, die doch allzu oft die großen Kulturbetriebe bevorzugt, auch als deutsche Initiative eine Akzentuierung in der Kulturpolitik erfahren darf, meldeten sich die »Freien Kulturszenen« aus den deutschen Bewerberstädten zu Wort. Ihr Aufruf strotzt vor Selbstbewusstsein, da die freie Kultur die Stadt »bunt und lebenswert« mache. Deren Projekte rechtfertigen das Aufbegehren, denn sie sind Teil der Selbstverständigung der Stadtgesellschaften, nutzen europäische Netzwerke und beteiligen die Breite der Bevölkerung in Theater-, Film-, Literatur-, Kunst-, Musik- und Clubprojekten. Sie fordern ein substanzielles Mitspracherecht, eine angemessene finanzielle Ausstattung und erwarten bezüglich der Förderung einen gleichberechtigten Status gegenüber öffentlichen Einrichtungen.

Die Initiative der Europäischen Union für eine Kulturhauptstadt Europas 2025 kann also durchaus frischen Wind in die kulturpolitische Zukunftsfähigkeit der föderalen Bundesrepublik bringen.

Wolfgang Schneider/Kristina Jacobsen (Hg.): Transforming Cities. Paradigms and Potentials of Urban Development Within the European Capital of Culture. Olms, Hildesheim 2019, 286 S., 34,80 €.

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