Menü

© Bild von Bromine auf Pixabay

70 Jahre Brutalismus

»Schade, dass Beton nicht brennt«, so lautete ein Protest-Slogan in den politisierten 70er Jahren. »Beton, es kommt drauf an, was man draus macht.« Mit diesem Werbespruch reagierte daraufhin die mächtige Bauindustrie. Aber da war der Ruf schon ruiniert. Beton galt damals, und gilt vielen heute immer noch, als Symbol für den rücksichtslosen, traditionsfeindlichen Wiederaufbau. Das Material steht für eine Verkehrsplanung mit unüberwindlichen Autotrassen, die sich bis in die Innenstädte hineinbohren, für Fertigteil-Universitäten und Waschbetonschulen sowie natürlich für die Schlafstädte an den Stadträndern, für den gewerkschaftseigenen Bau- und Wohnungskonzern Neue Heimat und all die Gropiusstädte, denen unter anderen im Roman Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ein schauriges Denkmal gesetzt wurde.

Betonkopf, Betonfraktion, Betonbunker: Auch unsere Sprache kennt keine Gnade mit einem Baustoff, mit dem einst große Hoffnungen verbunden waren.

Mit dem Beton aufs innigste verbunden ist ein noch problematischerer Begriff, der scheinbar selbsterklärend all das Verdammenswerte des Wirtschaftswunderbooms in sich birgt: Brutalismus. Die brutalistische Architektur umfasst all jene Bauten der Nachkriegsjahrzehnte, bei denen Beton nicht nur das verborgene Skelett bildet, sondern an der Fassade und im Innenraum genüsslich zelebriert wurde. Dieser Brutalismus wird demnächst 70 Jahre alt. Man müsste ihn eigentlich französisch aussprechen, weil er auf den Architekten Le Corbusier zurückgeht. Dieser sah in den rohen Betonflächen seiner »Wohnmaschinen« , die ab 1947 zunächst in Marseilles errichtet wurden, nicht etwa ein Problem, das mit Farbe oder Verputz zu kaschieren war, sondern beließ es dabei und nannte die nackten Betonteile durchaus zärtlich genauso, wie man einen trockenen Champagner nennt: béton brut.

Diesen Begriff übernahm das britische Architektenehepaar Alison und Peter Smithson, um damit ihre Unzufriedenheit mit den ihrer Ansicht nach harmlosen britischen Siedlungen des Wiederaufbaus zum Ausdruck zu bringen. Der New Brutalism wurde 1953 erstmals in einer Architekturzeitschrift erwähnt. 1955 nahm ihn der Architekturhistoriker Reyner Banham auf, um damit die Architektur einer neuen Richtung zu charakterisieren, zu der er neben den Smithsons unter anderem auch den amerikanischen Architekten Louis Kahn zählte. Nackt, ehrlich, unverfeinert, das waren die Attribute der junge Avantgarde, in Banhams Augen die erste fundamentale Neu-Definition des Bauens nach dem furiosen Aufbruch der modernen Architektur in den frühen 20er Jahren.

Das Zentrum des Diskurses lag zwar in Großbritannien. Aber die Wortschöpfung namens Brutalismus verbreitete sich schnell international. Brutalistische Architektur entstand zum selben Zeitpunkt auch an anderen Orten der Welt oder gab es dort bereits. Die ADGB-Bundesschule in Bernau, entworfen vom damaligen Bauhaus-Direktor Hannes Meyer, fertiggestellt im Jahre 1930, ist ein Beispiel für einen Brutalismus avant la lettre. Daran mitgearbeitet hatte Max Bill, der 1950 bis 1955 mit seiner der materiellen Nachkriegsnot abgerungenen Hochschule für Gestaltung Ulm ein manifesthaftes Gebäude geschaffen hatte, das im Jahr der Eröffnung von der gut informierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung bereits als brutalistisch bezeichnet wurde. Die HfG hatte zwar zu dem Diskurs rings um Banham und die Smithsons keine Verbindung, könnte aber ebenso für sich beanspruchen, der Gründungsbau des Brutalismus gewesen zu sein. Der Zeitgeist wehte eben nicht nur durch London, sondern streifte auch Baden-Württemberg. Zudem ist die HfG ein gutes Beispiel, dass Gestaltungsfragen in einem größeren, politischen Zusammenhang stehen. Sie sollte als Kunsthochschule eine Keimzelle der kommenden, offenen Gesellschaft bilden. Ihre Gründer waren der Gestalter Otl Aicher und seine Frau Inge Aicher-Scholl, die Schwester von Sophie Scholl, Mitglied der Weißen Rose.

Wo man auch hinschaut: Brutalismus entstand überall auf der Welt, quer zu allen politischen Systemen, aber unter jeweils spezifischen Rahmenbedingungen. Nur in China gab es ihn nicht. Die Kulturrevolution ließ keine Mittel übrig für kapriziöse Betonskulpturen.

Der gleichermaßen globale wie stets regionale Brutalismus ist auch die Architektur des »Nation Building«, insofern er zeitlich mit der Epoche der Entkolonialisierung (in Afrika und Asien), des Wiederaufbaus (in Europa und Japan) und der rasanten Modernisierung (in Nord- und Südamerika sowie im Mittleren Osten) zusammenfällt.

Die Bauten waren häufig von einer Art »Oppositionshaltung« ihrer Urheber bestimmt. Die brasilianischen Architekten João Baptista Vilanova Artigas und Paulo Mendes da Rocha gingen für ihre Überzeugungen ins Gefängnis und erhielten zeitweilig Berufsverbot. Der Brutalismus der indischen Architektur setzt den Bauten der ab 1947 überwundenen britischen Kolonialherrschaft eine gleichermaßen mächtige Geste entgegen. Oder, ein weiteres Beispiel, die brutalistischen Bauten Israels: Sie sind die Werke einer jungen, in Israel aufgewachsenen Generation, die sich von der Weißen Moderne der Emigranten mit grauen, pragmatischen, überbetont soliden Bauten absetzen wollte. Brutalismus wird häufig als die »Architektur des Wohlfahrtsstaats« beschrieben. Tatsächlich aber verstanden es viele der Urheber, die wohlfahrtsstaatlichen Aufträge subversiv zu unterwandern, um baukünstlerisch eigenwillige Werke zu schaffen.

Ab Mitte der 60er Jahre entsteht auf diese Weise eine neue Form der Autorenschaft, ja der Künstlerarchitektur. Ihr Vorbild ist Le Corbusier. Seine Kurswechsel nach dem Zweiten Weltkrieg, hin zu rustikalen Konstruktionen und zum béton brut, haben einer Generation von Architekten die Augen dafür geöffnet, dass die weiße, klassische Moderne noch nicht das Ende der Geschichte ist, sondern sprunghafte Entwicklungen jederzeit möglich sind. Die übertriebene Rhetorik dieser Bauten geht oftmals einher mit einer Heroisierung der Bauarbeiter. Der béton brut Le Corbusiers adelte die Spuren der ungelernten Arbeiter zum Gestaltungsmittel.

Heute ist der Brutalismus längst ein Patient für die Denkmalpflege. Doch Eile ist geboten. Momentan befinden wir uns nämlich noch in der Phase der Abrisse und Sprengungen. Dazu einige Beispiele aus Frankfurt am Main: Im Jahr 2014 wurde der AfE-Turm gesprengt, ein Seminar- und Verwaltungsgebäude der Goethe-Universität. Das markante Hochhaus mit seinem außenliegenden wuchtigen Sichtbetonskelett wurde 1972 eingeweiht, nahezu zeitgleich mit zwei weiteren Bauwerken des Brutalismus in Frankfurt. Das Technische Rathaus (gebaut 1972–1974), das Historische Museum (1969–1972) und eben jener AfE-Turm hatten die Bevölkerung und auch die Fachwelt von Beginn an polarisiert. Als Denkmal alle drei nicht ausgewiesen, wurden sie nach gut 40 Betriebsjahren abgerissen. Statt Technischem Rathaus (Abriss 2010) und Historischem Museum (Abriss 2011) hat sich Frankfurt nun ein Stück neue Altstadt und ein neues stadthistorisches Museum geleistet. Als der Brutalismus mit Sprengstoff und Abrissbaggern aus dem Stadtbild getilgt wurde, beschäftigte sich das Deutsche Architekturmuseum (DAM) gerade mit einer Ausstellung zur eigenen Geschichte. Zur Zeit der Eröffnung des DAM im Jahr 1984 zählte Frankfurt zu den Zentren der postmodernen Stadterneuerung in der Bundesrepublik. Sein Gründungsdirektor, der Kunsthistoriker Heinrich Klotz, äußerte sich in einer Flut von Veröffentlichungen seinerzeit gegen den »Bauwirtschaftsfunktionalismus« und hielt auch den Brutalismus für eine formalistische Sackgasse auf dem Weg zu einer notwendigen »Revision der Moderne«, wie die erste Ausstellung im DAM betitelt war. Mehr als 30 Jahre später scheint sich die Gründungsmission des DAM durch den Bau der »Neuen Altstadt« und den Abriss stadtbildprägender Gebäude des Brutalismus erfüllt zu haben.

Aber nein, das sollte nicht zum gängigen Narrativ werden, der Sieg der Postmoderne nicht unwidersprochen bleiben. Daher beschloss das DAM im Jahr 2014 – und setzte damit gegen die Welle der Zerstörung – eine Kampagne, die unter dem Titel »SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!« zunächst im Internet begann und schließlich im Jahr 2017 in eine Ausstellung mündete. Mit knapp 50.000 Besuchern war es eine der erfolgreichsten Ausstellungen in der Geschichte des DAM. Es kam bei Weitem nicht nur die Generation Instagram, für die der Brutalismus eine unendliche Abfolge cooler Fotos ist. Die tatsächlich monsterhaft großen Architekturmodelle tourten anschließend nach Wien, dann ins Beton-Mekka der Ruhr-Universität Bochum, nach Aalen, wo gegenwärtig über die Zukunft des betonbrutalistischen Rathauses gestritten wird und schließlich nach Taiwan, denn auch dort wird das architektonische Erbe der 60er und 70er Jahre mittlerweile neu bewertet.

Die ökologische Vernunft wäre allein ein guter Grund, den Kulturkampf um den »Brutalismus« zu beenden und in Betongebäuden nicht zuletzt sehr viel graue, aufgespeicherte Energie zu sehen, die nicht fahrlässig zu opfern, sondern durch intelligente Umnutzung zu bewahren ist. Die Generation des Brutalismus hat oft genug den vorgefundenen Kontext ausgelöscht. Damit sollte allerdings endgültig Schluss ein, ob man die Betonmonster nun ins Herz geschlossen hat oder nicht.

Wie schwierig es ist, Bausubstanz zu bewahren, zeigt sich ebenfalls gerade in Frankfurt, wo unter reger Beteiligung der überregionalen Kulturpresse über die Zukunft der Städtischen Bühnen diskutiert wird. Wie mittlerweile üblich in solchen Debatten, kann man Online-Petitionen beitreten und sich auf den Webseiten der verschiedenen Interessengruppen informieren, die jeweils ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit aufgebaut haben. Mehr als 5.800 Personen haben bisher für den Erhalt der Theater- und Opernanlage unterschrieben. Sogar 6.300 Unterstützer hat der Berliner Mäusebunker, ein auf den ersten Blick furchterregendes Bauwerk, das im Gegensatz zum Theater mit seiner leichten, an Mies van der Rohe orientierten Struktur nur Hardcore-Fans des Brutalismus ansprechen dürfte. Das einst für Tierversuche der Freien Universität Berlin errichtete Hochsicherheitslabor wirkt mit seinen kanonenrohrartigen Lüftungsvorrichtungen wie eine krude Kombination aus Kriegsschiff und Weltraumkreuzer à la Star Wars. Der aktuelle Betreiber, das Charité-Klinikum, lässt verlauten: eine Umnutzung sei unmöglich. Aber genau das reizt die Brutalismus-Aktivisten, zu denen sich nun auch ein bekannter Berliner Galerist gesellt hat. Johann König ist es mit seiner Galerie St. Agnes in Berlin bereits einmal gelungen, ein nutzlos gewordenes Bauwerk mit neuem Leben zu füllen. Die Kampagne zum Erhalt des Mäusebunkers schaffte es sogar in die Tagesthemen. Es ist an der Zeit, auch sperrige und schwierige Bauwerke als grundsätzlich reparierbar zu betrachten. Man sollte dem revolutionären Credo der Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal folgen, die als heutige Brutalisten gelten können: »never demolish, always repair«.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben