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30 Jahre deutsche Einheit – eine Erfolgsgeschichte?

Am 9. November 1989 nahm ich im Berliner Literaturhaus an einer Hörspieltagung teil. Den ganzen Tag über hörten wir uns Hörspiele an und diskutierten mit Autoren, Redakteuren und Kritikern. Als ich am Abend mit dem Taxi zum Flughafen fuhr, hörte ich, wie der Nachrichtensprecher im Radio etwas über neue Ausreiseregelungen für DDR-Bürger sagte. Die Stimme war ruhig und sachlich, eine Meldung unter anderen. Nichts wies darauf hin, dass sich hier eine sensationelle Wende im deutsch-deutschen Verhältnis anbahnte. »Det is doch ooch wieder bloß so’n Trick«, argwöhnte der Taxifahrer, »damit se die Leute von der Straße kriejen«. Und da ich damals noch an den unbestechlichen Realismus der Berliner Taxifahrer glaubte, flog ich nach München zurück, wo auch noch nichts von der Sensation spürbar war. Erst als ich dann kurz vor zwölf zu Hause ankam, empfing mich die Nachricht: Die Mauer ist auf!

Vom Fall der Mauer und der nachfolgenden sich von Tag zu Tag beschleunigenden Dynamik des politischen Prozesses, der schließlich zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führte, waren alle, auch die politischen Akteure selbst, überrascht. Was soeben noch als realistische Einschätzung politischer Möglichkeiten galt, war wenige Tage später schon wieder überholt. Auch darum ist der – zum Teil bis heute anhaltende – erbärmliche Parteienstreit darüber, wer sich in dieser Sternstunde der Geschichte als der bessere Patriot erwiesen habe, ziemlich unsinnig. Fakt ist, dass sowohl die CDU/CSU als auch die SPD stets am Ziel der Vereinigung der beiden deutschen Staaten festgehalten hatten. Dass viele in der SPD darin eher ein im Rahmen der Entspannungspolitik und im europäischen Maßstab zu realisierendes Projekt sahen, während sich die große Mehrheit in der Union eher von nationalen, manchmal sogar von nationalistischen Gesichtspunkten leiten ließ, änderte nichts daran, dass im Hinblick auf das Ziel weitestgehend Übereinstimmung herrschte

Willy Brandts Satz »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«, mit dem er den Fall der Mauer kommentierte, war den meisten Deutschen in Ost und West gleichermaßen aus dem Herzen gesprochen. Verblüffend war auch die Übereinstimmung zwischen SPD und Union in der Frage einer zunächst erwogenen Konföderation als ersten vorsichtigen Schritt in Richtung Vereinigung. Hans-Jochen Vogel, damals SPD-Vorsitzender und Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag, stellte am 28. November einen Fünf-Punkte-Plan zur deutschen Einheit vor, in dem zum ersten Mal von einer Konföderation beider deutscher Staaten die Rede war. Wenige Stunden später legte dann Kanzler Helmut Kohl seinen Zehn-Punkte-Plan dem Plenum des Bundestages vor, der schließlich auch von der SPD-Fraktion mitgetragen wurde, weil beide Papiere im Grundsatz dasselbe forderten.

Richtig ist, dass viele Sozialdemokraten in Ost und West bei der Schaffung der deutschen Einheit das in Artikel 146 des Grundgesetzes vorgesehene Verfahren mit dem Kernpunkt einer gesamtdeutschen verfassungsgebenden Versammlung dem Beitrittsverfahren nach Artikel 23 vorgezogen hätten. Aber obwohl die Union sich in dieser und einer Reihe anderer kontroverser Punkte (z. B. Rückgabe vor Entschädigung in der Frage der Enteignung von Grundbesitz durch die DDR) durchsetzen konnte, stimmte die SPD in Ost und West am Ende dem Einigungsvertrag mehrheitlich zu. Es ist wohl kaum zu leugnen, dass ohne die konstruktiven Beiträge der SPD und ihre Kompromissfähigkeit die deutsche Einheit nicht so schnell zustande gekommen wäre. Dennoch gelang es Helmut Kohl, die deutsche Einigung weitgehend als sein Werk erscheinen zu lassen und als Kanzler der Einheit die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl gegen den wegen seiner Kritik an den Modalitäten des deutschen Einigungsprozesses erfolgreich als unpatriotisch stigmatisierten Oskar Lafontaine deutlich zu gewinnen.

Es ist nicht zu leugnen, dass sich im Nachhinein die Kosten der deutschen Einheit als um ein Vielfaches höher erwiesen, als der erfolgreiche Wahlkämpfer Kohl behauptet hatte, dass sich die »blühenden Landschaften«, die er in Aussicht gestellt hatte, wenn überhaupt, erst Jahrzehnte später und dann auch nur sporadisch einstellten, dass die nach der Ermordung Detlev Karsten Rohwedders von der Union mithilfe der nun allein verantwortlichen Birgit Breuel durchgesetzte Kahlschlagpolitik der Treuhandanstalt, dass all dies zusammen wesentlich dazu beitrug, jenes tiefsitzende Ressentiment zu erzeugen, das bis heute im Osten Deutschlands in manchen Kreisen dumpfen Nationalismus und Demokratiefeindschaft nährt. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, welch ein seltener Glücksfall der historische Prozess im Ganzen ist, der zur deutschen Einheit und in der Folge zur – zumindest teilweisen – Wiederherstellung der Einheit Europas führte.

Was es war, das diesen seltenen Glücksfall möglich machte, ist bis heute strittig. In den USA und unter Konservativen in Deutschland herrscht bis heute die Meinung vor, dass es vor allem zwei Faktoren waren, die die Auflösung des Ostblocks und schließlich auch die deutsche Einheit erzwungen haben: der wachsende Vorsprung des Westens im Rüstungswettlauf und die zunehmenden ökonomischen Probleme der kommunistischen Länder. Die Amerikaner hätten die Sowjetunion erfolgreich zu Tode gerüstet, heißt es, die DDR und die anderen kommunistisch regierten Staaten seien vor allem an ihrer Unfähigkeit gescheitert, ihre Bürger halbwegs angemessen mit Waren des gehobenen Konsums zu versorgen. Nun ist wohl kaum zu leugnen, dass diese harten, materiellen Einflussfaktoren zum Zerfall des Ostblocks und damit auch zur Ermöglichung der deutschen Einheit beigetragen haben. Auffällig ist aber, dass alle anderen Faktoren bis heute allzu oft unberücksichtigt bleiben.

Ich habe mich oft darüber gewundert, wie kleinlaut und kritiklos selbst manche Sozialdemokraten den martialischen Triumphalismus hinnahmen, der von denen angestimmt wurde, die sich nach dem annus mirabilis von 1989 zu den »Siegern der Geschichte« erklärten und dabei vorübergehend völlig vergaßen, dass das eigentliche politische »Wunder« darin bestand, dass der »Sieg des Westens« ganz ohne Waffengewalt zustande gekommen war. Weder in der DDR noch in den anderen Ländern des Ostblocks wurde der Versuch unternommen, nach dem Vorbild des Massakers am Tien’anmen-Platz in Peking den Aufstand der Massen niederzuschlagen. Die Machtmittel dazu hätten den regierenden Kommunisten zweifellos zur Verfügung gestanden, und ebenso zweifellos hätten die westlichen Regierungen wie schon in den 50er Jahren beim Ungarn-Aufstand und in den 60er Jahren bei der Niederschlagung des Prager Frühlings keinen Krieg riskiert, um sie daran zu hindern, diese gegen ihre Bevölkerung einzusetzen.

Die erstaunliche Tatsache eines gewaltlosen Wandels einer hochgerüsteten Diktatur zur Demokratie, der den Glücksfall der deutschen und schließlich auch der europäischen Einigung möglich machte, ist ohne Zweifel auch, wenn nicht vor allem, der von Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Egon Bahr, Bruno Kreisky und Olof Palme hartnäckig vorangetriebenen Ost- und Entspannungspolitik zu verdanken. Die seit den späten 60er Jahren verfolgte Politik der Gespräche und Verträge – von rechts immer wieder als Verrat an der deutschen Nation und an den Werten des Westens geschmäht – hat zweifellos bei den herrschenden Eliten des Ostblocks die Vorstellung genährt, dass es auch für sie ein »Leben nach dem System« geben könne, und gleichzeitig für die Masse der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang dem offiziellen Feindbild des »revanchistischen Westens« die Glaubwürdigkeit entzogen. Eine im Zusammenhang mit der Wende besonders wichtige Figur wie Michail Gorbatschow konnte nur in einem Klima an die Macht gelangen, in dem auf Konfrontation und gegenseitige Bedrohung verzichtet und stattdessen auf Gespräche, Vertrauensbildung und schließlich Verträge gesetzt wurde.

Wer heute noch einmal die Rede nachliest, die Wladimir Putin am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag gehalten hat – das Wortprotokoll ist im Internet abrufbar – ahnt, was es für die Zukunft Deutschlands und Europas bedeutet hätte, wenn der Geist der neuen Ost- und Entspannungspolitik nicht von der Siegerpose der USA überlagert und schließlich verdrängt worden wäre. In den USA setzte sich schon bald nach dem Fall der Mauer jene zynische Haltung auch in der Außenpolitik durch, die im Jargon der neoliberalen Wirtschaftsideologen »The winner takes it all« lautet. Statt die Chancen einer partnerschaftlichen Kooperation im größeren Europa, die von Putin beschworen wurden, entschlossen zu nutzen, ließ sich auch die EU, vor allem in den zehn Jahren der Präsidentschaft José Manuel Barrosos, mehr und mehr von der Siegermentalität der USA anstecken. Aus dem einst in Aussicht gestellten »gemeinsamen Haus Europa« wurde ein EU-Europa, das sich auf Drängen Polens, der baltischen Staaten und der USA zunehmend von Russland abwandte, während Putins Russland gleichzeitig immer mehr auf die alten autoritären und hegemonialen Denkweisen der Zarenzeit zurückgriff.

Die deutsche Einheit, eine Erfolgsgeschichte? Allenfalls eine halbe. Das größer gewordene EU-Europa kann aufgrund neuer und alter Spaltungen und der Schwäche seiner Institutionen die ihm von seinen Erfindern zugedachte Rolle des weltpolitischen Fortschrittsmotors und Friedensstifters nicht ausfüllen. Überall in Europa, auch im vereinigten Deutschland, haben rechte populistische und nationalistische Strömungen und Parteien Zulauf. Die USA haben ihre – immer schon wenig glaubwürdige – Rolle des wohlwollenden Hegemons vollends verspielt, seit das Präsidentenamt einem dummdreisten Antidemokraten, Lügner und Hetzer in die Hände gefallen ist. Und die gelegentlich immer noch zu hörende Rede von der NATO als einer »Werteordnung« klingt nur noch lächerlich.

Wenn jetzt in diesem Herbst die Deutschen des Mauerfalls und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor 30 Jahren gedenken, wäre es wünschenswert, wenn allzu selbstgewisse Siegerposen unterblieben. Denn in Deutschland und erst recht in Europa ist noch längst nicht alles zusammengewachsen, was zusammengehört. Im Gegenteil, in einer ganzen Reihe von Staaten, die in den letzten Jahrzehnten zur EU hinzugekommen sind – Polen, Ungarn, Bulgarien, Slowakei – steht es heute schlechter um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als in den ersten Jahren ihrer EU-Mitgliedschaft. Und, was vielleicht noch bedeutender ist, die Kluft zwischen einer winzigen Vermögenselite und einer schnell anwachsenden Schicht sich im Überlebenskampf verzehrender Armen wächst überall auf der Welt, auch im reichen Europa und in der reichen Bundesrepublik. Wenn Sieger glauben, sich alles nehmen zu können, das wäre eine Lehre, die nach 30 Jahren deutscher Einheit und 30 Jahren Neoliberalismus zu ziehen wäre, bereiten sie fast zwangsläufig den Ruin des Ganzen vor.

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