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Von der Kunstströmung zur Bewusstseinshaltung 100 Jahre Neue Sachlichkeit

Er war 21 Jahre alt und wollte nur malen. Der Dichter Theodor Däubler hatte ihn gerade entdeckt und seinen neuartigen Strich gewürdigt. Für diesen einzigartigen Stil gibt es kein Vorbild, schreibt Paul Westheim, Herausgeber des einflussreichen Kunstblatts wenig später, hier werde Neues geschaffen: »Dieser messerscharfe, glasfederharte, nicht an–, nicht abschwellende, wie mit dem Apachenmesser geritzte Strich ist da ohne alle andere Kunst. Er ist da als Stil George Grosz.« Einen Namen gab es für diesen einzigartigen Stil aber erst einmal noch nicht.

Seit Anfang 1912 lebte und studierte Georges Grosz nun schon in Berlin und er wusste ganz genau, was er wollte, Maler werden. Noch viel mehr wusste er aber, was er um keinen Preis der Welt wollte: Soldat werden, in den Krieg ziehen und sich im Namen von Kaiser und Vaterland erschießen lassen. Flucht oder Verweigerung kamen nicht infrage, so wurde Grosz einfach krank. Sein Hass wuchs mit der Zeit weiter: auf den Krieg, auf diejenigen, die ihn angezettelt hatten und auf die Spießer, die mitmarschierten. Zwölf Jahre später, 1926, wird er sie malen, diese »Stützen der Gesellschaft«.

George Grosz entzog sich dem Kriegsdienst so unauffällig wie nur möglich, aber die Briefe an seinen besten Freund, Studienkollegen und künftigen Schwager Otto Schmalhausen zeigen, was es ihn gekostet hat. Alles was passierte, musste glaubwürdig sein und vor allem in sich schlüssig. Bereits der erste Schritt war in dieser Hinsicht ein sehr kluger. Nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 hatten sich die lokalen Kämpfe in wenigen Tagen zum Weltkrieg ausgeweitet. Am 13. November 1914 trat Georges Grosz als »Kriegsfreiwilliger« der Armee bei und kam damit der allgemeinen Wehrpflicht zuvor.

Vorläufig dienstunbrauchbar

Am 5. Januar 1915 wurde er mit einer schweren Stirnhöhlenvereiterung ins Regiments­lazarett verlegt. Erst im Mai konnte er operiert werden, am 11. Mai 1915 folgte die vorläufige Entlassung als »dienstunbrauchbar«.

Umgehend bezog der Künstler ein Dachgeschoss mit Atelier in Berlin. Hier entstand, begleitet von ständiger Angst vor einer erneuten Einberufung, in ungeheurer Produktivität der Großteil seiner frühen Gemälde, die nächtlich-schwülen Schauerballaden von Wahnsinn und Selbstmord gleichen, haarscharf tanzend auf des Messers Schneide von Lug und Trug. Ende des Jahres 1916 schien keine Gefahr mehr zu bestehen, vielleicht hatte man den kleinen kranken Re­kruten einfach vergessen. Sein Plan, ein großes, repräsentatives Stadtbild zu malen nahm langsam konkrete Gestalt an. Der Künstler hatte viel gelernt und seinen unverwechselbaren Stil zur Meisterschaft entwickelt, hatte die Vorbilder studiert und beherrschte die malerischen Mittel perfekt. Es war an der Zeit, mit einem wahrhaft spektakulären Werk die Serie der roten Stadtbilder zu krönen und abzuschließen.

Erneut dienstfähig

George Grosz wählte das klassischste aller Formate, ein Quadrat, ein mal ein Meter, und notierte auf der Rückseite der Leinwand das Entstehungsdatum »Dezember 1916«. Und genau in diesem entscheidenden Moment schlug die Kriegsmaschinerie erneut zu.

Am 4. Januar 1917 wurde George Grosz ein zweites Mal eingezogen und schon am nächsten Tag wieder in ein Lazarett eingeliefert. In den kommenden Monaten wird sich Grosz den Panzer aus Zynismus und Hass, Nihilismus und Mitleidlosigkeit zugelegt haben, um zu überleben. Sein arrogantes, zwielichtiges Gebaren, mit dem er durchaus kokettierte, stammt aus dieser Hölle. Am 23. Februar 1917 folgte die kurze Nachricht, dass er in die Nervenheilanstalt Görden bei Brandenburg gebracht worden sei. »Meine Nerven gingen entzwei«, schreibt er dazu am 15. März, »ehe ich dieses Mal nah Front verweste Leichen sah.« Gerade seine letzten Briefe aus Görden zeigen, wie nah er dem vollständigen Zusammenbruch gewesen war. Am 1. Juni 1917 folgte die erlösende Nachricht: »Ich bin als dauernd dienstunbrauchbar aus dem Heere ausgeschieden worden!«

George Grosz hatte es überlebt. Vom 13. November 1914 bis zum 1. Juni 1917 war er Soldat und offensichtlich keinen einzigen Tag davon an der Front, sondern im Krankenhaus, im Lazarett, im Irrenhaus und als dienstuntauglich vorläufig entlassen. Fast zwei Jahre, in denen er gemalt hatte, wie im Wahn, ein Gemälde nach dem anderen, mindestens 15 große Arbeiten. Geboren aus dem Geist des Krieges, und wie eine ganze Generation von Künstlern, Literaten und Intellektuellen tief geprägt vom Erlebnis des Krieges, entstand seine Kunst. Werk und Leben von George Grosz haben wohl keinen kaltgelassen. Große Bewunderung und heftige Ablehnung begleiteten ihn lebenslang.

Das Meisterwerk

Vermutlich hatte er sofort am 2. Juni mit dem großen »roten« Gemälde begonnen. Nur das Entstehungsdatum »Dezember 1916« stand bislang auf der leeren Leinwand. Er muss gemalt haben wie im Wahn. Nur zwei Monate später voll­endete der Künstler den Blick in die Großstadt mit der Signatur: »Grosz. Dezember 1916 bis August 1917«. Das Gemälde ist ein Meisterwerk, eines jener raren Jahrhundertbilder, die, wenn überhaupt, nur einmal im Leben gelingen. Es zeigt Berlin bei Nacht, da wo es am wildesten ist, im glamourösen Hotel Atlantik in Mitte am Wilhelmplatz und ist geprägt von der Bewunderung für die futuristische Gleichzeitigkeit der modernen Großstadt und der Vision von Verbrechen und Chaos einer untergehenden Zivilisation.

»Eines jener raren Jahrhunderbilder, die nur einmal im Leben gelingen.«

Die grafische Grundstruktur basiert auf der markanten vertikalen Teilung der quadratischen Leinwand und auf mehreren Diagonalen. Die hochgezogene Bildebene ist leicht nach vorne gekippt: der massive Hotelblock selbst mit dem dominanten Eckturm scheint sich in Bewegung zu setzen, unaufhaltsam schiebt er sich wie ein mächtiger Schiffsbug auf die panische Menschenmenge im Vordergrund zu. Ein frappierender Eindruck. Gleichzeitig ist das Gemälde in eine feste grafische Struktur gesperrt. Aus dieser extremen Spannung zieht das Gemälde seine Kraft.

Und noch immer hat George Grosz’ einzigartiger Stil keinen Namen.

Ein erster Hinweis findet sich 1919 im Oktoberheft des Kunstblatts: »Charakteristisch für sein Schaffen ist ein eigenartiger, bis auf äußerste getriebener Verismus, der sich einer korrekten, harten, jeden Zug der Handschrift unterdrückenden Zeichnung befleißigt. In Deutschland befinden sich, wie man weiß, Grosz und Davringhausen auf ähnlichem Wege.« Der Name »Verismus«, setzte sich rasch durch und wurde als neue Stilbezeichnung auch von Grosz akzeptiert. Damit hatte der Stil George Grosz endlich einen passenden Namen, lange bevor »Die neue Sachlichkeit« überhaupt erfunden wurde.

Die Neue Sachlichkeit wird zur »intellektuellen Mode«

Bis heute ist der Name Neue Sachlichkeit untrennbar mit der Person seines »Erfinders« Gustav Friedrich Hartlaub, als auch mit der Mannheimer Kunsthalle, deren Direktor er war, verbunden. Neben den deutschen Veristen entwickelte sich auch in München zeitgleich mit einigen Malern, etwa Georg Schrimpf und Alexander Kanoldt, ebenfalls eine neue Gegenständlichkeit, die allerdings im Klassizismus wurzelte. Nach Aussage von Franz Roh wolle man damit wieder eine Ordnung finden. Davon aber war man in der Weimarer Republik sehr weit entfernt. Die Inflation galoppierte und das Bürgertum verelendete zusehends. Nach Meinung von Gustav Hartlaub bildeten die »Klassiker« den »rechten Flügel« der neuen Kunstströmung, die Veristen den »linken Flügel«.

»Die Inflation galoppierte und das Bürgertum verelendete zusehends.«

Auch wenn der Begriff noch nicht fällt, hatte er damit vermutlich die Ausstellung bereits im Blick, die er dann unter dem Titel Die neue Sachlichkeit in einem Anschreiben für Herbst 1923 ankündigte, dann allerdings aus organisatorischen und politischen Gründen verschob. Mit Hartlaubs »Zwei-Flügel-Theorie« verlor der deutsche Verismus seine Eigenständigkeit als Kunststil und geriet in Vergessenheit. Eine Sichtweise, die mit der neu konzipierten Mannheimer Ausstellung vom Sommer 1925 nicht nur zementiert wurde, sondern ins kollektive Gedächtnis einging.

Im Sommer 1924 kaufte der Direktor der Mannheimer Kunsthalle George Grosz’ Meisterwerk Blick in die Großstadt. Mit diesem Ankauf erwarb Gustav Hartlaub nicht nur eines der zentralen Bilder des Künstlers, sondern legte hiermit auch den Grundstock für den Schwerpunkt »Neue Sachlichkeit«. Da eine Veränderung der bestehenden Sammlung ausgeschlossen war, hatte er sich zu dieser Erweiterung des inhaltlichen Konzeptes entschlossen. Gerade hierdurch aber geriet das Museum in den 20er Jahren in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit und ins Spannungsfeld der kunstpolitischen Auseinandersetzungen. Die in den folgenden Jahren aufgebaute Sammlung zeitgenössischer Kunst war weit über Mannheim hinaus bekannt. Denn der Begriff »Neue Sachlichkeit« wurde in der zweiten Hälfte der 20er Jahre zur Bezeichnung ähnlicher Bestrebungen in Architektur, Plastik, Kunstgewerbe, aber auch in Philosophie, Musik und Literatur, wurde zu einer Bewusstseinshaltung, zur »intellektuellen Mode«.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Veristen sich nach 1925 dem Porträt zuwandten und mit ihm das »Gesicht« der Zeit prägten, war doch hier ihr Verismus im doppelten und besten Sinn »aufgehoben«. In der Folge erlebte das neusachliche Bildnis eine beispiellose Karriere. Vor allem waren es die Künstlerinnen, die hier reüssierten. Grethe Jürgens etwa war eine ganz erstaunliche Künstlerin, die, inspiriert von der Neuen Sachlichkeit, beschloss, mit Ölfarben in diesem Stil zu malen.

Porträt und Stadtlandschaft

Das Kranke Mädchen entstand 1926, ihr erstes Ölbild, das keinen Vergleich zu scheuen braucht. Es ist fraglos beeindruckend mit welcher Sicherheit die Künstlerin ein Bild in eine feste grafisch-abstrakte Raumstruktur einspannt, und damit ein markantes Merkmal des neuen Stils umsetzt; wie sie beispielhaft die beiden neusachlichen Hauptmotive Porträt und Stadtlandschaft überzeugend in Bildräumen zusammenführt, in denen kleine Dinge wie eine Muschel oder eine Weinranke die Geschichte vom kranken Mädchen erzählen. Bereits mit diesem Gemälde schuf Grethe Jürgens ein Hauptwerk der Neuen Sachlichkeit. Zu den ikonisch gefassten Ölbildern zählt auch das Liebespaar von 1930, das zu einer Werkgruppe mit sozialkritischer Thematik am Ende der Weimarer Republik gehört.

Zwischen 1926 und 1931 schuf Grethe Jürgens ein schmales, aber umso beeindruckenderes Œuvre, mit dem sie sich in die Annalen der Neuen Sachlichkeit einschrieb. Gleichwohl blieb die Malerei eine Episode in ihrem Schaffen, das nach Nazidiktatur und Zweitem Weltkrieg ganz der abstrakten Zeichnung gewidmet war. Bis heute ist Grethe Jürgens nahezu unbekannt. Der Nachlass befindet sich seit ihrem Tod 1981 im Sprengel Museum Hannover und wurde dort nun erstmals überhaupt in einer umfassenden Retrospektive gezeigt.

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