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Die Ausforschung der SPD-Spitze in den 50er Jahren Adenauers Spione

Der Zeithistoriker Klaus-Dietmar Henke hat in seinem aktuellen Buch Geheime Dienste neue Erkenntnisse zur Inlandsspionage des Bundesnachrichtendienstes (BND) in der Ära Adenauer zusammengetragen, darunter ein für die Sozialdemokratie besonders brisantes Kapitel: die von 1953 bis 1962 laufende Aktion der »Organisation Gehlen« beziehungsweise des BND zur systematischen Ausforschung des SPD-Parteivorstands. Neben dem Bundeskanzler, seinem Kanzleramtschef Hans Globke und BND-Präsident Reinhard Gehlen waren nur sehr wenige Menschen an der Ausspähoperation beteiligt – und zwei von ihnen waren Sozialdemokraten.

Dass Adenauer den Auslandsgeheimdienst heranzog, um seinen innenpolitischen Hauptgegner SPD zu observieren, war bereits bekannt: Schon 2017 berichtete der Spiegel, der Kanzler habe im Verbund mit Globke und Gehlen den gemeinsamen »Feind« ausspionieren lassen und sich dabei vor allem auf den aufstrebenden Willy Brandt kapriziert. In demselben Jahr veröffentlichte Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung einen Beitrag zur Nachkriegskarriere des einstigen Generalmajors Gehlen, nachdem ihm ein Mikrofilm mit Dokumenten aus dessen privatem Nachlass zugespielt worden war. Unter den mehr als 100.000 Blatt fanden sich auch Belege für die Bespitzelung Brandts in seiner Zeit als Außenminister der Großen Koalition.

Neun Jahre Ausspähung

Was Henke als Mitglied der 2011 vom BND eingesetzten Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des bundesdeutschen Auslandsgeheimdienstes nun herausgefunden hat, geht viel weiter ins Detail als die Enthüllungen von Spiegel und SZ. Durch den Abgleich von erstmals einsehbaren BND-Akten mit bereits bekannten Dokumenten aus dem Nachlass Hans Globkes konnte der Historiker das enorme Ausmaß, die genaue Vorgehensweise, die frappierende Systematik und die Akteurskonstellation jener Ausspähaktion der Jahre 1953 bis 1962 minutiös rekonstruieren. Dazu zählt auch die bittere Erkenntnis, dass die operative Zuständigkeit bei zwei Sozialdemokraten lag: dem hauptamtlichen BND-Mitarbeiter Siegfried Ziegler und dem beim SPD-Parteivorstand für Sicherheitsfragen und Protokollführung verantwortlichen Siegfried Ortloff.

Binnen neun Jahren gelangten nahezu 500 Berichte Ortloffs über Sitzungen des SPD-Parteivorstands auf den Schreibtisch Globkes und von dort zu Adenauer, der gleichsam »in Echtzeit« (Henke) über sämtliche Diskussionen in der im Volksmund sogenannten »Baracke«, der ersten SPD-Zentrale in Bonn, informiert wurde. Ob es um die in der SPD hochumstrittenen Themen Westbindung und Wiederbewaffnung oder um geeignete Strategien in Bundestagsdebatten und Wahlkämpfen ging, ob um Machtkämpfe innerhalb der Parteispitze oder den Gesundheitszustand der Vorstandsmitglieder – Adenauer war oft schon tags darauf genau im Bilde. Mehrfach brüstete sich der Kanzler in CDU-Vorstandssitzungen damit, »auf krummen Wegen« an sozialdemokratische Interna gelangt zu sein.

Mit diesem »Schurkenstück« (Henke) verschaffte er sich einen unschätzbaren Wissens- und Handlungsvorsprung im Kampf gegen die SPD, der es trotz enormer Modernisierungs- und Reformanstrengungen Ende der 50er Jahre vorerst nicht gelang, aus dem »30-Prozent-Turm« heraus und in die ersehnte Regierungsverantwortung zu kommen.

Abseits der Tatsache, dass die Troika Adenauer-Globke-Gehlen hier über Jahre hinweg systematischen Rechtsbruch betrieb und ihnen im Kampf gegen die SPD offenbar jedes Mittel recht war – ein Faktum, zu dem sich die aktuelle CDU-Führung bislang nicht verhalten hat, dies aber sicher bald nachholen wird –, sind drei Dimensionen jenes facettenreichen »deutschen Watergate« mit Blick auf die SPD von besonderem Interesse: die aktive und hochmotivierte Beteiligung zweier Sozialdemokraten an der Bespitzelung ihrer eigenen Parteiführung, die durch die BND-Berichte noch schärfer gezeichneten Machtkämpfe zwischen »Traditionalisten« und »Reformern« innerhalb der SPD-Spitze und schließlich auch die langjährige Fehde zwischen der Partei und Hans Globke.

Die zwei Siegfrieds

Der promovierte Historiker Siegfried Ziegler, Jahrgang 1902, war »als SPD-Mitglied so etwas wie ein weißer Rabe« in der Pullacher BND-Zentrale, so Henke. Während des Krieges hatte der polyglotte Esperantist für die Abwehr gearbeitet, sich aber nie mit der NS-Ideologie identifiziert. Unter dem Decknamen »Dr. König« arbeitete er seit 1948 nebenamtlich, ab 1951 dann hauptamtlich für die Organisation Gehlen. Er war es, der seinen Parteifreund Siegfried Ortloff 1953 als Informant zur Ausspähung des SPD-Vorstands anwarb.

Ortloff, geboren 1915, hatte Mitte der 30er Jahre wegen seiner Widerstandstätigkeit für die SAJ zwei Jahre in Jugendhaft gesessen und war danach über Prag weiter nach Schweden geflohen. Erich Ollenhauer holte ihn 1946 nach Hannover ins »Büro Schumacher«. Seither arbeitete er für den SPD-Parteivorstand (PV), wo er für Sicherheitsdienste und Kommunismusabwehr zuständig war. Über Ortloffs guten Draht nach Pullach wusste man in der »Baracke« Bescheid, aber selbst als Gerüchte aufkamen, ein »Maulwurf« steche Interna des PV an die CDU durch, geriet der Referent nicht in Verdacht.

Über die Motive der beiden Siegfrieds kann Klaus-Dietmar Henke nur mutmaßen. Bei Ziegler, dessen SPD-Mitgliedschaft bis auf ein zweijähriges Intermezzo im bayerischen Landtag eine vorwiegend passive war, scheinen Karrierestreben und Profilierungssucht die zentralen Antriebskräfte gewesen zu sein. Er stieg auf im BND, wurde später aber zwecks Vertuschung der Aktion erbarmungslos ausgebootet. Bei Ortloff, einem ausgewiesenen NS-Gegner, Parteilinken und engen Mitarbeiter des SPD-Parteivorstands, gibt die Frage nach den Beweggründen größere Rätsel auf. Als loyaler Vertrauter der um ihre Macht bangenden »Traditionalisten« aus dem einstigen Exil-Vorstand stand er den aufstrebenden »Reformern« äußerst kritisch gegenüber. Zu Fritz Erler pflegte er ein gutes Verhältnis, den Aufstieg des Ex-Kommunisten Herbert Wehner beobachtete er dagegen mit großem Misstrauen – und das verband ihn mit den Kommunistenhassern in Pullach und im Palais Schaumburg.

Dass er mit seinem kontinuierlichen Geheimnisverrat der eigenen Partei großen Schaden zufügte, scheint Ortloff nicht von der jahrelangen Bespitzelung abgehalten zu haben. Belege über eine finanzielle Entlohnung durch den BND konnte Henke in den Akten nicht finden. 1960 wechselte »Otto« dann auch offiziell von der »Baracke« zum BND. Ortloffs Söhne, konfrontiert mit der doppelgesichtigen Vergangenheit des Vaters, zeigten sich in Reaktion auf Henkes Enthüllungen ahnungs- und fassungslos. Hier sind weitere Forschungen angezeigt, wie auch zu einigen anderen schillernden bis ambivalenten sozialdemokratischen Funktionärsbiografien zwischen NS- und Nachkriegszeit.

Misstrauen und Animositäten

Wie heftig in der SPD in den 50er Jahren um Programm- und Organisationsreformen, um den außenpolitischen Kurs und die innerparteiliche Macht gerungen wurde, ist hinlänglich bekannt. Dass Herbert Wehner auch von Teilen der Parteiführung misstrauisch beäugt wurde – ob seiner Vergangenheit oder seines Machtstrebens –, dass Ollenhauer vielen als zu profillos, Carlo Schmid als zu bildungsbürgerlich und Willy Brandt als zu »westbindungsaffin« galt, wissen wir ebenso. Dank Siegfried Ortloff, der neben den offiziellen SPD-Vorstandsprotokollen auch die viel ausführlicheren Berichte für den BND erstellte, erfährt man nun noch weitaus mehr über die »bitteren persönlichen Gegensätze und innerparteilichen Dramen«, so Henke, die der »Häutungsversuch« der reformbedürftigen SPD mit sich brachte.

Vor dem Hintergrund der Berlin-Krise 1958 war es vor allem Willy Brandt, dessen wachsende Popularität als klar westorientierter Regierender Bürgermeister der »Frontstadt« für Unruhe im SPD-Establishment sorgte. Mit den Bremer und Hamburger Amtskollegen Wilhelm Kaisen und Max Brauer besaß Brandt längst wichtige Fürsprecher in der Partei, und auch Fritz Erler unterstützte ihn – aber einige von Ortloffs Aufzeichnungen zeigen doch, »wie sehr Brandt noch alleine stand«. War er bei PV-Sitzungen einmal verhindert, äußerten sich die Anwesenden ausnehmend kritisch über seine außenpolitischen Alleingänge und unübersehbaren Schnittmengen mit Adenauers prowestlichem Kurs.

Nachdem sich Brandt im März 1959 – anders als Ollenhauer – geweigert hatte, Nikita Chruschtschow zu treffen, äußerte Wehner, Brandt sei »von seinen persönlichen Erfolgen derart berauscht, dass er die reale Lage Berlins nicht mehr klar erkenne«. Offenbar spekuliere er bereits auf einen »Verlust Berlins«, um dann »in die Bundespolitik in großem Stile einzusteigen«. Wehners Vorstandskollegen pflichteten ihm bei und mokierten sich über die Begeisterungsstürme von Genossinnen, die Brandt nach der Rückkehr von seiner PR-trächtigen Weltreise »in der gleichen hysterischen Weise zugejubelt« hätten »wie dies seinerzeit die Deutschen mit Hitler« taten.

Kurz vor Wehners berühmter Bundestagsrede vom 30. Juni 1960, mit der sich die SPD in einem spektakulären Kurswechsel zur Westbindung und Wiederbewaffnung bekannte, hieß es in einer Sitzung des Parteipräsidiums – Brandt nahm nicht teil –, dass die »Verhärtung des Verhältnisses Adenauer-Brandt« zu begrüßen sei, »da sie Brandts Selbständigkeit gegenüber der SPD einschränke«. Im offiziellen Protokoll fand Henke keinen Hinweis auf solche Lästereien.

Intimfeind Globke

Hans Globke und Reinhard Gehlen waren in ihrem Kampf gegen alles, was als »links« galt, Brüder im Geiste und in der Tat. Sie standen nicht nur weiter rechts als der konservative Adenauer, sondern mindestens auch in einer weltanschaulichen Teil-Kontinuität zu ihrem vorherigen Leben im Dienst des NS-Staates. Was bei Henke jedoch nur angedeutet wird: Globkes Feldzug gegen die Sozialdemokratie war nicht allein ideologisch begründet, sondern wurde zusätzlich durch ein konkretes Rachebedürfnis genährt. Denn seit sich der Verwaltungsjurist und einstige Kommentator der Nürnberger NS-Rassegesetze in den späten 40er Jahren angeschickt hatte, seine Karriere nahtlos in die Demokratie zu überführen, legten ihm die Sozialdemokraten Steine in den Weg.

In Trier verhinderte die SPD 1948 seine Wahl zum CDU-Bürgermeister, in Nordrhein-Westfalen weigerte sich der sozialdemokratische Innenminister Walter Menzel, ihn zu seinem Stellvertreter zu machen. Als Globke 1950 zum Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt ernannt werden sollte, erklärte Adolf Arndt, »Kronjurist« der SPD und scharfer Kritiker der adenauerschen »Vergangenheitspolitik«, es sei unverantwortlich, hohe Staatsämter mit Personen zu besetzen, »die in aller Welt Augen geradezu als die Repräsentanten der braunen Vergangenheit erscheinen«.

Globkes Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen sei nichts anderes als Ausdruck einer »juristischen Prostitution«. Im Jahr darauf bezeichnete Arndt das Kanzleramt als »Bundessicherheitshauptamt«. Ein Jahrzehnt später, auf dem Höhepunkt der von der Union geführten Diffamierungskampagnen gegen »Brandt alias Frahm« forderte die SPD im Verbund mit der FDP erneut den Rücktritt Globkes, nachdem er in einem Fernsehinterview erklärt hatte, ohne sein Zutun wäre das NS-Namensänderungsgesetz für Juden weitaus schärfer formuliert worden. Gründe für einen persönlichen Feldzug gegen die SPD-Spitze gab es für Globke also zuhauf.

Auswirkungen auf die künftige Forschung

1962, ein Jahr vor dem Ende der Kanzlerschaft Adenauers, endete diese spezielle Ausspähaktion gegen den SPD-Parteivorstand. Die Ausforschung des »Feindes« nahm damit aber kein Ende. Als Willy Brandt nach seiner Wahl zum Kanzler 1969 die Neue Ostpolitik aufs Gleis setzte, initiierten der CSU-Abgeordnete Karl Theodor zu Guttenberg und der in Pullach beschäftigte Christdemokrat Hans Christoph von Stauffenberg im Verbund mit Globke und BND-Mann Wolfgang Langkau einen unionsinternen Nachrichtendienst, über den hochrangige Parteifreunde bis zum Regierungswechsel von 1982 regelmäßig über SPD-Interna informiert wurden – ein Kapitel, das die Historikerin Stefanie Waske bereits 2013 in ihrem Buch Nach Lektüre vernichten! Der geheime Nachrichtendienst von CDU und CSU im Kalten Krieg aufgearbeitet hat.

Klaus-Dietmar Henkes neue Forschungsergebnisse werfen nicht nur ein grelles Licht auf das autoritäre, obrigkeitsstaatliche Demokratieverständnis Adenauers, seines Kanzleramtschefs und des BND-Präsidenten sowie auf die Beständigkeit von Seilschaften und Feindbildern aus der Zeit des »Dritten Reiches«. Sie schärfen zugleich den Blick für die vielfältigen persönlichen Konflikte und Verwerfungen, die das politische Klima der postnationalsozialistischen Gesellschaft in der jungen Bundesrepublik vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und geheimdienstlicher Aktivitäten prägten – auch in der Sozialdemokratie. Deren Entwicklung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten war – dies zeigen Henkes Erkenntnisse – mehr als bisher angenommen vom eigenmächtigen Handeln Einzelner und von persönlichen Animositäten geprägt, ob innerhalb der Parteiführung oder im Konkurrenzverhältnis mit der Adenauer-CDU.

Nicht nur der Fall der beiden Siegfrieds, auch einige andere von Henke angeführte Beispiele von Geheimnisverrat und Doppelgleisigkeit im Umfeld der SPD legen nahe, auf dem Feld der seit einigen Jahren recht eingerosteten Parteigeschichtsschreibung zukünftig etwas mehr »out of the box« zu denken, auch was die Auswahl der Quellen betrifft. So schwer der Verrat Ortloffs an der eigenen Partei auch wiegt und zu erklären ist, so wertvoll sind seine fragwürdigen Hinterlassenschaften für die heutige historische Forschung.

Klaus-Dietmar Henke: Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage des BND in der Ära Adenauer. Zwei Bände, Ch. Links, Berlin 2022, 1.464 S., 98 €.

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