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© Benoit Grimbert

Gespräch mit Hannah Darabi »Der fragmentierten, ›unbeendeten‹ Geschichte Irans einen Sinn geben«

»Enghelab Street, a Revolution through Books: Iran 1979-1983« heißt ein 2019 von Hannah Darabi publizierter, großformatiger Band, in dem die große Bandbreite an Publikationen vor, während und nach der Revolution exemplarisch an Fotobüchern und den »White Covers« nachvollzogen werden kann. Die Fotobücher geben einerseits die Ereignisse von 1978/79 wieder, zeigen beispielsweise protestierende und kämpfende Menschen, aber auch Politiker, Militärs und Geheimdienstleute aus der Monarchie, denen nach der Ausreise des Schah – im wahrsten Sinne des Wortes – kurzer Prozess gemacht worden ist. Andererseits widmen sich die Fotobücher der zunehmenden »Islamisierung« der Revolution und des Landes sowie dem im September 1980 ausgebrochenen, acht Jahre währenden Iran-Irak-Krieg.

Darabi, 1981 in Teheran geboren, Künstlerin und Fotografin, die seit 2007 in Paris lebt, macht mit ihrer Co-Autorin Chowra Makaremi in »Enghelab Street« jedoch von Anfang an deutlich, dass es sich nur um eine sehr kurze Phase in der neueren Geschichte Irans handelt, in der Fotobücher und »White Covers« frei erscheinen konnten. Denn die Rückkehr des greisen Ayatollah Khomeini im Februar 1979 aus dem Exil in den Iran markiert schon den entscheidenden Moment, ab dem die ursprünglich linke Revolution zur Etablierung einer islamischen Republik ausgehebelt wurde.

Im November 2019 erhielt Hannah Darabi den »Photography Catalogue of the Year Award« für »Enghelab Street«.

Die Fragen stellte der freie Journalist Behrang Samsami.

Behrang Samsami: Frau Darabi, bevor wir zu Ihrem Buch »Enghelab Street« kommen – Sie arbeiten selbst als Künstlerin und Fotografin. Was sind Ihre Themen?

Hannah Darabi: Ich bin 2007 nach Paris gezogen und habe mich, vor allem durch die geografische Entfernung, in der Folge viel mit Dingen auseinandergesetzt, die mit dem Iran in Beziehung stehen und mit denen ich mich, wäre ich dort geblieben, sehr wahrscheinlich nicht befasst hätte. Auslöser war die Begegnung mit Paris. Paris ist sehr anders als Teheran – damit meine ich die europäische Architektur, aber auch die Idee, Vergangenes zu bewahren. Beides finden wir in Teheran nicht oder kaum an. Was aber beide Städte gemeinsam haben – gewissermaßen als Nullpunkt der Architektur –, sind Baustellen. So habe ich mich in einem Projekt mit urbaner Landschaft und mit Baustellen im Speziellen auseinandergesetzt. Ich fotografierte sie unter anderem in Paris, Teheran und US-Städten und mischte diese Landschaften miteinander. Daraus entstand mein erstes, 2012 im Selbstverlag erschienenes Buch »Unreal City«. Danach setzte ich den Fokus auf Teheran, erkundete etwa mit Großformat- und Digitalkameras diese chaotische, architektonisch aber auch faszinierende Stadt und stellte 2016 aus dem Material einen Dummy her, der bisher als Buch noch nicht erschienen ist.

Samsami: Frau Darabi, wie ist es dann zu Enghelab Street gekommen?

Darabi: Ich habe während der Präsidentschaft von Mohammad Khatami Fotografie an der Universität von Teheran studiert. Khatami sprach damals mit Blick auf das Ausland vom »Dialog der Zivilisationen«. Das hat uns Studenten sehr beeindruckt. Es war aber auch im Inland eine Zeit der Öffnung  und eine große Zeit an den Universitäten. Der Fotograf Bahman Jalali (1944–2010) beispielsweise unterrichtete uns. Er, der nach der Revolution selbst mehrere bedeutende Fotobücher veröffentlicht hatte, erwähnte oder zeigte diese Art Bücher jedoch überhaupt nicht im Unterricht. Dadurch dachte ich fälschlicherweise, dass es Fotobücher im Iran nicht geben würde.
Als ich dann 2015 an meinem Teheran-Projekt arbeitete, bin ich dort in Antiquariate gegangen, um bestimmte, seltene Magazine zu finden, die der Hauptstadt gewidmet waren, und sie für das Projekt auszuwerten. Bei einem dieser Besuche entdeckte ich mein erstes iranisches Fotobuch. Es enthielt zufälligerweise ein im Iran berühmtes, ikonisches Foto von Ayatollah Khomeini. Man sieht darauf, wie er in seinem Exil in Neauphle-le-Château, unweit von Paris, gerade dabei ist, das Grundstück, auf dem er damals lebte, durch eine grün gestrichene Gartentür zu verlassen und auf die Straße zu treten. Dieses Foto kenne ich seit langem, weil es das erste in unseren Schulbüchern war und auch zu anderen Gelegenheiten, etwa im Fernsehen oder auf den Straßen, gezeigt wurde. Wenn man ein solches Foto im Schulbuch sieht, kommt man nicht auf die Idee, dass es sich um ein Werk eines Künstlers handeln kann. Man hält es zunächst für Propaganda. Ich recherchierte und fand heraus, dass es von dem iranischen Fotografen und Filmemacher Shahrokh Hatami (1928–2017) stammt. Durch diesen Fund angespornt, begann ich, weitere Fotobücher zu suchen, was sich jedoch schwierig gestaltete, weil es nur wenige Hinweise gab. Eine große Hilfe waren aber die Buchhändler in den Antiquariaten, die mir Tipps gaben und mich mit Menschen vernetzten, die Sammler von Fotobüchern sind, und mit denen ich mich wiederum austauschte.

Samsami: Haben Sie auch im Ausland nach iranischen Fotobüchern und »White Covers« gesucht?

Darabi: Fotobücher aus der Zeit während und nach der Revolution habe ich nur im Iran gefunden. Bei den »White Covers« ist es anders. Die findet man auch in Europa. Mir war es aber wichtig, beide Arten von Büchern im Iran zu suchen. Bei den »White Covers« war es wie eine archäologische Spurensuche. Wie haben diese Bücher nach der Revolution überlebt? Dem nachzugehen, war spannend. Denn die »White Covers« haben eine seltsame Stellung im Iran. Sie sind verboten und auch wieder nicht. Es hängt davon ab, welche politische Partei sie veröffentlicht hat. Auf die »White Covers«, die von der kommunistischen Tudeh-Partei stammen, reagiert die iranische Regierung weniger empfindlich als auf die von den islamo-sozialistischen Volksmudschahedin. Die Tudeh-Partei existiert so gut wie nicht mehr. Die Volksmudschahedin dagegen gibt es aber noch als Opposition in Europa und Nordamerika. Es hängt also davon ab, ob ein Buch die Ideologie einer Partei transportiert, die nach wie vor besteht und die gegen die iranische Regierung agitiert.

Samsami: Was war während oder nach dem Projekt eine neue, wichtige Erkenntnis für Sie?

Darabi: Die profunde Kenntnis des Buchherstellens und das Verlangen danach bei den damaligen Machern, also den Autoren, Fotografen und Verlegern. Wenn man sich mit der Historie der Fotografie im Iran befasst, kommt man zu dem Schluss, dass die Fotobücher nur in einer sehr kurzen Phase der iranischen Geschichte entstehen konnten. Meine Theorie ist, dass damals nur ein Teil der Fotobücher um der Fotos willen publiziert wurden. Der Großteil entstand tatsächlich in einer ganz besonderen Situation – in der ganz besonderen politischen und kulturellen Atmosphäre zu Beginn der Revolution im Iran. So sind für die Schah-Zeit »nur« Fotobände nachweisbar, die Landschaften oder Handwerkskünste des Landes zeigen, aber keine Fotobücher. Gleiches gilt für die Jahre nach 1983, als die Opposition dezimiert und zum Verstummen gebracht worden ist.

Samsami: Als ich Ihr Buch zum ersten Mal in den Händen hielt, hatte ich gleich den Eindruck, dass es in den Kontext der »Erinnerungskultur« gehört. Es handelt sich dabei nach meinem Wissen um die erste Zusammenstellung von Fotobüchern und »White Covers« überhaupt. Ihr Buch ist sowohl in englischer als auch in französischer Sprache erschienen und gibt denen, die des Persischen nicht mächtig sind, einen guten Einblick in den iranischen Buchmarkt der Jahre 1979 bis 1983.

Darabi: »Erinnerungskultur« ist hier ein richtiger und hilfreicher Begriff. Enghelab Street ist jedoch nicht nur für westliche Leser gedacht, sondern auch für iranische und im Besonderen für die jüngeren iranischen Leser, damit sie ebenfalls einen Eindruck von dieser für die meisten von ihnen unbekannten Seite jener kurzen Phase in der neueren iranischen Geschichte gewinnen können. Da es hier passt, will ich noch etwas zur Struktur des Buches sagen: A, das Kapitel über die Fotobücher, und B, das über die »White Covers«, sind quasi die Fundamente, auf denen C, das letzte Kapitel, steht. Wenn wir davon ausgehen, dass es kein kollektives Bild oder keine einheitliche Geschichte der Revolution gibt, werden persönliche und subjektive Narrative notwendig.

Samsami: Können Sie das erläutern?

Darabi: Kapitel C ist eine künstlerische Arbeit für sich, in der ich meine eigene Sichtweise und mein Wissen einbringe. Mir ist bei der Arbeit an dem Buch klar geworden, dass es nicht ausreicht, Fotos aus jener Zeit lediglich abzudrucken, weil sie für sich nicht in der Lage sind, die Geschichte Irans der Jahre 1979 bis 1983 zu erzählen. Daher enthält das Kapitel C Material nicht nur aus den beiden vorherigen Kapiteln, sondern auch Fotos, die ich in Teheran geschossen habe, sowie Standbilder aus iranischen Filmen, Postkarten und Familienbilder – und zwar aus der Zeit der Monarchie und der Islamischen Republik. Dieses Kapitel versucht, der fragmentierten, »unbeendeten« Geschichte Irans einen Sinn zu geben und rechtfertigt auch die Methode, die für Enghelab Street angewandt worden ist: Es ist keine historische, sondern eine künstlerische.

Das Kapitel trägt den Titel »Reconstructions«. Ich habe Aufnahmen einander gegenübergestellt, die sich ähneln und doch Gegensätzliches zeigen, auf jeden Fall aber miteinander kommunizieren und den Betrachter anregen sollen, sich selbst mit einzubringen: (Stadt-)Landschaften und Menschen, Reklame und Alltag, Wohlstand und Armut, Krieg und Frieden. Ein Beispiel: Auf der einen Seite haben wir ein Schwarzweiß-Foto, das eine Landschaft mit vielen Palmen zeigt. Allerdings sind von den Bäumen nur noch die Stämme übrig. Sie sind stark beschädigt und ragen teilweise nur noch halb in die Luft. Von der einst tropischen Vegetation ist nicht mehr viel zu sehen. Es handelt sich um ein Foto, das im achtjährigen Krieg mit dem Irak im Süden Irans entstanden ist und eine zerstörte, apokalyptische Landschaft zeigt. Auf dem Farbfoto gegenüber sehen wir dagegen schnell und billig gebaute Hochhäuser in und um Teheran, wie sie heutzutage in hoher Zahl in die Luft sprießen. Bauherrin ist übrigens die »Sepah«, die Revolutionsgarde, die 1979 von Ayatollah Khomeini als paramilitärische Organisation gegründet worden und heute der größte Unternehmer des Landes ist.

Samsami: Kommen wir von den Protesten 1978/79 und dem Iran-Irak-Krieg zu den Protesten Ende 2019 im Iran, als in zahlreichen Städten der Islamischen Republik Menschen auf die Straße gegangen sind, um ihrem Unmut Luft zu machen. Die Ordnungskräfte sind massiv gegen die Demonstranten vorgegangen. Was sind für Sie die Gründe für die jüngsten Proteste im Iran?

Darabi: Die Hauptursache ist die schlechte wirtschaftliche Situation im Land. In diesem Fall war die Erhöhung der Benzinpreise der Anlass für die Menschen auf die Straße zu gehen. Allerdings gibt es hier eine gewisse Kontinuität, da es auch schon 2017 und 2018 zu Protesten kam. Seit die USA ihre Sanktionen gegen den Iran verschärft haben, hat sich die ökonomische Lage noch weiter verschlechtert und die iranische Währung hat stark an Wert verloren.

Auch im Iran geht die Schere zwischen Arm und Reich auseinander. Die Mittelschicht schmilzt, ihre Angehörigen gleiten nach unten. Die Ursachen der Proteste zwischen 2017 bis 2019 liegen weniger in der Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung in Teheran als vielmehr in der Unzufriedenheit mit der eigenen schlechten wirtschaftlichen Lage. Es geht inzwischen ums tägliche Überleben. Hier ist übrigens ein großer Unterschied zu den Protesten von 2009 zu erkennen, die unter dem Begriff der »Grünen Bewegung« weltweit bekannt wurden. Damals wurden die Proteste aus der Mittelschicht angetrieben, die keine konservative Regierung haben wollte, sondern eine von Reformern geführte.
Ein weiterer Unterschied zwischen den Protesten von 2009 und den aktuellen ist der, dass die Regierung 2019 extrem hart gegen die Demonstranten vorgegangen ist, weil es sich bei diesen um Menschen handelt, die nichts mehr zu verlieren haben und darum zu allem bereit sind. Von diesen fühlt sich die iranische Regierung besonders bedroht – auch deswegen, weil die Geistlichen 1979, nachdem sie sich die Revolution zu eigen gemacht hatten, davon sprachen, dass ihre Bewegung die der »Mostazafin« sei, die der Unterdrückten. Und diese Unterdrückten, die damals mitgewirkt hatten, die Revolution zu einer islamischen zu machen, gehen heute gegen die Geistlichen auf die Straße. Diese Menschen sind sehr unzufrieden. Und es scheint, als ob die Regierung in Teheran Angst hat, in den Augen jener Menschen die Legitimation für ihren Machtanspruch verloren zu haben.

Samsami: Wenn Sie die Ereignisse von 1978/79 und die von 2019 im Iran vergleichen – gibt es Parallelen in der Art, wie die Proteste auf Seiten der Regierungsgegner etwa künstlerisch verarbeitet und dargestellt werden?

Darabi: Bevor ich darauf antworte, will ich noch einmal darauf hinweisen, dass das Internet während der Proteste im November und Dezember 2019 mehrfach von der Regierung gesperrt worden ist und ich daher nur einen begrenzten Einblick ins Land hatte. Eine Parallele ist mir aber tatsächlich aufgefallen als ich in den sozialen Medien unterwegs war. In Enghelab Street sind auch einige Fotobücher abgebildet, die das Märtyrertum der im Kampf gegen das Schah-Regime getöteten Menschen in den Mittelpunkt stellen. Nach dem Ende der neuesten Proteste zirkulierten im Netz zahlreiche Videoaufnahmen von (jungen) Menschen, die dabei getötet worden sind. Bei der Darstellung der Getöteten handelt es sich um die gleiche »Ästhetik«, um den gleichen Diskurs von Märtyrertum. Es sind sogar die gleichen Lieder zu hören, die 1979 aufkamen und in denen auch Tulpen vorkommen, das Symbol für Blut und Märtyrertod im Iran.
Das heißt, die Idee des Märtyrertods existiert immer noch. Die Menschen hängen daran. Im Mittelpunkt steht jedoch nicht mehr die religiöse Konnotation, sondern das Erinnern an die Gefallenen. Die Protestierenden würden den Märtyrer-Begriff heute allerdings so nicht mehr verwenden, weil die iranische Regierung ihn seit der Gründung der Islamischen Republik durchgehend für ihre Propagandazwecke verwendet hat.

 

Hannah Darabi: Enghelab Street, a Revolution through Books: Iran 1979–1983. Spector Books, Leipzig 2019, 540 S., 48 €.

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