Wenige Tage vor der deutschen Wiedervereinigung schlossen sich am 27. September 1990 in Berlin die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Sozialdemokratische Partei in der DDR zusammen. Nach mehr als 44 Jahren existierte somit wieder eine gesamtdeutsche Sozialdemokratie.
Damalige Protagonisten wie Hans-Jochen Vogel, Wolfgang Thierse, Erhard Eppler oder zuletzt Markus Meckel haben ihre Sicht der Dinge publiziert und Wissenschaftler ihre Studien vorgelegt. In der öffentlichen Erinnerungskultur scheint es jedoch weiterhin so, als wenn es neben dem »Kanzler der Einheit« und seinem liberalen Außenminister keinen nennenswerten sozialdemokratischen Beitrag gegeben oder dieser aus der Minderheitenposition Oskar Lafontaines bestanden habe. Bereits die Fusion aus West- und Ost-SPD bietet Anlass, um dieses kritische Narrativ zu hinterfragen. Denn im Unterschied zu CDU und FDP war es keine Vereinigung mit einer vormaligen Blockpartei, sondern mit Oppositionellen. Im Gegensatz zum oftmals geäußerten Vorwurf zeigte sich die ostdeutsche Sozialdemokratie auch sehr zurückhaltend bei der Aufnahme ehemaliger SED-Mitglieder. Dieser moralische Vorteil brachte jedoch einen strukturellen Nachteil mit sich. Weder konnte die ostdeutsche Sozialdemokratie auf ein bestehendes Netzwerk an Mitgliedern setzen, noch besaß sie eine infrastrukturelle Ausstattung. Sozialdemokratische Netzwerke und Traditionen waren gezielt durch die SED-Diktatur zerstört worden.
Knapp ein Jahr vor der Vereinigung beider Parteien war am 7. Oktober 1989 die Sozialdemokratische Partei (SDP, ab Januar 1990 SPD in der DDR) in Schwante gegründet worden. Dieser couragierte Akt stellte einen Affront gegenüber der SED dar. Seit der erzwungenen Vereinigung zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands am 22. April 1946 war eine legale Tätigkeit von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht mehr möglich gewesen. Bereits zuvor war es zu Repressionen gekommen, die sich nach der Zwangsvereinigung zu einer gezielten Verfolgung des »Sozialdemokratismus« steigerten. In den folgenden Jahrzehnten leisteten Sozialdemokraten mutigen Widerstand gegen die SED-Diktatur. Zahlreiche Beispiele dokumentiert das auf Initiative des kürzlich verstorbenen Hans-Jochen Vogel erstellte Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie, mit dem die SPD ihre Opfer in beiden Diktaturen würdigt.
Im Kalten Krieg sorgte die sozialliberale Entspannungspolitik für ein reziprokes Vertrauen, das Jahre später dazu beitrug, die Ängste vor einem wiedervereinigten Deutschland abzubauen. Das »Wunder vom Kaukasus« im Juli 1990 wäre ohne die Erfolge der Ostpolitik nicht möglich gewesen. Mit dem umstrittenen »SED-SPD-Papier« 1987 wurde die Entspannungspolitik auch in der Opposition fortgeführt. Knapp zwei Jahre nach dessen Publikation hielt Erhard Eppler eine bemerkenswerte Bundestagsrede anlässlich des Jahrestages des Aufstands vom 17. Juni 1953. Wenige Tage vor der Durchtrennung des »Eisernen Vorhangs« zwischen Ungarn und Österreich erkannte er als einer der ersten die neuen Entwicklungen in der DDR und die dadurch ausgelösten Möglichkeiten.
Drei Monate später begannen DDR-Bürger mit »Montagsdemonstrationen« gegen die Diktatur aufzubegehren. Am 9. November überraschte schließlich der Fall der Mauer Deutschland und Europa. Eine baldige Wiedervereinigung schien zu diesem Zeitpunkt unwahrscheinlich, aber langfristig möglich. Willy Brandt drückte diese Hoffnung in seiner emotionalen Rede vor dem Rathaus Schöneberg am 10. November 1989 aus, indem er betonte, dass man noch nicht am Ende des Weges angekommen sei.
Einen konkreten Fünf-Punkte-Plan stellte Vogel in der Bundestagsitzung vom 28. November 1989 vor. Darin forderte der Partei- und Fraktionsvorsitzende knapp eineinhalb Stunden vor Helmut Kohls Präsentation eines Zehn-Punkte-Plans: »Die Einheit und Freiheit Deutschlands soll spätestens zusammen mit der Einheit und Freiheit Europas im Einklang mit dem Helsinki-Prozess vollendet werden.« Vogels Konzept lief wie Kohls Plan auf eine vorübergehende Konföderation beider deutscher Staaten hinaus, enthielt im Gegensatz zu diesem aber bereits den Hinweis auf eine mögliche baldige Währungsunion.
Im Hinblick auf das übergeordnete Ziel der deutschen Einheit unterstützte die SPD-Fraktion unter Vogels Führung fortan den Regierungsplan. Von nun an stand die Exekutive um Kanzler Kohl im medialen Fokus. Sozialdemokratische Konzepte wie der bereits im Januar 1990 von Ingrid Matthäus-Maier vorgestellte Plan einer Wirtschafts- und Währungsunion wurden in der Öffentlichkeit kaum rezipiert. Auch Kohl, der, solange es die Mehrheitsverhältnisse erlaubten, wenig Interesse an der angebotenen Kooperation mit der SPD zeigte, wirkte aktiv daran mit.
Innerparteilich kam es zu Konflikten über den richtigen Kurs mit Lafontaine, der abweichend von der Parteilinie zeitweise für eine Aberkennung des Rechts auf bundesdeutsche Staatsbürgerschaft für DDR-Bürger und eine Ablehnung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion plädierte, sich aber gegen die Mehrheit um Vogel, Johannes Rau und andere nicht durchsetzen konnte. Vogel fasste seine Haltung im Mai 1990 im Parteivorstand zusammen: »In späteren Jahren wird man uns nicht durchgehen lassen, wenn wir unsere Verantwortung nicht voll akzeptiert und getragen haben.«
Am zweiten Tag des Vereinigungsparteitags kürten die Delegierten dennoch Lafontaine zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. Die anschließende Wahlniederlage fiel im Osten noch deutlicher als im Westen aus. Der wiederkehrende Hinweis auf die massiven finanziellen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen der Einheit während des Wahlkampfs war zwar verantwortungsbewusster gewesen als nichteinhaltbare Versprechungen, symbolisiert durch Kohls Vision von baldigen »blühenden Landschaften«. Der Kanzlerkandidat hatte damit jedoch (unbegründete) Ängste vor einer halbherzigen Wiedervereinigungspolitik der SPD geschürt. Auch das Berliner Programm vom Dezember 1989 und das Wahlprogramm gaben wenig Antworten auf die nunmehr drängenden Fragen. Der starke Fokus auf Ökologie war vorausschauend, stellte aber ein Politikfeld in den Mittelpunkt, das nach Mauerfall und Wiedervereinigung keine Priorität besaß, was sich auch durch das Scheitern der westdeutschen Grünen an der Fünfprozenthürde dokumentierte.
30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es angebracht, die Leistungen der SPD insgesamt zu würdigen, anstatt auf eine Minderheitenmeinung zu fokussieren. Die Partei hat nicht nur im Vorfeld Grundlagen gelegt, sondern auch im Prozess eine wichtige Rolle gespielt. Dazu gehört allen voran der Mut ostdeutscher Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die zum Ende der SED-Diktatur maßgeblich beitrugen. Auch der Anteil der Ost-SPD als Koalitionspartner in der letzten DDR-Regierung und der Volkskammer sowie der SPD in Bundestag und Bundesrat, durch Landes- und Kommunalregierungen ist zu nennen. Nicht zuletzt wären die notwendigen Mehrheiten im Parlament ohne die SPD nicht zustande gekommen. Hans-Jochen Vogel führte die Partei in dieser Phase auf einen Kurs der konstruktiven Opposition, der seitdem mehrfach von politischen Kontrahenten wie Wolfgang Schäuble oder Theo Waigel positiv herausgestellt wurde. Besondere Aktivität entfaltete die SPD darüber hinaus ab 1992 in der Gemeinsamen Verfassungskommission.
Der Widerstand gegen die SED-Diktatur, die Gründung der SDP, ihr Anteil an der friedlichen Revolution und der Beitrag der SPD zur Deutschen Einheit sind Teil der sozialdemokratischen Geschichte. Es ist ein historisches Erbe, das stolz macht und sich in eine Freiheits- und Demokratietradition seit dem Kaiserreich einreiht. Das auf dem Vereinigungsparteitag 1990 beschlossene »Manifest zur Wiederherstellung der Einheit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« fasst diese Überzeugung prägnant zusammen: »Dreimal in der deutschen Geschichte wollte antidemokratische Gewalt die stabilste Stütze der deutschen Demokratie umreißen: 1878, 1933, 1946. Dreimal ist es mißlungen (…) Und jedesmal hat sich die Idee der Sozialdemokratie als stärker erwiesen: Allen Bürgerinnen und Bürgern das Recht und die Möglichkeit zu geben, daß sie in demokratischer Freiheit leben und in sozialer Verantwortung über sich selbst bestimmen.«
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