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Die Gruppe »Lebenslaute« verbindet zivilen Ungehorsam mit klassischer Musik A-Moll statt A-Müll

Ob Ca ira oder Spieß voran, The Times They Are a-Changin oder Keine Macht für niemand: Die Aufstände und Revolutionen der Menschheitsgeschichte, die Protest- und Bürgerrechtsbewegungen kamen niemals leise daher, sondern immer unterstützt von Musik, die die Protestierenden miteinander verband und ihnen eine Stimme gab. In der Regel handelt es sich dabei um Musik »von unten«, aus dem Volk heraus, um Revolutionslieder, Protestgesänge, Rockmusik. Die sogenannte klassische Musik von Renaissance bis Romantik, von Bach, Mozart, Haydn oder Mendelssohn eignet sich eher schlecht für ein Aufbegehren gegen Gewalt und Ungerechtigkeit, ist dies doch die »Musik der Herrschenden«, entstanden für Hof und Kirche – und bis heute die Musik der gut situierten Mittel- und Oberschicht, des Bildungsbürgertums.

Umso erstaunlicher, dass 1986 eine Gruppe von Blockierern des Atomraketendepots Mutlangen gerade diese Musik wählte, um ihren gewaltfreien Widerstand zu unterstützen. Die Idee, zivilen Ungehorsam mit klassischer Musik zu kombinieren, entsprang dabei keiner theoretisch unterfütterten Ideologie oder bewusster Planung, sondern war den persönlichen Vorlieben und Lebensläufen der Teilnehmenden geschuldet. Über den Jahreswechsel 1985/86 trafen sich befreundete Aktive im privaten Kreis, um nicht nur miteinander zu feiern, zu kochen und zu musizieren, sondern auch gemeinsam ihre Teilnahme am Blockadeherbst der Kampagne »Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung« gegen die Stationierung von Atomwaffen im US-Raketendepot Mutlangen vorzubereiten.

In den Diskussionen entstand das Bedürfnis, nicht nur eine Blockade gegen etwas durchzuführen, sondern auch zu zeigen, wofür man denn einstehe. Frieder Dehlinger, einer der Gründer der Gruppe »Lebenslaute«, erinnert sich: »Da wir ohnehin den halben Tag musizierten, lag nahe, das Musizieren und das Blockieren miteinander zu verbinden: die Musik als hörbarer Lebenswille. Unser gemeinsames Singen und Musizieren als Vergegenwärtigung der Tradition, der Kultur und Spiritualität, aus der wir stammen, die wir leben und für die wir uns einsetzen.« So schaltete man eine kleine Annonce in der taz mit einem Aufruf, sich an einer musikalischen Blockade des Raketendepots Mutlangen zu beteiligen. Schließlich ermöglichten etwa 130 Anmeldungen nicht nur eine sinfonische Orchesterbesetzung, sondern sogar noch einen Oratorienchor – die Geburtsstunde der »Lebenslaute«.

Schon in der Nachbereitung der ersten Konzertblockade wurde der Widerspruch, ausgerechnet die »Musik der Herrschenden« für den Protest zu wählen, innerhalb der Gruppe diskutiert. Doch die Vorteile wurden rasch deutlich. »Für die damals Beteiligten, von denen sich viele ihrer ›bürgerlichen‹ Musikausbildung bewusst waren, war diese Musik (…) eine Hilfe für den Schritt von der Kritik zur Aktion, bewusst griffen sie etwas für sie Vertrautes auf, um damit Neuland zu betreten«, schreibt Wolfgang Hauptfleisch im Juni 2004 in der Zeitung Graswurzelrevolution zum 18‑jährigen Bestehen der Gruppe »Lebenslaute«.

Mindestens so wichtig war und ist jedoch das Überraschungspotenzial, das von einem klassischen Sinfonieorchester als Blockierer ausgeht. Die Hemmungen seitens Militär und Polizei, die Mitglieder eines Sinfonieorchesters in feiner Konzertkleidung während des Musizierens zu räumen, sind enorm und haben der Gruppe »Lebenslaute« in den mehr als drei Jahrzehnten ihres Bestehens zu großen Erfolgen verholfen. »›Unräumbar‹ war die Konzertblockade, wie Wackersdorf gezeigt hatte, zwar wirklich niemals«, so Wolfgang Hauptfleisch, »aber die mit der ungewohnten Aktionsform konfrontierte Staatsmacht tat sich sichtlich schwer, ein klassisches Orchester zu räumen oder andere Gewalt gegen dieses anzuwenden. So wurde der angelernte Respekt vor der Erscheinung der bürgerlichen Kultur (dem Orchester) zum Aktionsmittel und zu einer Stärkung der Gruppe.«

Klassische Musik verwandelt

Den Mitgliedern der »Lebenslaute« ist dabei professionelles und konsequentes Handeln für beide Aspekte der Aktion – ziviler Ungehorsam einerseits, Musik andererseits – immer wichtig. Die stets angekündigten Blockadeaktionen sind begrenzte und bewusste Übertretungen des gesetzlichen Rahmens. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer von »Lebenslaute« sind bereit, die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen: Wer sich räumen lässt, muss unter Umständen Tagessätze bezahlen; manche ziehen es vor, statt zu zahlen, für einige Tage ins Gefängnis zu gehen. Dass es zu diesem Äußersten kaum gekommen ist, liegt nicht zuletzt an der gut funktionierenden Deeskalationsstrategie der Gruppe. Und an der Wahl der Musik, ist sich der Friedensaktivist Gerd Bünzly sicher. Rockmusik könne aggressive Energien verstärken. »Klassische Musik tut das Gegenteil, sie verwandelt.«

Die basisdemokratisch organisierte Gruppe trifft alle Entscheidungen nach dem Konsensprinzip und bereitet ihre Widerstandsaktionen gründlich vor. Es gibt Unterstützergruppen, Bezugsgruppen, Zuständige für die Pressearbeit, Sprecherinnen und Sprecher, die den Kontakt zu Polizei und Sicherheitspersonal halten, Menschen, die sich im Falle eines gewaltsamen Eingreifens um die teils teuren Instrumente kümmern, ein Küchenteam, das in der Lage ist, für Hunderte von Menschen zu kochen etc.

Doch zu jeder politischen Aktion von »Lebenslaute« gehört auch ein Konzert, das den Zuhörenden ein wirkliches Musikerlebnis bereiten soll. Bei »Lebenslaute« sind engagierte musikalische Amateure aktiv, aber auch zahlreiche Profimusikerinnen und -musiker. Jeder Aktion geht ein legales Vorkonzert voraus, das meist in Kirchen oder Gemeindehäusern stattfindet und Orchester und Chor als Generalprobe dient. Das eigentliche Konzert ist im Selbstverständnis von »Lebenslaute« jedoch immer die Blockadeaktion, zu der ebenfalls ein großes Publikum sowie die Presse eingeladen wird. Wenn es aufgrund der örtlichen Gegebenheiten notwendig ist, mehrere Eingänge zu blockieren, so geschieht dies mit Kammermusikgruppen und kleineren Gesangsensembles. Die Musikauswahl richtet sich nach dem Motto der Jahresaktion. Dabei verlässt die Gruppe immer wieder den musikalischen »Wohlfühlbereich« von Barock bis Romantik und wagt sich in die musikalische Moderne hinein bis hin zu Auftragskompositionen, die eigens für »Lebenslaute« geschrieben wurden.

Die Historie der Jahresaktionen von »Lebenslaute« spiegelt die politischen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland seit 1986 und die Geschichte des gewaltfreien Widerstands gegen Rüstung und Kriegseinsätze (Mutlangen, Münsingen, Jagel, Wittstock), Atomkraft (Wackersdorf, Gorleben, Biblis) und Umweltzerstörung (Hambacher Forst). In jüngerer Zeit engagiert sich »Lebenslaute« vermehrt gegen eine inhumane deutsche Flüchtlingspolitik, gegen den Verfassungsschutz oder den deutschen Waffenexport. Den Erfolg einer Aktion bewertet »Lebenslaute« danach, ob es geglückt ist, eine Blockade für die gewünschte Zeit vollständig aufrechtzuerhalten und ob das Konzert musikalisch gelungen ist. Im besten Fall kommt beides zusammen und noch eine große Presseresonanz hinzu. Auf lange Sicht gesehen kann der zivile Ungehorsam und politische Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland, zu dem die Gruppe »Lebenslaute« zählt, auch politischen Erfolg für sich verbuchen: Die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf wurde nie gebaut, der Ausstieg aus der Atomkraft ist beschlossen, die Diskussionen über die Eignung der atomaren Endlagerstätte in Gorleben sind beendet, der Hambacher Forst wurde gerettet, der Truppenübungsplatz in Münsingen existiert nicht mehr.

Der größte Erfolg ist jedoch sicherlich, dass »Lebenslaute« auch nach fast 34 Jahren noch existiert und es gelungen ist, immer wieder neue Aktivistinnen und Aktivisten einzubinden und das Wissen und die Erfahrungen von Generation zu Generation weiterzutragen. Die Stärke und Professionalität der Gruppe ist dabei, so scheint es, stetig angewachsen: »Lebenslaute hat viel und lange Jahre Aktions- und Lebenserfahrung«, berichtet die Aktivistin Larissa Gulitz. »›Lebenslaute‹ hat eine gemeinsame Sprache. ›Lebenslaute‹ hat finanzielle Absicherungen und manche Unterstützer mit Geld (oder ein bisschen Geld). ›Lebenslaute‹ kann irgendwohin fahren und 40 Bierbänke organisieren, an einem Tag. Und 100 Schlafsäcke und Gemeinschaftszelte und ein Kamerateam und Pressekontakte und ganz viele Luftballons. ›Lebenslaute‹ fährt mehrfach zur Vorbereitung an den Aktionsort und fängt nach Abschluss einer Sommeraktion damit an, die für das darauffolgende Jahr zu planen.«

Dass viele kleinere Aktionsgruppen vor Ort, mit denen »Lebenslaute« bei jeder Jahresaktion zusammenarbeiten möchte, dazu nicht imstande sind und sich von den »Lebenslaute«-Aktivistinnen und -Aktivisten überrollt fühlen könnten, ist einer der vielen Widersprüche, die in der Gruppe immer wieder diskutiert werden. Manche sind systemimmanent, etwa Basisdemokratie vs. Orchesterhierarchie oder die Offenheit für alle, sich musikalisch beteiligen zu dürfen, vs. größtmögliche Qualität des Konzerterlebnisses. So bietet das Projekt »Lebenslaute« auch ein gelungenes Beispiel dafür, (innere) Widersprüche auszuhalten, immer wieder neu zu diskutieren und letztendlich daran zu wachsen.

Lebenslaute (Hg.): Widerständige Musik an unmöglichen Orten. 33 Jahre Lebenslaute (mit DVD). Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2020, 256 S., 25 €.

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