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Die Grünen müssen sogar um ihre stabile Wählerbasis fürchten Abschied von der Volkspartei

Es war ein konfliktfreudiger Konservativer, der der gesellschaftlichen Breitenwirkung der Grünen gleichsam das Totenglöckchen läutete. Unter dem Titel »Das Ende der grünen Hegemonie« verkündete der Mainzer Publizist und Historiker Andreas Rödder Anfang 2024 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), das mit der Partei verbundene Versprechen der großen Transformation hin zu einer postfossilen Wirtschaft sei ebenso gescheitert wie der in ihrem Milieu verankerte Postkolonialismus und die von ihr propagierte Diversität. Ein Paradigmenwechsel der politischen Kultur bewirke, dass die von den Grünen in die Gesellschaft getragenen Gedanken nicht länger dominant seien.

Auch dem Thema, welche künftigen gesellschaftlichen Leitbilder nun folgen würden, widmete sich der Autor. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit und mit bereits erkennbarer Evidenz schwingt das Pendel nach der grünen Hegemonie nach rechts«. Man tut dem engagierten CDU-Mitglied Rödder wohl nicht unrecht, wenn man seine Thesen nicht nur als streng analytisch, sondern auch als interessegeleitet versteht nach dem Motto: Wer das Erkannte laut ausspricht, will die beobachtete Entwicklung verstärken, will in diesem Fall also weiter den Geltungsanspruch der mit den Grünen verbundenen Konzepte schmälern.

Denn mit grün-nahen gesellschaftspolitischen Praktiken wie etwa der Genderpolitik geht er schon seit Jahren hart ins Gericht. In einem Streitgespräch der Zeit widersprach ihm der Soziologe Armin Nassehi. Rödder irre, wenn er vorhersage, der Zeitgeist gehe nun nach rechts. Zudem würden die von dem Historiker genannten angeblich ausschließlich »grünen« Themen alle politischen Lager betreffen. »Die Gesellschaft hat in ihrer Breite Öffnung, Pluralisierung, Universalisierung gelernt«, meinte Nassehi: »Und alle Untersuchungen sagen, dass wir damit besser zurechtkommen, als es aussieht.« 

Der Strömungsabriss

Aber wie sieht es aus mit der empirischen Evidenz für die Thesen über den Abstieg der Grünen? Wo steht die Ökopartei nach zweieinhalb Jahren Regierungsbeteiligung im Bund? Gibt es tatsächlich einen harten Strömungsabriss zwischen der von Ricarda Lang und Omid Nouripour geführten Regierungspartei und der Mehrheitsgesellschaft? Und welche Folgen für die Zukunft der Partei und ihrer Politik könnten solche Veränderungen in der Haltung der Deutschen ihr gegenüber provozieren?

Die Europawahl Anfang Juni, bei der die Grünen im Vergleich zu ihrem Spitzenergebnis von vor fünf Jahren (20,5 Prozent) herbe Verluste hinnehmen mussten, scheint dem Historiker Recht zu geben. Laut den Daten der Wählerwanderung verloren die Grünen an das linke Lager, etwa an Kleinparteien wie Volt oder die Linke. Vor allem aber gingen mehr als eine halbe Million der Grün-Wählenden von 2019 nun nicht mehr wählen, rund ebenso viele machten ihr Kreuz bei der Union. Besonders bitter: Bei den jungen Wählerinnen und Wählern, zuvor noch eine zuverlässige Basis, erreichte die Partei nur noch elf Prozent und verlor im Vergleich zu 2019 23 Prozentpunkte (16- bis 24-Jährige laut Infratest dimap).

Das Meinungsklima der Mehrheit hat sich seit Beginn der Ampelkoalition in dramatischer Weise gegen die Grünen gedreht.

Schon zuvor hatten auch demoskopische Befunde nahegelegt, dass der Strömungsabriss von den Grünen zur Mehrheitsgesellschaft ein reales Phänomen sei. So kam etwa Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach im März 2024 zu dem Schluss, dass sich das Meinungsklima der Mehrheit seit Beginn der Ampelkoalition in dramatischer Weise gegen die Grünen gedreht habe. Keine andere Partei sei zu Beginn der Legislaturperiode mit vergleichbar hohen Erwartungen konfrontiert gewesen, schrieb die Demoskopin unter dem Titel »Welkende Grüne« ebenfalls in der FAZ. Nun würden sie als hauptverantwortlich für die unbefriedigende Bilanz der Ampelregierung gelten und mehr als ihre Koalitionspartner Enttäuschung und Frustration auf sich ziehen.

An einigen Zentraldaten versuchte Köcher zu belegen, wie sehr sich seit der Regierungsübernahme der Wind gedreht hat. So hätten vor fünf Jahren nur 25 Prozent der Bevölkerung erklärt, die Grünen würden ihnen kaum oder überhaupt nicht gefallen. Heute würden das 56 Prozent zu Protokoll geben. Noch in der Anfangsphase der Ampelkoalition waren demnach 67 Prozent der Befragten überzeugt, dass die Grünen künftig an Bedeutung gewinnen würden. Nun erwarteten das nur noch 24 Prozent.

Die Partei wird laut Köcher als Verbotspartei wahrgenommen, gilt inzwischen als ebenso bürger- wie wirtschaftsfern. Zudem sei jeder Zweite davon überzeugt, dass die Politik der Grünen den Wohlstand in Deutschland gefährde, und 40 Prozent, dass deren Politik ihnen persönlich Nachteile bringen werde. Und weiter: Die Überzeugung, dass die Grünen verstehen, was die Menschen in Deutschland bewegt, sei von 34 auf acht Prozent zurückgegangen.

»Sie sind im Wesentlichen wieder eine Klientelpartei für die oberen Bildungs- und Einkommensschichten.«

Ähnliche Befunde präsentieren auch andere Demoskopen. Die Grünen hätten mit ihren Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck zunächst den Weg hin zu einer auch in der Mitte der Gesellschaft akzeptierten Volkspartei eingeschlagen, doch seien sie heute davon »weit entfernt«, schrieb Forsa-Geschäftsführer Manfred Güllner im April 2024. Zu diesem Zeitpunkt ermittelte Forsa in seinem RTL/ntv-Trendbarometer mit 12 Prozent den niedrigsten Zustimungswert der Partei seit Juni 2018 – und lag damit nahe am Europawahlergebnis im Juni. Güllners Urteil: »Sie sind im Wesentlichen wieder das, was sie seit ihrer Gründung immer waren: Eine Klientelpartei für die oberen Bildungs- und Einkommensschichten im Dunstkreis des öffentlichen Dienstes, von Medien und von Bildungseinrichtungen in den urbanen Metropolen überwiegend im Westen der Republik.«

Viel spricht dafür, dass vor allem das Bekanntwerden des Gebäude-Energie-Gesetzes im Frühjahr 2023 einen Kipppunkt der öffentlichen Stimmung nicht nur der Ampel gegenüber, sondern vor allem den Grünen gegenüber markierte. Die Koalition konnte nicht verhindern, dass ihr Vorhaben, das für die versprochene Energiewende von zentraler Bedeutung ist, massive Ängste provozierte, von vielen als willkürlicher Eingriff in die Sphäre des privaten Eigentums und als grober Verstoß gegen Grundsätze sozialer Gerechtigkeit empfunden wurde.

»In Teilen regelrecht verhasst.«

Den für Empörung sorgenden Gesetzentwurf verantwortete mit Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck ironischerweise ein Vertreter der Grünen, der vor nicht allzu langer Zeit in etlichen Medien gleichsam als vorbildlich agierender Kommunikations-Guru der politischen Welt gefeiert worden war. Sogar die linke taz kam dann aber zu dem Schluss, dass die Grünen seit der massiven Kampagne gegen Habecks »Heizhammer« (so die Bild-Zeitung) »in Teilen des Landes regelrecht verhasst« seien.

Auch die Grünen selbst nehmen natürlich wahr, dass ihnen der Wind inzwischen ins Gesicht weht. »Es gibt in der Gesellschaft gerade eine große Krisenmüdigkeit, das ist auch absolut nachvollziehbar«, antwortete Co-Parteichefin Ricarda Lang Anfang 2024 auf die Frage, warum ausgerechnet ihre Partei so sehr zum Feindbild avanciert sei. Aus der Krisenmüdigkeit entstehe bei manchen ein »Veränderungsfrust«, so Lang, »und da gibt es den Versuch, das allein auf die Grünen zu projizieren«. Ihrer Meinung nach natürlich zu Unrecht. Die Co-Parteichefin gab zu bedenken: »Als ob alles bleiben könnte, wie es ist, wenn nur die Grünen nicht wären.«

Hubert Kleinert, grüner Realpolitiker der ersten Stunde und heute Politikprofessor, kam in einem Interview mit der Welt im April zu dem Schluss: »Ich denke auch, dass die Dominanz des grünen Zeitgeists gerade zu Ende geht.« Eine Mehrheit macht heute vor allem die Grünen verantwortlich für das miserable Bild der Ampelregierung, sie werden auch als die dominierende Kraft in dieser Koalition wahrgenommen. Ihre Umfragewerte aber blieben bis zur Europawahl relativ stabil, bei der sie ihre Stammwählerschaft dann nur noch unzureichend mobilisieren konnten.

Der Kern ist kleiner geworden

Das missionarische Bekenntnis zum eigenen Programm schweißte den Kern der grünen Wählerschaft lange zusammen. »Der Kreis, der den Grünen positiv gegenübersteht, ist kleiner geworden; aber dieser Kreis ist heute noch mehr von ihnen überzeugt als früher«, hatte Renate Köcher vor der Europawahl geurteilt. Deren Ergebnis aber säte dann Zweifel an ihrem Befund. Denn die ökologische Programmpartei musste in der Regierung natürlich Kompromisse schließen, welche einen Teil der eigenen Anhänger verprellen. Mit den Worten von Hubert Kleinert: »Regieren bedeutet immer eine gewisse Entzauberung.«

Habecks Gebäude-Energie-Gesetz wurde und wird von einer Mehrheit der Bevölkerung als Zumutung empfunden, ging und geht aber Umwelt- und Klimaverbänden nicht weit genug. Familienministerin Lisa Paus wurde und wird mit ihrem Plan für eine milliardenschwere Kindergrundsicherung von FDP-Finanzminister Christian Lindner brutal ausgebremst. Außenministerin Annalena Baer­bock schockierte große Teile der eigenen Partei mit ihrer Bereitschaft, Euro-Fighter nach Saudi-Arabien zu liefern. Und Agrarminister Cem Özdemir agiert in seinem Ressort so vorsichtig, dass der Zeit-Journalist Bernd Ulrich zu dem Schluss kam, sogar die Politik seiner CDU-Vorgängerin Julia Klöckner sei unter ökologischen Kriterien effektiver gewesen als die des grünen Nachfolgers.

»Es dürfte eine anspruchsvolle Aufgabe sein, wieder belastbare Brücken in Milieus jenseits des eigenen Lagers zu bauen.«

Die Fokussierung der Grünen auf ihre Kernwählerschaft bedeutet aber zugleich, dass die Chance, über das eigene Milieu hinaus neue Wählerschichten an sich zu binden, geringer geworden ist. Die Konzentration auf »klassische grüne Ziele«, der Einsatz für sie, stabilisiere den Kern der Anhängerschaft, führe aber zu einer »Entfremdung von der großen Mehrheit«, konstatiert Demoskopin Renate Köcher. Spätestens wenn es darum geht, eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten zu wählen, werden die Grünen deshalb die Frage beantworten müssen, ob ihr Traum von der Volkspartei ausgeträumt ist und ihr Anspruch aufs Kanzleramt noch als realistisch angesehen wird. Denn angesichts der Kehrtwende der öffentlichen Meinung ihr gegenüber dürfte es für die Partei eine anspruchsvolle Aufgabe sein, wieder belastbare Brücken in Milieus jenseits des eigenen Lagers zu bauen.

Prominente Grüne forderten nach dem Absturz bei der Europawahl jedenfalls schon Konsequenzen. »Klar ist, dass wir eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten nur aufstellen, wenn eine realistische Chance auf einen Wahlsieg besteht«, erklärte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter. Und weiter: Nach dem Europawahl-Ergebnis müsse man »sich genau überlegen, ob das der Fall ist«.

Hubert Kleinert, früher ein Mitstreiter und Vertrauter des Realpolitikers Joschka Fischer, erwartet, dass die Entzauberung der Grünen in weiten Teilen der öffentlichen Meinung auch ihre Regierungschancen nach der Bundestagswahl 2025 minimiert. Gefragt, ob seine Partei einen »Realitätsturbo« einlegen könne und dann als Juniorpartner für einen möglichen Kanzler der Union attraktiv werden könne, sagte er: »Ausschließen will ich das nicht, aber ich halte es derzeit eher für unwahrscheinlich. Dazu hängt die Partei zu sehr in Weltbildern fest, deren gesellschaftliche Tragkraft nachlässt.« Sehr weit entfernt von der Diagnose des konservativen Historikers Andreas Rödder war das nicht.

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