In Deutschland war der 24. März 2022 ein Datum ohne besondere Bedeutung. In Portugal hingegen war es der erste Tag, an dem die Demokratie länger bestand als die Diktatur, die das Land von 1926 bis 1974 im Würgegriff gehabt hatte. Er war deshalb Auftakt zu zweieinhalb Jahren Erinnerung an das Ende der autoritären Herrschaft, an die »Nelkenrevolution« am 25. April 1974, und an Mário Soares, den bedeutendsten Vorkämpfer für die Freiheit des Landes, der am 7. Dezember 2024 100. Geburtstag hätte. Auch wenn nach der Neuwahl des Parlaments die Festlichkeiten im Schatten unsicherer Mehrheitsverhältnisse und eines Aufstiegs der Rechtspopulisten stehen: Der 25. April ist bis heute im ganzen Land ein gelebter Feiertag, keiner, der nur auf dem Papier und im Kalender der politischen Elite existiert.
Geburtshilfe durch SPD und Friedrich-Ebert-Stiftung
Auf der Agenda der Sozialistischen Partei stand noch ein weiteres Datum. Am 19. April 2023 beging sie das halbe Jahrhundert ihrer Existenz mit einem Festbankett in Lissabon, an dem Felipe González und Olaf Scholz als Gastredner teilnahmen. Durch die Einladung des Bundeskanzlers und der Spitze der Friedrich-Ebert-Stiftung drückten Portugals Sozialisten ihren Dank für die Geburtshilfe der deutschen Genossinnen und Genossen aus: Die Verfolgung durch die Diktatur hatte es 1973 unmöglich gemacht, den Partido Socialista im eigenen Land ins Leben zu rufen. Die FES leistete tatkräftige Hilfe und bot ihre Tagungsstätte in Bad Münstereifel den Gründerinnen und Gründern als Versammlungsort an. Um diese Zusammenkunft ranken sich in Portugal Mythen. Willy Brandt sei anwesend gewesen und er und Soares enge Freunde. Die Realität sah anders aus. Zwar setzte die Ebert-Stiftung darauf, Portugals Sozialisten für die Zeit nach dem erwarteten baldigen Sturz der Diktatur zu rüsten. Bisher hatten diese sich nur in einer Vereinigung zusammengetan; eine Parteigründung erschien dringlich, um uneingeschränkt am Aufbau einer Demokratie mitwirken zu können.
Die SPD-Führung, Willy Brandt eingeschlossen, sah dies anders. Sie rechnete nicht mit einem abrupten Ende der Diktatur, sondern mit einer allmählichen Liberalisierung unter Führung des Salazar-Nachfolgers Marcelo Caetano. Die sehr überschaubare Schar der portugiesischen Sozialisten, eine Ansammlung von Akademikern ohne Verbindung zur Arbeiterschaft, erschien ihr als einflusslos. Deshalb nahm an der Konstituierung der Partei in Bad Münstereifel kein Mitglied des Parteivorstands teil und Hans-Eberhard Dingels, der Internationale Sekretär, tauchte erst am letzten Tag der Beratungen zu einem kurzen Besuch auf.
»Die Militärs hatten es satt, einer Diktatur zu dienen, die das Land in Rückständigkeit hielt.«
Bei ihrer Bewertung der Kräfteverhältnisse überschätzte die SPD die Stabilität der Diktatur, die sich als Koloss auf tönernen Füßen erwies, unterschätzte das persönliche Prestige von Mário Soares und auch dessen Tatkraft. In Portugal war er schon zu Zeiten der Diktatur eine bekannte Figur, seit Ende der 40er Jahre im Kampf gegen die Herrschaft von Antonio Salazar. Mehrfach saß Soares im Gefängnis, 1968 deportierte man ihn für fast ein Jahr auf eine Insel vor der afrikanischen Küste. Bei der Etablierung der Partei 1973 ließ sich Soares auch durch einen Zwist mit Maria Barroso, seiner Frau, nicht stoppen: Sie stimmte gegen den Beschluss.
Ein Jahr nach der Parteigründung zeigte sich, dass die Ebert-Stiftung richtig gelegen hatte: Am 25. April 1974 stürzte eine Gruppe von Hauptleuten und Obersten in einer weitgehend unblutig verlaufenden Aktion die Regierung. Die Militärs hatten es satt, einer Diktatur zu dienen, die das Land in Rückständigkeit hielt, in den Kolonien ihr Leben für imperiale Träume zu riskieren und den Willen der dortigen Völker zur Unabhängigkeit zu bekämpfen. Demokratie, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung lauteten ihre Ziele, neben dem Ende des portugiesischen Kolonialreichs.
Mário Soares erfuhr von der Befreiungstat in Bonn. Ein geplantes Treffen mit Bundeskanzler Willy Brandt musste entfallen, Lissabon war wichtiger. Als der PS-Vorsitzende am 28. April 1974 zusammen mit Maria Barroso per Zug nach Lissabon zurückkehrte, war er bereits ein Volksheld. Tausende begrüßten ihn vor dem Bahnhof. Nun erkannte auch die SPD die Notwendigkeit, die Genossinnen und Genossen im Südwesten massiv zu unterstützen. Die Partei legte den Schalter um und startete gemeinsam mit der FES die wohl umfangreichste Aktion internationaler Solidarität in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Geld, Sachmittel und Berater flossen nach Portugal, um die Sozialistische Partei kampagnen- und regierungsfähig zu machen. Aber am Ende entschieden stets die Portugiesen. Es war keine ferngesteuerte Partei, die nun entstand, sondern der Ausdruck des politischen Sehnens vieler Portugiesinnen und Portugiesen.
Radikale Phase des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie
Das Ende der Diktatur setzte in Portugal ungeheure Kräfte frei. Binnen weniger Wochen gründeten sich Parteien und freie Gewerkschaften, setzten Streiks zur Verbesserung der miserablen Löhne ein, besetzten Landarbeiter Latifundien und Wohnungssuchende leerstehende Häuser. Die Demokratie wuchs von unten, Sackgassen und Übertreibungen eingeschlossen. 1975 verstaatlichte die provisorische Regierung, an deren Spitze ein pro-kommunistischer General stand, Banken, Versicherungen und Schlüsselindustrien.
Die erste Aufgabe, der sich Mário Soares stellte, war die Entkolonisierung. Binnen 18 Monaten erlangten alle bisher zu Portugal gehörenden Territorien in Afrika (Angola, Guinea-Bissau, Mosambik, São Tomé und Principe) die Unabhängigkeit. Bald jedoch drängten sich innenpolitische Themen in den Vordergrund. Seit dem Herbst 1974 radikalisierte sich das Militär, die Kommunisten unter der Führung des Alt-Stalinisten Álvaro Cunhal gewannen an Einfluss, und im Jahr darauf stand – zum letzten Mal in Europa – eine sozialistische Revolution auf der Tagesordnung. Es war der Partido Socialista, welcher das Ziel einer parlamentarischen Demokratie nach westeuropäischem Vorbild nicht aufgab und in Massendemonstrationen versuchte, den Linksradikalen Einhalt zu gebieten. Am 25. April 1975, ein Jahr nach dem Ende der Diktatur, legitimierten die portugiesischen Wählerinnen und Wähler den Kurs von Soares: Mit 38 Prozent wurden die Sozialisten die mit Abstand größte Partei in der Verfassunggebenden Versammlung, nur knapp 17 Prozent machten ihr Kreuz bei den Kommunisten und einer Truppe von Fellow-Travellern.
Kommunisten und linksradikale Militärs gaben nichts auf das Wählervotum. So unklar ihre Ziele im Einzelnen waren: Einigkeit bestand unter ihnen, dass sie eine repräsentative Demokratie ablehnten. Aber immer stärker wurde der Widerstand gegen diesen Kurs: Hunderttausende gingen auf die Straße, auch immer mehr Militärs wandten sich gegen ihre linksradikalen Kameraden. Bei den Protesten kam es auch zu Anschlägen auf kommunistische Parteibüros, Portugal drohte ein Bürgerkrieg oder eine Spaltung in einen vom PS dominierten Norden und einen kommunistisch beherrschten Süden. Die NATO fürchtete, die Sowjetunion könne künftig die Häfen des Landes nutzen, und Henry Kissinger gab den Kampf gegen die Kommunisten schon verloren, verglich Soares mit Alexander Kerenski, der 1917 Lenin unterlegen war.
Aufstieg der Sozialistischen Internationale
Kissinger wusste nichts von internationaler Solidarität, dachte in Kategorien von Militärputsch und Invasion. Die westeuropäische Sozialdemokratie, angeführt von Willy Brandt, setzte dem eine politische Offensive zur Unterstützung der Sozialisten entgegen. Auch Mexiko und Venezuela zogen mit. Die einen engagierten sich finanziell, andere planten eine militärische Unterstützung für die Demokraten im Falle eines Putschs, egal ob von links oder rechts. Entgegen der Einschätzung des Weißen Hauses reüssierten die portugiesischen Sozialisten, unterstützt von ihren Genossinnen und Genossen jenseits der Grenzen. Am 25. November 1975 endete die radikale Phase des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie, als gemäßigte Militärs linksradikale Einheiten entwaffneten. Soares alias Kerenski hatte über Cunhal alias Lenin gesiegt.
»Mário Soares sah die Zukunft Portugals als Teil der europäischen Einigung.«
Die Parlamentswahl 1976 entschied der Partido Socialista erneut für sich und Mário Soares trat an die Spitze einer Minderheitsregierung. Sein oberstes Ziel war die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. »Europa connosco« (»Europa mit uns«) lautete der Wahlkampfslogan. Ökonomisch war dies ein riskantes Unterfangen: Portugals rückständige Wirtschaft war ganz und gar nicht konkurrenzfähig. Linke Kritiker beschworen den Untergang des Landes beim Beitritt zur EG, auch ich zweifelte damals an Soares’ Kurs. Mário Soares aber dachte in politischen Kategorien: Nicht im Bündnis mit Ländern der Dritten Welt, schon gar nicht auf sich alleine gestellt, sah er die Zukunft Portugals, sondern als Teil der europäischen Einigung.
Massive Hilfen der EG und eine günstige Weltkonjunktur ermöglichten, was manche nicht hatten glauben wollen: Von der Zugehörigkeit Portugals zur EG, die am 1. Januar 1986 begann, profitierte das Land nachhaltig. Anderthalb Monate nach dem Beitritt wählten die Portugiesinnen und Portugiesen Soares zu ihrem Präsidenten, was er bis 1996 blieb.
Der Übergang Portugals zur Demokratie ebenso wie Spaniens Transición wenige Jahre später, zu deren Gelingen die Sozialdemokratie ebenfalls einen entscheidenden Beitrag leistete, wurden zum Leitbild für eine ganze Generation demokratischer Politikerinnen und Politiker weltweit und begründeten den Aufstieg der Sozialistischen Internationale zu einer einflussreichen Kraft, seitdem Willy Brandt 1976 deren Führung übernommen hatte. Tempi passati!
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