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Wie die SPD wieder zum Subjekt der Politik werden kann Abschied von der »koalierten« Partei

»Glanz und Elend der Sozialdemokratie« – vermutlich hat nicht historischer Pessimismus, sondern die Sprachmelodie die Reihenfolge der Begriffe diktiert. Und dennoch scheint die Formulierung eine geschichtliche Sequenz zu suggerieren: gestern der Glanz, heute das Elend. Wenn es denn eine zeitliche Abfolge ist, vom Aufstieg zum Niedergang, ist sie dann unvermeidlich? Vorbestimmt von den vielzitierten »Verhältnissen«? Wurde die Sozialdemokratie, die im 20. Jahrhundert die politischen und sozialen Zustände in Europa und darüber hinaus maßgeblich geformt hat, nun zum Opfer der Verhältnisse? Vom Subjekt des 20. zum Objekt des 21. Jahrhunderts?

Wenn dies so ist, würde die Entwicklung Ralf Dahrendorf heute recht geben, der schon vor dreieinhalb Jahrzehnten das »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts« ausgerufen hatte. Dahrendorfs Argument greift aber zu kurz. Dabei schien seine Prognose ebenso schlüssig wie schlicht: Der Erfolg der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert macht sie im 21. Jahrhundert überflüssig. Der Kapitalismus ist gebändigt, der Wohlfahrtsstaat aufgebaut, die Märkte reguliert. Der soziale Aufstieg hängt nicht mehr maßgeblich von der Herkunft, sondern der eigenen Leistung und Leistungsbereitschaft ab. Die soziale Demokratie hat den Liberalismus verdrängt. Der Erfolg – so die Prognose – frisst seine Kinder.

Die Prognose des großen Soziologen ist möglicherweise richtig, ihre Begründung jedoch nicht. Denn nach fast vier Jahrzehnten neoliberaler Politik in der entwickelten Welt hat die Sozialdemokratie überall stark an Wählern, Mitgliedern, Macht und Gestaltungskraft verloren. Dies ist aber ein Paradoxon. Denn die soziale Frage ist längst wieder zurückgekehrt: Der Wohlfahrtsstaat bröselt, die Finanzmärkte sind entfesselt, die Arbeitsmärkte ein gutes Stück dereguliert, der soziale Aufstieg blockiert. Die Armut und dazu die Ungleichheit haben wieder zugenommen. Thomas Piketty hat dies in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert eindrucksvoll gezeigt.

Genügt es aber, dass ein altes gesellschaftliches Problem zurückkehrt, damit den einstigen Problemlösern des alten Jahrhunderts wieder neue Kompetenz für das neue Jahrhundert zugeschrieben wird? Ist die soziale Frage überhaupt noch – oder schon wieder – der zentrale politische Konflikt? Gibt es andere, neue Großkonflikte in unserer Gesellschaft, die den alten Gesellschaftskonflikt überlagern, verdrängen oder auch nur durchschneiden? Das ist keine unwesentliche Frage. Aus der Parteienforschung wissen wir, dass Parteien dann nachhaltig Erfolg haben, wenn sie sich mit ihrer Tradition, Programmatik und ihren Eliten glaubwürdig in einem Großkonflikt positionieren, ein Narrativ entwickeln, eine Vision projizieren und konkrete Lösungsansätze für die Konfliktlagen anbieten können.

Welches sind heute die prägenden Konfliktlinien in unserer Gesellschaft?

  • Erstens der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, Arm und Reich, also links und rechts. Dieser Konflikt prägt nach wie vor politische Präferenzen von erheblichen Teilen der Bevölkerung und bestimmt weiter unsere Wahlentscheidungen mit.
  • Zweitens der Konflikt zwischen Nationalisten und Supranationalisten; jenen, die Grenzen öffnen, und jenen, die sie schließen wollen; der Konflikt zwischen einem kosmopolitischen und einem kommunitaristischen Lager.
  • Drittens: die Klimafrage. Das eine Lager, in hohem Maße mit den kosmopolitischen Nationalstaatsverächtern identisch, hält sie nicht nur für zentral, sondern für eine Schicksalsfrage der Menschheit. Ihm steht ein Lager gegenüber, das die Klimafrage als nachrangig betrachtet oder gar deren Existenz leugnet.

Dies sind drei Großkonflikte, die in allen entwickelten Ländern schwelen: in Deutschland stärker als in den USA oder Großbritannien, in Dänemark mehr als in Frankreich oder Spanien.

Vieles spricht dafür, dass die Dynamik des öffentlichen Diskurses gegenwärtig vor allem von der Grenz- und Klimafrage getrieben wird. Vom Grenzkonflikt hat in Deutschland nach 2015 vor allem die AfD profitiert, in der Klimafrage beherrschen die Grünen die Debatte. Die beiden ehemaligen Volksparteien SPD und CDU/CSU sind die klaren Verliererinnen. Sie können in einem Diskurs, dessen Dynamik von den jeweiligen Polen bestimmt wird, nur wenig ausrichten. Gemäßigte Positionen, wie sie den Volksparteien eigen sind, können sich in Debatten, die sich durch Ausgrenzung, moralische Verurteilung und Polarisierung auszeichnen, nicht durchsetzen und bleiben blass und kaum sichtbar.

Volksparteien haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Zentrum des Parteiensystems breitgemacht, entweder Mitte-links oder Mitte-rechts. Der Maßstab war der Links-rechts-Konflikt. Im gewissen Sinne profitierten die Volksparteien von einer eindimensionalen Politik. Heute sind die Gesellschaftskonflikte komplexer. Statt nur einer Konfliktlinie prägen nun drei Konflikte die gesellschaftlichen Diskurse und die politische Wettbewerbsdynamik des Parteiensystems. Die Zukunft der (ehemaligen) Volksparteien wird auch davon abhängen, wo sie sich in den Konflikten glaubwürdig verorten können.

Wo positioniert sich die SPD entlang dieser Konfliktlinien und wie erfolgreich ist sie damit? Erstens: der Links-rechts-Verteilungskonflikt. In der Wirtschafts-, Fiskal- und Steuerpolitik positionierte sich die SPD in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu stark in der Mitte. Verführt vom neoklassischen Trickle-down-Paradigma, demzufolge Wachstum und Wohlstand der Reichen über die Zeit nach unten durchsickern würden, versuchte die SPD in der rot-grünen Koalition, die Märkte zu deregulieren, die Steuern für Reiche und Unternehmen zu senken und die Investoren von den steuerlichen und sozialen Zumutungen zu befreien. Das trickle down funktionierte aber nicht: Die Reichen wurden reicher, zum Teil obszön reicher, und die Armen wurden zwar nicht ärmer, aber zahlreicher. Die SPD hatte keine eigene Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Sie unterschied sich nur noch marginal von der Union, die ihren Marsch in das Zentrum des Parteiensystems fortsetzte und dort auch für linksliberale Aufsteiger der SPD wählbar wurde. Vor allem öffnete sie einen wirtschaftspolitischen Raum auf der Linken, der dann von der Linkspartei besetzt wurde. So wurden Entfremdungseffekte zu den Gewerkschaften sichtbar, die eigentlich unverzichtbare Partner der Sozialdemokratie sind.

In Zeiten zunehmender Ungleichheit und der Dominanz globalisierter Märkte muss die SPD eine neue Fiskal- und Wirtschaftspolitik finden, die sie von rein bürgerlichen Parteien abgrenzt. Die Steuerpolitik soll nicht nur verteilungsneutral Ressourcen für den Staat hervorbringen, sondern auch Umverteilungseffekte von oben nach unten produzieren. Zusätzlich muss ein neuer Keynesianismus für das 21. Jahrhundert her. Er darf nicht dem fiskalpolitischen Dogma der »schwarzen Null« geopfert werden. In der Achsenmechanik von Konfliktlinien muss die SPD stärker nach links rücken.

Zweitens: der Grenzkonflikt Kosmopoliten versus Kommunitaristen. Seit der Jahrtausendwende bildet sich ein neuer Konflikt in Europa heraus: zwischen gut gebildeten und gut situierten Bürger/innen auf der einen und den weniger gut Gebildeten und weniger gut Situierten auf der anderen Seite. Die Frage der Grenzen hat sich dabei zu einem polarisierenden Konflikt in unserer Gesellschaft vertieft. Die Grenzfrage ist übrigens umfassender, als sie im öffentlichen Diskurs debattiert wird. Ja, es geht um Geflüchtete, um Asylsuchende, um grenzüberschreitende Umweltverschmutzung und Freihandel. Aber es geht auch um die Frage, wer regiert. Die gewählten politischen Parteien und Politiker des Nationalstaats oder die weniger demokratisch legitimierten Akteure der EU, der WTO, des Weltklimarats, internationaler NGOs oder gar die globalisierten Märkte? Es geht um die Zukunft des Nationalstaats, um sein Überleben. Kosmopoliten sehen den Kosmos als Referenz, die Bürgerschaft ist nicht mehr primär an den Nationalstaat gebunden, der Status des Weltbürgers überlagert die anachronistisch werdende Staatsbürgerschaft. Menschen haben ein Immigrationsrecht qua Mensch- und Weltbürgersein und der Nationalstaat hat nur ein sehr beschränktes Recht, die Grenzen zu schließen – auch wenn die Mehrheit der Staatsbürger/innen dies wollte.

Demgegenüber stehen jene, die am Nationalstaat als Kern der Politik festhalten. Jene, die glauben, dass der Nationalstaat eine Zukunft hat und haben muss. Dahinter können die chauvinistischen Motive eines ordinären Nationalismus stehen. Die AfD bietet dafür ein suggestives Angebot – übrigens sehr wahlwirksam gegenüber der Arbeiterschaft. Dahinter kann aber auch die Überlegung stehen, dass nur ein starker Nationalstaat mit einer starken Identität einen starken Sozialstaat ermöglicht, der schließlich Teilen seiner Bürger/innen solidarische Umverteilungspflichten institutionell zumutet. Es ist naiv anzunehmen, dass eine ähnliche Sozialstaatlichkeit in einem supranationalen Raum oder auch nur in der heterogenen Europäischen Union aufgebaut werden kann.

In der Frage, wie weit man die Grenzen schließen oder öffnen soll, hat die SPD manche Oszillationen hingelegt. Letztendlich hat sie aber insbesondere im sichtbaren Diskurs für eine starke Öffnung plädiert: sowohl hinsichtlich der Migrationsfrage als auch hinsichtlich der europäischen Integration. Beides ist nicht unproblematisch für eine sozialdemokratische Partei, die vor allem die weniger Privilegierten und den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft repräsentieren will.

In der Migrationsfrage muss sie bedenken, dass die Hauptlast der Migration nicht die Privilegierten zu tragen haben, sondern die unteren Schichten. Dies gilt für den Arbeits-, Wohnungs- und Bildungsmarkt. Die Grenzen für Migrant/innen und Geflüchtete offenzulassen, mag normativ tadellos erscheinen; sich dann aber, wie noch stets in der Vergangenheit in Deutschland und Europa geschehen, völlig unzureichend um Integration und Chancengleichheit zu kümmern, ist wenig sozialdemokratisch. Es ist im Übrigen auch demokratietheoretisch nicht zu rechtfertigen. Zu rechtfertigen wäre aus der Demokratieperspektive, dass eine Gesellschaft mit der notwendigen Mehrheit und der Respektierung der internationalen Verträge selbst bestimmt, wie offen sie die Grenzen lassen will. Insofern ist eine Politik der restriktiven Zuwanderung und der intensiven Einbürgerung einer Politik demokratietheoretisch überlegen, die die Grenzen zwar weit öffnet, aber dann bei der Einbürgerung versagt. Hier muss die SPD den Zusammenhang zwischen Offenheit der Grenzen und Integrationsfähigkeit ernsthafter reflektieren, als wie sooft die Quadratur des Kreises zu versprechen und an der Realität zu scheitern.

Auch in der EU-Frage muss die SPD deutlicher werden. Erstens sollte die geistlose Frage, ob man für oder gegen die EU ist, mit all ihren moralisierenden Subtexten nicht stets wiederholt werden. Eine sozialdemokratische Position könnte lauten: Ja, natürlich bin ich für die europäische Integration. Aber vieles in der EU läuft schief. Ihr neoliberaler Projektcharakter muss reformiert und die Demokratiedefizite endlich abgebaut werden. Eine sich immer weiter ausdehnende EU vermindert die Chancen auf eine soziale und demokratische Union. Dies wird man als Sozialdemokrat sagen dürfen, ja, sogar sagen müssen.

Drittens: die Klimafrage auch sozial denken. Die Klimafrage ist zur Zuspitzung der Umweltfrage geworden. Was sie von der alten Umweltfrage unterscheidet, ist die Zeitachse. Die Aussagen, längst zum Mainstream der Medien und öffentlicher Diskurse geworden, klingen dramatisch: Es ist fünf Minuten vor zwölf, bisweilen auch schon fünf Minuten danach. Wer heute nicht handelt, versündigt sich an der Generation von morgen.

Keines der politischen Probleme wird gegenwärtig so unter Zeitdruck gestellt wie die Klimafrage. Der Klimawandel ist ein Faktum. Und er ist bedrohlich. Nahezu 99 % der wissenschaftlichen Klimaanalysen belegen das. Daran ist nicht zu zweifeln. Selbst dann nicht, wenn die Klimaforscher immer wieder die Grenze zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischem Aktivismus verwischen. Dass die Frage nun so stark alarmistisch und moralisch aufgeladen wurde, hat mindestens zwei Effekte: Zum einen beherrscht sie das gegenwärtige Agenda Setting in der Politik und führt zu hastig zusammengeschusterten Politikpaketen, die niemanden so richtig überzeugen. Deutschland und die gegenwärtige Große Koalition sind hier führend. Zum zweiten moralisiert es die Diskurse. All jene, die richtigerweise behaupten, dass die Klimafrage nicht das einzige Problem in der Politik sei, stehen schon unter dem Verdacht, die drohende Überflutung Bangladeschs oder wenigstens der Seychellen in Kauf zu nehmen. Hektische Antworten auf den Zeitdruck und das Moralverdikt tragen aber nicht zu einer rational abwägenden Politik bei.

Sich in der Klimafrage zu positionieren, ist für Sozialdemokraten schwierig. Die politische Kompetenz wird auf diesem Politikfeld nicht zu Unrecht hauptsächlich den Grünen zugeschrieben. Nur 7 % der Bürger/innen schreiben sie der sozialdemokratischen Umweltministerin Svenja Schulze zu. Das kann nicht so bleiben. Allerdings wäre es lächerlich anzunehmen, die SPD könnte die Grünen auf diesem Feld übertreffen. Auch wenn es in der gegenwärtigen Diskurslandschaft schwerfällt, müssen die Sozialdemokraten die ökologische mit der sozioökonomischen Frage verbinden. Dies bedeutet zum einen, dass eine Klimapolitik nicht allein, vermutlich nicht einmal primär durch eine Politik des Verzichts gelöst werden kann. Verbote und Verzicht gehören auch nicht zur Primärtradition der Sozialdemokratie. Verzicht steht aber gegenwärtig deshalb in einem so hohen öffentlichen Kurs, weil man durch deren Bejahung die eigene Moralität sichtbar ausdrücken kann. Individuelle und kollektive Moral fallen zusammen. Das ist einer der Gründe für den Hype der Grünen in den gegenwärtigen Umfragen. Zum anderen ist die Klimafrage auch eine Technologiefrage. Hier darf die SPD die Betonung der »moralfreien« Technologiechancen nicht vorrangig der FDP überlassen. Drittens muss die konkrete Klimapolitik auch unter sozialen Gesichtspunkten betrachtet werden. Dies gilt insbesondere für die Bepreisung des CO2-Ausstoßes. Es gilt also, Unterscheidungschancen in der Klimapolitik zu den Grünen und der FDP zu nutzen.

Rückkehr auf die Politbühne?

Ich habe mich auf die Politik der drei großen Gesellschaftskonflikte unserer Zeit beschränkt. Die SPD hat allerdings durchaus auch noch andere Probleme. Diese beziehen sich beispielsweise auf die Form der Partei. Glaubt sie, noch Volkspartei sein zu müssen, oder wagt sie den Sprung zu einer Brückenpartei zwischen Klassen und sozialmoralischen Milieus? Wie kann sie die Kluft zwischen der kosmopolitischen Dominanz in der Parteizentrale und den stark kommunitaristischen Positionen der Oberbürgermeister in den Ländern zu einer komplementären Stärke machen? Das wäre ein wichtiger Schritt. Ob man ihn als kommunitaristischen Kosmopolitismus oder kosmopolitischen Kommunitarismus bezeichnet, ist nebensächlich.

Nehmen wir zum Schluss, immer noch kontrafaktisch, an, dass die SPD die richtige Positionierung entlang der drei Konfliktlinien findet; dazu noch ein überzeugendes Narrativ und geeignete Problemlösungen liefert. Wird sie dann zu alter Größe, oder soll ich sagen »altem Glanz«, zurückkehren? Dafür spricht wenig. Kann sie in den Status einer Volkspartei zurückkehren? Auch das ist unwahrscheinlich. Als SPD-Wähler würde ich es mir wünschen. Als Politikwissenschaftler muss ich anerkennen, dass offensichtlich weder Strukturen noch Handlungen allein über das Schicksal einer Partei bestimmen. Wenn die SPD es schafft, die Strukturen der drei Konflikte zu beeinflussen, die geeigneten Entscheidungen zu ihren Problemlagen zu treffen, und dies mit einem überzeugenden Personal tut, dann wird sie auch wieder Wählerzuspruch oberhalb der 20-%-Marke finden. Dann würde sie von einer koalierten wieder zu einer koalierenden Partei. Sie wäre nicht mehr getrieben, sondern würde treiben. Sie könnte dann auch im 21. Jahrhundert wieder vom Objekt zum Subjekt der Politik werden.

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