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Überlegungen zum Zusammenwachsen der Theaterlandschaften aus Ost und West nach 1989 Ästhetik oder Politik?

Während die Vereinigung der deutschen Staaten in vielen Bereichen mit argen Geburtswehen vor sich ging, stellte sich das Zusammenwachsen der beiden Theaterlandschaften auf den ersten Blick als relativ geräuschlos dar.

Das künstlerische Niveau der ostdeutschen Stadttheater war bereits in der alten Bundesrepublik anerkannt, vielleicht sogar etwas idealisiert, ein großer Unterschied im Vergleich zum Ansehen der Politik und Wirtschaft der DDR. Nach der friedlichen Revolution wurden zunächst fast alle Theaterleitungen ausgetauscht – oft unter aktiver basisdemokratischer Mitwirkung der Belegschaft – und im Zuge der Erneuerung kamen gleichermaßen Männer mit Ost- und Westerfahrungen zum Zuge, lediglich das Kleist-Forum in Frankfurt/Oder wurde mit Marie-Luise Preus als weibliche Spitze besetzt. Zudem konnten Gewerkschaften und Deutscher Bühnenverein – mit einigen Volten wie der Gründung neuer Ansprechpartnerverbände auf Ostseite und Protesten zur Verbesserung des Ergebnisses – das West-Tarifgefüge nahezu 1:1 auf den Osten übertragen. Lediglich bei den Trägerschaften und Fusionen wurden Sonderwege gegangen, weil die neuen Bundesländer und auch der Bund sich deutlich stärker in den Häusern engagierten, als dies in den alten Bundesländern üblich war. Hintergrund war vor allem die schlechte finanzielle Ausgangslage der Kommunen, die sich aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und der damit einhergehenden steigenden Sozialkosten ergab. Ein Ergebnis davon sind die zahlreichen Theaterfusionen. Die ostdeutschen Theater übernahmen mit Eigenbetrieben und GmbHs zudem moderne Verwaltungsformen mit einer höheren Autonomie als der klassische westdeutsche Regiebetrieb. Dies alles ist ausführlich im Dossier »Zukunft erproben. Theater in Ostdeutschland: Impulse für eine gesellschaftspolitische Debatte« der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2023 nachzulesen.

Clash der Theaterkulturen

Natürlich gab es auch »Stolpersteine«: Berichte von Problemen zwischen ostdeutschen und westdeutschen Schauspielern in gemeinsamen Ensembles finden sich gerade aus Anfangszeit zuhauf und lassen auf ein gegenseitiges Unverständnis schließen. Vielbesprochenes Beispiel für diesen Clash war das Berliner Ensemble mit seinen Vierer-Direktorium, bestehend aus Heiner Müller, Claus Peymann, Peter Palitzsch und Fritz Marquardt, das in kürzester Zeit implodierte. Auch die Erinnerungen des Chefdramaturgen des Deutschen Theaters, Michael Eberths, 2015 unter dem Titel Einheit erschienen, sprechen Bände. Er fühlte sich von der Ost-Riege im Haus geradezu sabotiert.

Wie kam es zu diesem gegenseitigen Unverständnis, obwohl man doch in den Stadttheatern auf den gleichen Kanon zurückgriff? Um dies besser zu verstehen, lohnt es sich, kurz die unterschiedlichen Rezeptionen zur künstlerischen Kernaufgabe des Theaters anzuschauen, und der Frage nach der gesellschaftlichen Aufgabe von Theater nachzugehen.

»In der DDR hatte das Theater grundsätzlich einen gesellschaftlichen Auftrag.«

In der DDR waren diese grundsätzlich mit einem umfänglichen gesellschaftlichen Auftrag ausgestattet. Dies zeigt sich nicht nur an der hohen Dichte von Kinder- und Jugendtheatern, die ja auch einen klaren Erziehungsauftrag hatten, sondern die Theaterschaffenden insgesamt fühlten sich der Aufgabe, über das Theater, die Gesellschaft mitzugestalten, sehr verbunden. Im Herbst 1989 wurde dieser Gestaltungswille sehr konkret, als viele Theaterhäuser Räume und Ressourcen für den Protest bereitstellten und teilweise, wie bei der großen Demonstration am 4. November 1989 in Berlin, an der Spitze der Bewegung standen. Sie emanzipierten sich von der SED, ohne aber den Impetus der Gesellschaftsveränderung durch Theater aufzugeben.

Das Theater als Proberaum für Utopien

1990 setzte eine große Ernüchterung ein. Nicht nur drückten jetzt neue, unbekannte Finanzierungsängste, auch das Publikum blieb zunächst in Scharen weg. Dies sorgte für eine ausführliche Selbstreflexion der Theaterschaffenden rund um die Frage, wie denn ein Theater für diese neue Zeit aussehen könnte. Dabei wurden westliche Modelle nicht einfach kopiert, sondern die Akteure versuchten vielmehr, ihre grundsätzlichen Überzeugungen in die neue Zeit zu übersetzen. Der erste Schritt war eine kritische Neubewertung der eigenen Arbeit in der DDR. Mit dem »Zwischen-den-Zeilen-Sprechen« und dem Theater als »Medienersatz«, so die einhellige Stimmung, müsste daher Schluss sein. Die Theaterschaffenden suchten neue Inhalte in hoher künstlerischer Qualität, mit denen das Publikum etwas anfangen konnte.

Sehr schnell kam die Idee der »Lebenshilfe« auf, die das Theater leisten müsse, um Leuchtturm und Richtschnur in dieser unübersichtlichen Zeit zu sein. Damit verortete sich das Theater im konkreten Territorium, der Region als Institution mit dem klaren Auftrag, Lebenshilfe, Bildung und niveauvolle Unterhaltung – idealerweise miteinander verbunden – an die Leute zu bringen. Theater sollte in diesem Vorstellungsfeld vor allem eine soziale Praxis mit hohem künstlerischen Anspruch sein. Es galt der Brechtsche Leitspruch: »Ändere die Welt, sie braucht es.«

Der zeitweilige Rückzug ins Theater als utopisches Moment.

Die ostdeutschen Theatermacher halten in diesen Überlegungen vor allem am utopischen Moment als Kern des Theaters fest. Das Theater wird, ganz im Sinne von Ernst Bloch, zum Proberaum für Utopien. Die bessere Welt, die in der Utopie aufscheint, gilt es, wenn schon nicht zu erreichen, doch wenigstens zu formulieren als motivierende Vision. Ausgehend von der Gegenwart kann das Theater in seinen Räumen Alternativen und neue Gedanken aufnehmen und buchstäblich durchspielen, um so auch Ideen für das Leben außerhalb des Theaterraums zu generieren. So finden sich in den Stücken von Fritz Kater, dem Autorenpseudonym von Regisseur Armin Petras, Charles Bukowski oder Christian Martin in den 90er Jahren immer Szenarien, die sich klar in der zeitgenössischen Umbruchssituation verorten. Jüngere Autoren wie Dirk Laucke nehmen diese Traditionslinie auf und schreiben sie fort. Das utopische Moment ist hier der zeitweilige Rückzug ins Theater, um dort gleichermaßen im Sandkasten die Gegenwart mit neuen Augen zu betrachten und das Publikum mit neuen Ideen und neuer Energie zu entlassen.

In den führenden westlichen Theaterhäusern war solche Euphorie, samt dem Glauben an die eigene gesellschaftliche Wirksamkeit, längst vergangen. Blättert man durch die Äußerungen – etwa in dem Sammelband »Warum wir das Theater brauchen« von 1995, das Ergebnis einer Artikelreihe in der Frankfurter Rundschau – , so lässt sich eine große Krisenhaftigkeit feststellen, in der Theater nicht mehr politisch handelnder Akteur ist, sondern Rückzugsraum. Hier kann man sich von den Zumutungen der Gegenwart erholen und durch die Evasion in die Utopie allenfalls Kraft tanken, um dem Alltag erfrischt, aber nicht erneuert entgegen zu treten. Geschult an poststrukturalistischen Theorien und systemtheoretischen Ansätzen erteilt die enttäuschte Generation der 68er-Bewegung in resignativen und mitunter offenen Zynismus der gesellschaftlichen Erneuerung durch das Theater eine klare Absage.

Ebenso aber auch der reinen Unterhaltung, stattdessen sympathisieren sie mit einer selbstbezüglichen l’art pour l’art. Autoren wie Peter Handke oder Botho Strauß schrieben zu jener Zeit für solche dominierenden Strömungen. Gleichwohl standen auch in der alten Bundesrepublik Figuren wie Franz Xaver Kroetz für ein bodenständiges, am Volkstheater geschultes Drama, das sehr wohl die Gegenwart mit ganz eigenen ironischen Humor in den Blick nimmt. Solche Positionen waren zu Beginn der 90er Jahre aber nicht dominierend in Diskurs und Praxis des westdeutschen Theaters. Mit Elfriede Jelinek, die zu jener Zeit ihren Siegeszug auf deutschen Bühnen antrat, kam zudem eine Perspektive ins Spiel, die das reine Sprachspiel wieder mit politischen Konnotierungen durchdringt.

Theater im Osten und das gesamtdeutsche Feuilleton

Tatsächlich waren die Vorstellungen der Theatermachenden aus der ehemaligen DDR immer noch anschlussfähig im westdeutschen Diskurs und seiner spezifischen Tradition von politischem Theater. Im gesamtdeutschen Panorama wurden solche Positionen durch die Aufnahme der ostdeutschen Bühnen nun zunehmend sagbarer – allen voran durch die neue Präsenz der prominenten Theaterhäuser im Osten im gesamtdeutschen Feuilleton.

Hier stehen besonders zwei Institutionen für den Neuaufbruch. Da wäre zum einen die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter der 1992 beginnenden Intendanz von Frank Castorf zu nennen. Er versammelt an der Volksbühne mit Christoph Schlingesief, Christoph Marthaler, Martin Wuttke, Sophie Rois, Katrin Angerer, Henry Hübchen und vielen anderen ein Team, das in seiner Ost-West-Herkunft sehr divers, gleich wohl auf Schaupielseite eine gewisse Ost-Dominanz erkennbar ist. Schlingensief kommt aus Nordrhein-Westfalen und Marthaler, der nicht exklusiv für die Berliner arbeitet, ist gar Schweizer. Gleichwohl lassen sie sich bereitwillig unter das Label des neuen Ost-Aufbruchs subsumieren. Das andere Haus wäre die Baracke am Deutschen Theater unter der Intendanz von Thomas Langhoff und Chefdramaturg Michael Eberth. Die Leitung der neu gegründeten Spielstätte wird Thomas Ostermeier 1996 übertragen, ein junger Regisseur westdeutscher Herkunft und 1991 Absolvent der (Ost-)Berliner Ernst-Busch-Hochschule. Seine Baracke steht für ein gesellschaftlich relevantes Theater aus einer ganz anderen Richtung, aber eben auch an einem ostdeutschen Haus. Ostermeiers Team favorisiert die neue englische Dramatik mit ihren drastischen Stücken und fordert programmatisch einen neuen Realismus. 1999 übernehmen sie die prestigeträchtige Schaubühne am Lehniner Platz.

Zusammenführung der Theatertraditionen

Das vereinte Deutschland führt somit die beiden 40 Jahre getrennte Theatertraditionen wieder zusammen. Das Ergebnis ist eine Repolitisierung der Spielpläne, wo gesellschaftliche Themen wie der erstarkende Rechtsradikalismus oder auch die hohe Arbeitslosigkeit verhandelt werden. Der Beitritt der DDR und ihrer Theaterschaffenden zur Bundesrepublik revolutioniert dabei weniger den Diskurs, sondern stärkt Positionen, die eine solche gesellschaftliche Relevanz für das Theater einfordern. Das Ergebnis ist ein gesamtdeutsches Diskursamalgam, dass sich in dieser gleichberechtigten Form in wahrscheinlich keinem anderen Bereich finden lässt. Die neue Generation von Theatermachenden hat damit ein breiteres Ausdrucksfeld zur Verfügung als zuvor, zumal nun auch Formen des postdramatischen Theaters und der Performance ihren Weg aus der freien Szene auf die Stadttheaterbühnen finden. Bei denen spielen Fragen von Ost und West keine Rolle mehr.

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