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© Foto: picture alliance /Westend61 | Christophe Papke.

Die Offenheit der Parteienlandschaft seit den Frühjahrswahlen Ahnung des Neuen

Populäre Regierende schlagen unbekannte, schwache Herausforderer: Das war die einfache, oberflächliche Botschaft der regionalen Frühjahrswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. In den Wochen danach zeigt sich aber auch, dass sich etwas Grundlegendes zu ändern beginnt. Nach zwei massiven Niederlagen steht seit März die Zukunft der CDU zur Debatte. Das Undenkbare ist denkbar geworden: eine Bundesregierung ohne sie.

Ob es eine reale Chance dafür gibt, ist noch lange nicht klar. Aber die Debatten in der Union zeigen doch, wie tief dort die Verunsicherung reicht. Da ist plötzlich von personeller Schwäche die Rede, von notwendiger programmatischer Erneuerung, von Mangel an Profil. Es sind floskelhafte Reaktionen, die man von anderswo kennt, immer dann, wenn nach Wahlniederlagen Ratlosigkeit einzieht. Und die üblichen Reflexe werden angekündigt, schon als gehe es um eine Oppositionsstrategie: klare programmatische Kanten, ein breit aufgestelltes Spitzenteam für die Bundestagswahl im Herbst.

Faktisch ist es eher ein Gefangensein im Hier und Jetzt – in einer Corona-Lage, die immer weiter voller bitterer Zielkonflikte steckt, in großer Abhängigkeit von internationalen Entwicklungen, hinsichtlich der Infektionslage genauso wie hinsichtlich der Auswege. Da bestimmen weiterhin die täglichen Meldungen des Robert-Koch-Instituts weit mehr die Tagesnachrichten als jede parteipolitische Pirouette. Und ein Gefangensein ist es natürlich auch im Politikstil der vergangenen 16 Merkeljahre, der für Offensive wahrlich nicht taugt. Zugleich wächst der Zeitdruck. Die Phase, die vor Corona Wahlkampf hieß, hat eigentlich ja schon begonnen.

Die Dynamik kurz vor den Märzwahlen, als raffgierige Unionsabgeordnete am Pranger standen, hatte diese neue Malaise der Union verstärkt wie ein Katalysator. In den Diskussionen seitdem scheint es, als sei ein Vorhang weggezogen worden. Mit der großen Verdrängung der Septemberwahl angesichts der Pandemieherausforderung ist es vorbei. Vor allem wird jetzt endlich auch fühlbar, dass so oder so eine alte Zeit zu Ende gehen muss, weil die Kanzlerin nicht mehr antritt. Erst jetzt erreicht dieser Fakt die politische Emotionswelt. Plötzlich ist so etwas wie die Ahnung von etwas Neuem im Raum. Eines Neuen, das man noch nicht genau kennt, das jetzt aber als unausweichlich bewusst wird. Es hat etwas vom Zusammenfallen eines Kartenhauses.

So verändert sich der Blick auf die bundespolitische Szenerie. Es wird unübersehbar, wie unsortiert die Union ist. Prompt wird auch die kritische gesellschaftliche Grundstimmung hinsichtlich der Corona-Politik erstmals den real existierenden Unionspolitikern zugeordnet, der bräsig gewordenen Kanzlerin inklusive. Letztlich verstärkten sich ja schon bei den Märzwahlen zwei Faktoren gegenseitig: Vertrauen in die Regierungschefs in Mainz und Stuttgart – aber auch Zweifel an der Attraktivität der Union und ihrer Managementfähigkeiten.

Und schon gibt es auch parteistrategisch Neues. Ziemlich lange hatte die Pandemie keine parteipolitischen Verschiebungen bewirkt, die Umfragedaten waren wie in Beton gegossen gewesen. Im Wettlauf um die Gunst der Pandemiefrustrierten legt nun aber die FDP zu, während die AfD erstmals abschmilzt. Demokratiepolitisch ist das kein schlechter Trend, die Gefahr eines neuen Aufschwungs des Rechtspopulismus via Corona scheint zumindest in Westdeutschland zurückgedrängt. Zugleich wird die FDP nach ihrem Themenwechsel aber auch insgesamt anders wahrgenommen und sendet selbst unaufhörlich Signale einer neuen koalitionspolitischen Offenheit.

Das ist einerseits clever kalkuliertes Spiel, andererseits Einsicht in die Realitäten: Als Funktionspartei fände sie an der Seite einer schwächelnden Union kaum mehr irgendwo Regierungschancen vor. Die FDP ist dort – anders als die Grünen – für die klassische Rolle einer Mehrheitsbeschafferin zu klein (bzw. die Union zu schwach). Die Linkspartei bleibt im Westen – anders als im Osten – machtpolitisch bedeutungslos. Aber der entscheidende Wettlauf um die Führungsrolle jenseits der Union hat neu begonnen.

Grüne oder SPD? Wer von beiden stärker wird, ist die vielleicht spannendste Frage bis zum September. Zwischen beiden gibt es nach wie vor ein hin- und herwechselndes Wählerpotenzial von mindestens 10 %. Menschen, die sich bei Befragungen zuletzt eher den Grünen zugeordnet hatten, aber sich bei realen Wahlen vor allem danach entscheiden, wem im rot-grünen Spektrum sie kompetente Führung eher zutrauen. Wo die kompetenteren und sympathischeren Personen zur Wahl stehen. Und vor allem: wer verlässlicher für progressive Politik steht. Da schadet den Grünen eine Anbiederung an die Union genauso wie der SPD das Festgesetztsein in der Großen Koalition.

Das Diffuse dieser rot-grünen Ungewissheit kommt nicht zuletzt daher, dass hier ein realer Wettkampf oft aus Kalkül unausgesprochen bleibt. Beide werben nebeneinander, arbeiten sich eher an Union oder FDP ab, wissen aber sehr genau um die direkte Konkurrenz untereinander. Und haben gerade deshalb ein gewisses Dilemma bei der Themenauswahl, siehe Klimaschutz. Bei den Grünen darf er nicht wie eine Reduzierung auf die eigene Kernklientel aussehen, bei der SPD nicht wie eine Abwendung von ihr. Speziell die kommunalen Wahlergebnisse in den größeren Städten Hessens vom März signalisieren, dass den Grünen dort in den urbanen Milieus die Führungsrolle inzwischen zugetraut wird. Das zeigt: Auch wer das rot-grüne Schattenboxen bis September gewinnen wird, ist völlig offen.

Über alledem freilich steht weiter das Megathema Corona. Lange Zeit war da fraglich gewesen, inwieweit die Menschen überhaupt bereit sind, die Tagespolitik parteipolitisch zuzuordnen. Und wahr bleibt ja: All die kompromisshaften, zuletzt eher sprunghaften Corona-Verabredungen von Bund und Ländern konnten kaum jemals weit abweichen vom europäischen Geleitzug. Die großen Weichenstellungen, zumal die rund ums Impfen, waren sachpolitisch geprägt und wurden sehr bewusst, nicht zuletzt aus Furcht vor politischen Fehlern in ungewissen Zeiten, am Rat von Fachleuten orientiert. Je mehr dabei aber deutlich wurde, wie ineffektiv der Staat agiert und wie groß die Kluft zwischen politischer Steuerung und praktischer Umsetzung anwächst, desto unruhiger wurde die allgemeine Grundstimmung.

Die späteren Wahlsieger in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg taten erkennbar gut daran, sich vom Berliner Politikmanagement abzusetzen. Das hat in Stuttgart den Grünen und in Mainz der SPD genutzt. Insofern können im Juni auch die Amtierenden in Magdeburg und im September dann die in Erfurt und Schwerin ihren Regionalwahlen etwas entspannter entgegen sehen, während im Land Berlin die Zusatzfrage im Raum stehen wird, ob der landespolitische Alles-bleibt-wie-es-ist-Effekt auch bei einem Wechsel der Spitzenkandidatur der bisher führenden Regierungspartei SPD von Michael Müller zu Franziska Giffey greift.

Wenn als Nächstes nun die Wahlen in Sachsen-Anhalt anstehen, wird auf Seiten der CDU noch ein weiterer Grundkonflikt offen zutage treten. Ihr fehlte gerade dort immer wieder die klare Abgrenzung zum Rechtspopulismus, ein deutlicher Widerspruch zum Postulat des neuen CDU-Chefs Armin Laschet. Mithin steht da in der bundesweit entscheidenden Strategiefrage der Union gleich auch die interne Führungsstärke mit auf dem Prüfstand. Der Rest der Regionalwahlen 2021 wurde mit der Bundestagswahl zusammengelegt, aus Sicht der Amtierenden riskant, weil an diesem Tag die Bundesstimmung alles überlagern wird. Der stolzen CSU würde so etwas nicht passieren. Indes: Falls jetzt wirklich mit dem Corona-Frust nach und nach Wechselstimmung im Bund aufkommt, könnte die Terminbündelung sogar den regionalen Amtsinhabern nutzen. Denn die Führungskraft der Union steht erstmals seit vielen Jahren wieder infrage. Die Verbrauchtheit der Konservativen wird bis ins Personalangebot hinein deutlich. Und das bei all der objektiven Ungewissheit, anhand welcher Themen und angesichts welcher Machtalternativen sich diese neue Spannung im September auflösen könnte.

Diese inhaltliche Ungewissheit, die sogar einhergeht mit dem weitgehenden Ausblenden wichtiger inhaltlicher Themen in der öffentlichen Wahrnehmung, prägt bislang dieses Wahljahr. Die beiden Landtagswahlen im Südwesten und auch die Kommunalwahl in Hessen zeigten, wie stark in Pandemiezeiten all die stets für wichtig erklärten Sachfragen von der Arbeitsmarkt- bis zur Verkehrspolitik in den Hintergrund rücken, wie sie zwar noch als parteipolitisches Markenbranding wirken, aber inhaltlich randständig bleiben – während nahezu ausschließlich Spitzenpersönlichkeiten und aktuelle Corona-Politik die Stimmung prägen.

Zu beobachten ist sogar, wie ungewiss es künftig zwar um die Staatsfinanzierung bestellt ist, das Kernthema jeder Politik – aber wie wenig dieses Kernthema die Öffentlichkeit bewegt. Die Lage, in Worten des Bundesfinanzministers und SPD-Kanzlerkandidaten: Zum alten Einnahmepfad werden wir so schnell nicht zurückkehren können. Das bedeutet übersetzt, dass spätestens nach der Bundestagswahl die Zeit zu Ende geht, in der ohne Ausgleichsüberlegungen einfach nur durch massive Aufstockung der Staatsausgaben auf die Pandemie reagiert werden konnte.

Das ist erneut ein Thema, das besonders die Union in den Zielkonflikt treibt, weshalb sie alles tut, es nicht ansprechen zu müssen. Ihrem unter Merkel perfektionierten Stil der softkonservativen Wohlfühl-Politik widerspricht es fundamental, vor Wahlen ernsthaft über Ausgabenkürzungen oder höhere Steuern nachzudenken. Und über solchen Fragestellungen, falls sie denn bewusst werden, wird letztlich immer mehr das Verfallsdatum der alten politischen Verhältnisse deutlich. Wenn man es denn sehen will: offene Baustellen, wohin man blickt.

So gesehen waren die Frühjahrswahlen, die wenig direkten Wechsel brachten, dann doch der Auftakt zu einer Zeit der Veränderung. Es wäre mit Blick auf die Bundestagswahl nicht das erste Mal, dass die Gesellschaft dabei erst im Nachhinein realisiert, über welche inhaltlichen Entscheidungsalternativen besser vorher offen diskutiert worden wäre, statt sich danach zu wundern.

Nochmal, an alle, bitte nicht verdrängen: Es wird 2021 einen neuen Kanzler oder eine neue Kanzlerin geben. Wahrscheinlich auch eine neue Regierungskoalition. Mit Sicherheit eine veränderte Politik, es geht gar nicht anders. Die aktuellen Geräusche im politischen Gebälk, zumal im konservativen Teil, hängen damit schon zusammen. Es gäbe deshalb viel zu besprechen, möglichst vor den Wahlen. Wie also der weitere Diskurs werden wird, ob inhaltlich oder nur gefühlig, ob kontrovers oder eher lau: Es sagt auch etwas darüber aus, wie viel echten Neustart die Leute sich jetzt schon vorstellen mögen.

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