Menü

Über die langfristige Entwicklungsstrategie eines autoritären Systems 2049 – die chinesische Vision

Im Jahre 2049 wird die Volksrepublik China 100 Jahre alt. Diese magische Zahl war Anlass für eine historische Entschließung, welche das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei auf Vorschlag von Präsident Xi Jinping am 11. November 2021 angenommen hat und in der ehrgeizige Entwicklungsziele für die Mitte des Jahrhunderts vorgegeben werden: China will sich auf seine weitere ökonomische, soziale, ökologische und kulturelle Entwicklung konzentrieren.

Die offiziellen großen Ziele der chinesischen Politik sind die nationale Wiedergeburt und die Wiedervereinigung, die aus Pekings Sicht mit Hongkong und Macao bereits teilweise erreicht wurde. Für Taiwan wird nach wie vor die Wiedervereinigung angestrebt – »friedlich«, wie es bis heute heißt. Separatistische Bewegungen und ausländische Einflussnahmen sollen entschieden bekämpft werden: ob in Hongkong, der Provinz Xinjiang oder Taiwan. Das Sozialsystem, das für eine Milliarde Menschen eine Altersversorgung vorsieht und in dem knapp 1,4 Milliarden eine medizinische Grundversorgung erhalten, soll weiter ausgebaut werden. Die Reform- und Öffnungspolitik soll fortgesetzt und das Rechtssystem weiterentwickelt werden. Eine Macht- und Hegemonialpolitik wird abgelehnt, China will sich für eine internationale Ordnung einsetzen, welche auch die Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigt.

Ganz zentral ist die nationale Sicherheit. Sie soll durch eine Gesamtstrategie erreicht werden, die militärische, technologische, ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Entwicklungen berücksichtigt. Die Armee soll in der Lage sein, Kriege zu führen und zu gewinnen. Zur Mitte des Jahrhunderts will China aufgrund seiner nationalen Stärke eine internationale Führungsrolle einnehmen.

Diese Zukunftsplanung erscheint realisierbar, solange es eine stabile internationale Ordnung gibt, die von wirtschaftlicher Entwicklung und nicht von militärischer Konfrontation bestimmt wird. Putins Überfall auf die Ukraine hat aber den Glauben, durch Handel und gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung den Frieden sichern zu können, erschüttert. Die künftige internationale Entwicklung wird entscheidend davon abhängen, wie sich die chinesische Führung in Zukunft zur aggressiven Politik Putins positioniert.

Noch am 4. Februar 2022, also kurz vor der Invasion, haben die russische und die chinesische Regierung eine gemeinsame Erklärung über die »internationalen Beziehungen in einer neuen Epoche« angenommen. Neben allgemeinen Beteuerungen für friedliche Zusammenarbeit wird darin vorrangig die NATO kritisiert. Die Militärallianz schüre geopolitische Rivalität und Konfrontation, ihr wird eine ideologische Mentalität des Kalten Krieges unterstellt und dem Bündnis wird vorgeworfen, die internationale Sicherheit und Stabilität zu untergraben. Beide Regierungen sprechen sich gegen eine Erweiterung der NATO aus. Zudem wurde vereinbart, die bilaterale strategische Zusammenarbeit zu stärken, für die es »keine ›verbotenen‹ Bereiche« gebe. Bei der Abstimmung am 2. März auf der UN-Vollversammlung konnte sich dann China auch nicht zu einer Verurteilung des Überfalls durchringen und enthielt sich wie 34 andere Staaten auch. In öffentlichen Verlautbarungen hat die chinesische Regierung wiederholt sowohl die nationale Souveränität und territoriale Integrität für alle Länder unterstützt, als auch die Sicherheitsinteressen Russlands betont.

Die Volksrepublik als strategischer Partner Russlands und größter Handelspartner der EU muss aber irgendwann eindeutig Stellung beziehen. Wenn die Volksrepublik eine militärisch aggressive Politik akzeptiert und Russland dabei wirtschaftlich und technologisch unterstützt, dann wird dies negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen mit westlichen Ländern haben.

Viele westliche Kommentatoren gehen inzwischen davon aus, dass es eine natürliche Allianz der autoritären Staaten Russland und China gegen westliche Demokratien gibt. Die regelmäßigen Treffen zwischen Xi Jinping und Putin und gemeinsame Militärmanöver scheinen dies zu bestätigen. Trotzdem gibt es bisher keine Belege dafür, dass die Volksrepublik von einer unabhängigen, an nationalen Interessen orientierten Politik abweicht. Der Handel mit Russland steigt zwar in den letzten Jahren deutlich an, umfasst aber nur ein Zehntel des Warenaustausches mit der EU und den USA, Chinas größten Handelspartnern. Militärisch schützt sich China vor Russland genauso wie vor den USA. In der chinesischen Führung wurde nicht vergessen, dass es 1969 einen Grenzkrieg mit Russland gab, der nur mühsam durch einen Waffenstillstand beigelegt werden konnte. Allerdings ist, auch durch die klare Positionierung der amerikanischen Politik, der strategische Rivale die noch dominierende Weltmacht USA und nicht das vergleichsweise schwache Russland.

Chinas Interesse ist es nicht, im Gegensatz zu Russland, die bestehende internationale Ordnung zu zerstören. Während sich die russische Regierung nicht in der Lage sieht, im ökonomischen und gesellschaftlichen Wettbewerb zu bestehen und deshalb das Militär zur Durchsetzung politischer Interessen nutzt, ist China in dieser internationalen Ordnung mit seinem Modell der sozialistischen Marktwirtschaft erfolgreich und setzt auf friedliche Reformen.

Chinas Erfolg wurde möglich durch ein exportorientiertes Wirtschaftsmodell mit billigen Arbeitskräften, hohem Rohstoffverbrauch und einer hohen Umweltbelastung. Im neuen 14. Fünf-Jahresplan (2021–2025) ist ein Umsteuern vom quantitativen zum qualitativen Wachstum vorgesehen. China hat nicht nur das Pariser Klimaabkommen unterschrieben. Es hat auch in die Verfassung das Ziel aufgenommen, eine ökologische Zivilisation zu schaffen. Dafür ist ein weitgehender Umbau des rohstoffintensiven Wirtschaftsmodells geplant. Ob die Welt den Klimawandel noch beherrschen kann, wird sich auch und vor allem in China entscheiden.

Die chinesische Politik hat schon seit Längerem erkannt, dass Chinas wirtschaftliche Zukunft davon abhängt, dass eigene Innovationen entwickelt werden. Es wurde eine umfassende Innovationsfinanzierung aufgebaut. 1.660 Fonds mit staatlicher Beteiligung stehen inzwischen zur Verfügung. 2,4 Prozent des Bruttoinlandproduktes werden für Forschung und Entwicklung (F&E) ausgegeben. Nur die USA geben noch mehr Geld für F&E aus. Inzwischen ist China bei den internationalen Patenten mit 68.720 weltweit die Nummer eins und hat auch die USA überholt.

Unter den weltweit zehn größten Internetunternehmen waren im Jahre 2019, gemessen am Umsatz, fünf amerikanisch und fünf chinesisch. Viele chinesische Start-ups entwickeln internetbasierte neue Dienstleistungen für den Gesundheitssektor, für den Finanzsektor, für Unterricht und Weiterbildung, für soziale Medien und industrielle Anwendungen.

Im Jahre 2015 wurde mit »China 2025« ein strategischer Plan vorgelegt, der chinesische Unternehmen zu Marktführern in wichtigen Zukunftsbereichen machen soll. Für Informationstechnologie, Automatisierung und Robotik, Elektroautos, Medizingeräte, Pharmaindustrie, Anlagen für erneuerbare Energien, Hightech-Ausrüstungen für Raum- und Luftfahrt, See- und Schienenverkehr werden Industriestrategien vorgeschlagen. Marktanteile werden festgelegt für Produkte, die bis 2025 in China gefertigt werden sollen.

Das Programm China 2025 hat Wirtschaft und Politik in den USA und Europa aufgeschreckt. China wurde in der Folge immer stärker als strategischer Rivale wahrgenommen. Die Auseinandersetzungen um einen fairen internationalen Wettbewerb verschärften sich. Viele der Konflikte hängen damit zusammen, dass die Volksrepublik bei der schrittweisen Integration in die Weltwirtschaft ein eigenständiges Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aufbaute: die sozialistische Marktwirtschaft. Dieses chinesische Wirtschaftsmodell ist in den verschiedenen Teilen des riesigen Landes sehr unterschiedlich: Kollektiveigentum auf dem Lande und intensive Einbindung in die Weltwirtschaft in Sonderwirtschaftszonen und Küstenregionen; viele Unternehmen auf nationaler oder regionaler Ebene sind noch im Staatsbesitz.

China und der Westen

Vor Kurzem wurde an das historische Treffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon und dem chinesischen Präsidenten Mao Zedong in Peking vor 50 Jahren, im Februar 1972, erinnert. Die Reise von Nixon legte das Fundament für eine dramatische geopolitische Veränderung. Die chinesischen Kommunisten gingen auf die amerikanische Offerte eines stärkeren Austausches ein. Nicht mehr die sowjetische Planwirtschaft, sondern der amerikanische Kapitalismus wurde der Maßstab für wirtschaftliche Entwicklung. Nixons Ziel, mitten im Kalten Krieg, eine gemeinsame Front von China und der Sowjetunion zu verhindern, wurde erreicht. Die Volksrepublik entwickelte sich zur Werkbank der Welt und eine Periode der immer engeren weltwirtschaftlichen Verflechtung folgte.

Mittlerweile wird aber von der amerikanischen Politik die Beziehung zu China nicht mehr positiv eingeschätzt, sondern als die größte geopolitische und geoökonomische Herausforderung angesehen. In der Entschließung des amerikanischen Senats vom 10. Juni 2021 wird festgestellt: »China gefährdet den Weltfrieden, Wohlstand und die Freiheit der Internationalen Gemeinschaft in den kommenden Jahrzehnten.« Die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas verbundene Modernisierung der Volksarmee wird als Bedrohung empfunden. Dazu tragen auch chinesische Kampfflugzeuge bei, die sich immer öfter dem Luftraum Taiwans nähern. Die USA verstärken ihre militärische Präsenz im Indo-Pazifik. Die Gründung einer neuen Militärallianz AUKUS zwischen Australien, Großbritannien und den USA im September 2021 zeigt, dass sich die USA und ihre Verbündeten auch für eine militärische Konfrontation mit China wappnen. Der Verkauf von sechs nuklear angetriebenen Unterseeboten an Australien, die gegebenenfalls mit Atomwaffen ausgestattet werden können, ist dafür ein Beleg.

Unter Donald Trump wurden Strafzölle gegen chinesische Importe verhängt, dann wurden Beschränkungen für High-Tech-Exporte nach China beschlossen und einzelne chinesische Unternehmen sanktioniert. Im Verhältnis zur Volksrepublik zeigt sich eine erstaunliche Kontinuität in der amerikanischen Politik. Die Biden-Regierung hat Sanktionen und Technologiebeschränkungen sogar weiter verschärft. Außerdem fordert sie eine Allianz der Demokratien gegen die autoritären Regime in Peking und Moskau.

Auch die EU reagiert inzwischen auf die chinesische Herausforderung. So wurde eine Überwachung von ausländischen Investitionen durch die EU-Kommission eingeführt, Mitgliedstaaten der EU haben chinesische Firmenübernahmen in strategischen Sektoren untersagt, die Wettbewerbspolitik wurde angepasst, eine neue Forschungs- und Industriepolitik mit gezielter Förderung von Zukunftstechnologien und -sektoren wurde eingeführt. Die Lieferketten werden überprüft, um die Abhängigkeit der EU von wichtigen Zulieferungen zu reduzieren. Die EU schloss sich ferner amerikanischen Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Provinz Xinjiang an. Für die Zukunft wird jedoch entscheidend sein, ob sich die geopolitischen und militärischen Konflikte weiter zuspitzen werden und ob sich die EU einer harten amerikanischen Linie anschließen wird.

Im europäischen Interesse ist es nicht, dass eine geopolitische Rivalität mit China zu einer neuen ideologischen und militärischen Blockbildung führt: China und Russland auf der einen, die USA und Europa auf der anderen Seite. Die EU kann durch enge Handels- und Wirtschaftsbeziehungen dazu beitragen, dass die Volksrepublik auch in Zukunft keinen Vorteil in einer Allianz mit einem militärisch ausgerichteten Russland sieht. Allerdings setzt eine erfolgreiche Kooperation mit China voraus, dass die EU geschlossen auftritt und politischem Druck, gegenüber einzelnen Unternehmen oder Mitgliedstaaten, gemeinsam widersteht.

Wenn eigene wirtschaftliche und militärische Stärke mit einem Angebot zur Zusammenarbeit verbunden wird, dann kann mit der Volksrepublik immer noch gelingen, was mit Putins Russland gescheitert ist: Wandel und gesellschaftliche Annäherung durch Handel und enge Wirtschaftsbeziehungen. Solange die Volksrepublik eine regelbasierte internationale Ordnung unterstützt, die UN-Menschenrechtserklärung anerkennt, am gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel teilnimmt, der große chinesische Markt für europäische Unternehmen offen bleibt, es einen Studenten-, Wissenschafts- und Kulturaustausch gibt, solange besteht – trotz des Unterschiedes der politischen Systeme – eine Basis für erfolgreiche Zusammenarbeit.

Politisch, ökonomisch und militärisch, gibt es zurzeit viele Unsicherheiten. Deshalb ist es nicht leicht vorauszusagen, wo China in knapp 30 Jahren stehen wird. Bis 2049 dürfte die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter um 170 Millionen Menschen zurückgegangen und der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung auf weniger als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung geschrumpft sein. In abgelegenen Regionen und auf den Dörfern leben gegenwärtig noch über 400 Millionen Menschen unter ärmlichen Bedingungen und müssen mit umgerechnet durchschnittlich 130 Dollar im Monat auskommen. Gleichzeitig hat China in den Städten inzwischen genau so viele Milliardäre wie die USA. Auch wenn die Wanderung in die entwickelten städtischen Metropolen anhält, die Produktivität steigt und weiterhin ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum stattfindet, könnte das Land alt werden, bevor es wirklich wohlhabend ist.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben