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© Foto: picture alliance / agrarmotive | Klaus-Dieter Esser

Vom Projekt ungleicher Partner zu einer selbstbestimmten Kraft des Aufbruchs Das Narrativ der Ampel

»Wir sind eine Konstellation, die Parteien mit unterschiedlichen Traditionen und unterschiedlichen Sichtweisen zu einem innovativen Bündnis zusammenbringen kann. Wir können einen Beitrag leisten, politische Frontstellungen aufzuweichen und neue politische Kreativität zu entfachen. So schaffen wir einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch auf Höhe der Zeit. Als Fortschrittskoalition können wir die Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung stellen.« So ist der Anspruch der neuen Regierungskoalition im Sondierungspapier vom Oktober 2021 zu lesen. Der Kern der eigenen Mission soll es sein, eine »Fortschrittskoalition« zu werden.

Was wir hier lesen, ist nicht das Ergebnis eines tiefgreifenden inneren Bedürfnisses, sondern einer spezifischen Konstellation. Die Ampel war nicht die erste Präferenz der Koalitionäre. Sie war eher die zweite oder gar dritte Option, um an die Macht zu kommen. Die FDP wäre gerne mit der Union in eine Regierung gegangen; die Grünen und die SPD präferierten einander. Aber SPD, Grüne und FDP zusammen? Zu groß schienen lange Zeit einerseits die inhaltlichen, elektoralen sowie personellen Differenzen und zu gering andererseits die gemeinsamen positiven Erfahrungen. Was folgt daraus, dass diese Koalition angesichts vorhandener Differenzen vor ihrer Entstehung stärker fremd- als selbstbestimmt zueinander gefunden hat?

Schaut man kurz auf die Bilanz der GroKo zurück, so sind sich die Expert/innen einig, dass ihre Leistungen weitaus besser sind als ihr eher bescheidenes Image. Sie hat im Großen und Ganzen das geliefert, was sie versprochen hat. Trotzdem wird sie mehr als Problem, denn als Problemlöserin wahrgenommen. Ursächlich dafür war auch ihre fremdbestimmte Geburt und ihre fehlende selbstbestimmte, gemeinsame Grundidee.

Da die Ergebnisse modernen Regierens meist hinter den großen Herausforderungen herhinken, weil faktische Probleme größer, medial geschürte Erwartungen dynamischer und die Vermittlungsfähigkeit der Parteien zu schwach ist, bedarf es eines überzeugenden Narrativs, also eines bildhaften, einbettenden Erwartungsmanagements, um gesellschaftliche Loyalität zu entwickeln und um zu verhindern, dass die Kritik an der Regierung ins Grundsätzliche umschlägt.

Das bedeutet auch, dass es darum gehen muss, die anderen Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft mit ins Boot zu holen, um eine stärker selbstbestimmte Regierung der unterschiedlichen Herkünfte zu ermöglichen. Es geht um einen glaubwürdigen Aufbruch, den es braucht, um die Unterforderung der Gesellschaft, die die Union jahrelang praktizierte, auflösen zu können.

Der dritte Aufbruch

Auf zentralstaatlicher Ebene ist die Ampel die erste echte Dreierkoalition in Deutschland. Die Erfahrungen von Grünen und FDP mit den 2017 gescheiterten Jamaika-Verhandlungen sind wichtige Bausteine auf dem Weg zur Ampel. Jedenfalls gingen von der Art und Weise, wie FDP und Grüne dieses Mal die Koalitionsbildung angestoßen und vorstrukturiert haben, wertvolle Impulse für den weiteren Prozess aus.

Dabei war nicht nur aufgrund der mittleren Größenstruktur der beteiligten Parteien klar, dass die drei Partner nur dann eine belastbare Koalition bilden können, wenn diese durch wechselseitigen Respekt bestimmt ist. Offensichtlich ist, dass man sich Respekt und Vertrauen erarbeiten muss. Sie lassen sich in keinem Koalitionsvertrag der Welt verordnen. Deshalb ist ein Blick auf das Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung wichtig, um die Räume der gemeinsamen Entfaltung besser verstehen zu können.

Eine der Mütter der neuen Koalition war sicherlich Angela Merkel. Negativ, indem sie der Union wenig Schützenhilfe geben konnte, um sie – unabhängig von ihrer eigenen Person – stark zu machen und vom Kanzleramt zu emanzipieren. Positiv, indem sie den stilistischen Übergang auf den neuen Kanzler indirekt mitgestaltete und den Bruch nach 16 Jahren Ära Merkel somit abfederte. Die lange Kanzlerschaft Merkels und die Fragmentierung des Parteiensystems endeten mit einer strukturellen Abneigung bei den Parteiaktivisten (nicht bei den Wähler/innen) gegen die GroKo, die nicht fortgesetzt werden dürfe. Aus all dem ergab sich ein zwangloser Zwang zur Dreierkoalition. Damit ist die Ampel eine Melange aus fremdbestimmten Zwängen und selbstbestimmten Chancen.

Die Selbstverzwergung der Union, die binnen weniger Monate von Zustimmungswerten um die 40 % auf um die 20 % schrumpfte, hat sogleich das Fenster zur Stabilitätsbildung jenseits der Union geöffnet. Damit ist allerdings nicht nur die Chance zur Macht gemeint, sondern auch die zur selbstbestimmten inhaltlichen Neuprofilierung. Diese Chance ist besonders offensichtlich für die FDP, die nunmehr nicht nur machtpolitisch im Terrain der Union plündern kann, sondern auch inhaltlich und programmatisch.

Sie hat den weitesten Weg zur Ampel zurückgelegt und ist zugleich immer noch mit dem Druck konfrontiert, sich aus dem Verweigererimage von 2017 zu befreien. Hinzu kommt, dass sie machtpolitisch über keine Exit-Option verfügt. Denn wenn an ihr die Ampel scheitert, wird es mit ihr auch auf keinen Fall Jamaika geben. Alles andere würde einer Selbstaufgabe der Grünen gleichkommen.

Die Grünen haben nach 16-jähriger Regierungsabstinenz einen starken Willen zur Macht entwickelt, um als Hegemonialpartei von Mitte-Links die SPD zu beerben. Dabei folgten sie einem professionellen Zusammenspiel zwischen charismatischer Selbstmandatierung im Hinterzimmer und einer folgsam ergebenen Partei, die das einstige Mantra der Basisbeteiligung im Archiv der Böll-Stiftung abgegeben hat. Die Grünen haben die Ampelkoalition durch ihre programmatische Grundsatzpositionierung gut vorbereitet.

Ob dies auch auf die konkrete Arbeit in der Regierung zutrifft, kann wegen fehlender Erfahrungen und nach wie vor nur schwacher gesellschaftlicher Verankerung eher skeptisch beurteilt werden. Angst bereitet ihnen deshalb auch die Vorstellung, dass sie im klimapolitischen Regierungszyklus der nächsten vier Jahre alleine für das ökologische Projekt und sein Vorankommen verantwortlich gemacht werden könnten.

Die außerparlamentarischen Akteure im grünen Umfeld sind unzufrieden und drängeln auf die zentralstaatliche Ebene, unterstützt durch einen Teil der Medien. Diese Bewegungen und Gruppen werden vermutlich nicht ganz so geduldig sein, wie wir dies in den letzten Jahren auf Länderebene in Baden-Württemberg und Hessen (vor allem wegen schwächerer medialer und ideologischer Begleitung) beobachten konnten.

Die SPD, der Shootingstar der letzten Monate, kann durch die Ampel zeigen, dass sie unterschiedliche Interessen austarieren kann, ohne profil-, antriebs- und mobilisierungsschwach zu wirken. Sie könnte damit in der Koalition beweisen, dass sie das Regierungswerkzeug auch unter heterogenen Bedingungen im Sinne der antagonistischen Kooperation beherrscht. Ob die SPD nach einem guten Teamplay im Wahlkampf wieder in kakophonische Depressionsklänge abtaucht, sobald die Dinge schwieriger werden, ist zumindest nicht ausgeschlossen, wenn die Bewegungs-SPD ihren Spaß an der Opposition wiederentdecken sollte. Auf jeden Fall benötigen alle Koalitionsparteien, um ihrer selbst willen eines Daches, dass ihnen einerseits starke Loyalität zur gemeinsamen Sache abverlangt und andererseits zugleich die Luft zum Atmen lässt, um auch die eigenen Ziele weiter entwickeln zu können.

Mit der Ampel könnte nach 1969 und 1998 der dritte Aufbruch stattfinden, um das politische System resilienter zu machen und die politische Ökonomie des »Modells Deutschland« klimapolitisch aufzuladen. 1969 lautete die pathetische Formel »Mehr Demokratie wagen« und 1998 suchte »Rot-Grün« nach neuen Formen, um das moderne Regieren unter den Bedingungen des global gerahmten Strukturwandels abzusichern. Beide Regierungen kamen unter erheblichen Druck und scheiterten letztlich an den inneren Widersprüchen.

Beide Regierungen waren Koalitionen zwischen einer großen und einer kleinen Partei, die dem Modell von »Koch und Kellner« folgten. Dagegen umfasst die neu gebildete Regierung nicht nur drei Parteien; sie ist auch dadurch gekennzeichnet, dass die beiden kleineren Parteien zusammen etwa ähnlich stark sind wie die SPD. Insofern ist zwar die Richtlinienkompetenz des Kanzlers nicht obsolet, sie findet aber unter anderen machtpolitischen Bedingungen, also in einem anderen Umfeld statt. Statt purer Mehrheit braucht es also mehr argumentative Überzeugungskraft, was ja durchaus hilfreich sein könnte, um neue Wege zu gehen.

Herausforderungen der Zeit

Die nationalen und internationalen Erwartungen an eine neue deutsche Regierung, die ambitionierter an die Probleme herangeht, sind gewaltig. Dabei sind die internationalen Rahmenbedingungen auch nach Trump schwierig. Die Neuorientierung der USA nach Asien und die expansive Politik Chinas dynamisieren weiter die Verhältnisse. Dazwischen liegt eine zutiefst schwächelnde EU, ohne die allerdings die außen-, handels-, klima-, migrations- und wirtschaftspolitisch relevanten Fragen für Deutschland nicht vorangebracht werden können. Dies bedeutet als erstes, dass Deutschland zukünftig eine viel ambitioniertere Rolle spielen muss, um die eigenen Interessen durch die EU zu stabilisieren und damit der EU eine stärkere Stimme zu geben.

Großer Konsens, der im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts genutzt werden könnte, besteht hinsichtlich gesellschaftlicher Anerkennungsfragen, die in der Vergangenheit durch die Union blockiert wurden. Dazu zählen Fragen des Schwangerschaftsabbruchs, des Scheidungs- und Adoptionsrechtes, der Kinderwunschbehandlung oder der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Daraus lässt sich Kraft für einen gesellschaftspolitischen Aufbruch ableiten.

Eine mögliche Übersetzung für das angestrebte Fortschrittsprojekt bildet die gemeinsame Orientierung am Projekt der »Modernisierung des Staates«. Denn unabhängig davon, ob man den Staat offensiv oder defensiv in Stellung bringen möchte, ohne eine wirkungsvolle staatliche Ressourcen- und Ermöglichungspolitik wird das anvisierte Modernisierungszeitalter zur Revitalisierung des »Modells Deutschland« kein Fundament haben.

Schließlich sind sichtbare Fortschritte in den Bereichen der äußeren, inneren und sozialen Sicherheit notwendig. Die sozialökologische Transformation wird auf demokratischem Wege nur gelingen, wenn sie sowohl in eine engagierte soziale Verteilungs- wie auch in eine innovative Anerkennungspolitik eingebunden wird. Eine pure Klimaperspektive führt jedenfalls in die gesellschaftspolitische Blockade.

Im Kern geht es deshalb um eine 3-I-Strategie, die zu mehr Investitionen, Innovationen und besserer Inklusion führt. Wenn man die sozialökologische Transformation, die Modernisierung des Staates und den Abbau von Unsicherheiten voranbringen will, dann muss kräftig investiert werden. Der BDI spricht von etwa 85 Milliarden an zusätzlichen Investitionen pro Jahr. Mehr Geld alleine wird allerdings nicht hinreichend sein, denn das Geld muss wirkungsvoll, schnell und nachhaltig eingesetzt werden. Das scheint noch schwieriger zu sein.

Dafür braucht es nicht nur technologische Innovationen, sondern auch Reformen im Staatsapparat (z. B. Planfeststellungsverfahren von sechs Jahren auf sechs Monate zu reduzieren) und in der Kooperation zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Darüber hinaus sind aber auch Fachkräfte und vielfältige Innovationen in den einzelnen Politikfeldern, insbesondere im Bildungssystem, notwendig. Investitionen und Innovationen müssen also als eine Einheit gedacht werden. Hinzu kommen verbesserte Formen der Integration und Inklusion, wofür insbesondere eine neue Sozialpolitik verantwortlich wäre, die Geld, Infrastruktur und Zeit bedarfsorientiert neu justiert.

Inklusion fordert die Ampelkoalitionäre vor allem in zwei politischen Dimensionen heraus: Erstens geht es darum, die Bürgerinnen und Bürger gesellschaftspolitisch mitzunehmen, sie teilhaben zu lassen und plausibel den Weg zu skizzieren, der zwischen dem Wunsch, alles direkt zu bekommen und einer mittel- bis längerfristigen Strategie liegt. Inklusion auf der koalitionspolitischen Ebene bedeutet zweitens, dass sich die drei unterschiedlichen Parteien eigene Konfliktarenen schaffen müssen, in denen sie ihre Positionen annähern, um am Ende zu »guten« Kompromissen zu kommen, die für alle positive Anschlussmöglichkeiten bieten. Ohne Streit wird dies nicht gelingen – ohne Kompromisse erst recht nicht.

Die 3-I-Strategie müsste also so angelegt sein, dass sich die einzelnen Punkte wechselseitig bedingen. Der Weg dahin wird einfacher, wenn eine anerkannte Idee vom gemeinsamen Tun besteht. Denn schließlich sind die Parteien eher fremdbestimmt in diese Koalition hineingestolpert – nicht geplant, nicht einem tieferen inneren Ziel folgend.

Inwieweit sie sich angesichts der vielfältigen Herausforderungen und Krisen, die in den nächsten Jahren auf der Tagesordnung stehen werden, behaupten können und sich ihrer eigenen Rolle bei der Modernisierung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Systems sowie des »Modells Deutschland« bewusst sind, wird davon abhängen, inwieweit sie sich aus der Fremdbestimmtheit in eine souveräne Selbstbestimmtheit entwickeln können. Auch wenn es meist einfacher ist, die Risiken zu benennen – so viele Chancen gab es schon lange nicht mehr.

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