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Zum Tod des Politikwissenschaftlers, Publizisten und Soziologen Alfred Grosser Die Freude und der Tod

Im zweiten Kapitel seiner »Lebensbilanz«, so der Untertitel, stellte sich Grosser  eine rein rhetorisch  gemeinte Frage:« Wie viele Intellektuelle drehen sich mit dem Wind und vertreten zynisch ihre neue, vorläufige Meinung!«  In der Tat  gehörte der Politikwissenschaftler, Publizist und Soziologe Alfred Grosser nicht zu jener Spezies von Intellektuellen, die je nach ideologischer Großwetterlage mal auf der einen, mal auf der anderen Seite zu finden sind. Grosser musste als Achtjähriger 1933 mit  seiner Familie vor den Nazis nach Frankreich fliehen. Sein Vater, ein Sozialdemokrat  jüdischer Herkunft, leitete in Frankfurt eine Kinderklinik. Er starb drei Monate nach der Ankunft in Frankreich, dessen Behörden der Witwe und somit auch dem Sohn die französische Staatsbürgerschaft verliehen. Ein Glücksfall, der  bei Kriegsbeginn ihre Internierung verhinderte.  Alfred Grosser, der als streitbarer Gelehrter nach dem Krieg  in Frankreich und Deutschland gleichermaßen bekannt war, wurde  einer der wichtigsten Mittler zwischen beiden Ländern,  hier wie dort gewohnt, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Zu den »Chancen zum Glück«, von denen Grosser  häufig sprach, zählte er die gelungene Assimilation in Frankreich ebenso wie die Tatsache, dass er in dem von den Deutschen besetzten Land weder Deportation noch Folter erleiden musste. »Mir schien später nichts dümmer als das Stück von Jean-Paul Sartre ›Tote ohne Begräbnis‹, das den Wert eines Menschen nur nach seiner Fähigkeit beurteilt, die Folter zu ertragen.« Vor allem aber hat er sich – gemeinsam mit dem 2004 verstorbenen Historiker Joseph Rovan – in  Büchern und Vorträgen für ein gegenseitiges Verstehen von Franzosen und Deutschen nach den beiden Weltkriegen eingesetzt. Die jeweilige Andersartigkeit und die unterschiedliche, aber auch gemeinsame Geschichte zu begreifen, das war Grossers Anliegen und Lebensthema bis zum Schluss. Der Einzelne trage eine persönliche »Mitverantwortung für die Zukunft« in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. So Grossers Credo, das er auch in einem seiner letzten Bücher – »Le Mensch« – überzeugend darlegte. Mehr als 30 Bücher hat Grosser veröffentlicht, in denen er immer wieder für Europa warb. In einem seiner letzten Interviews bekannte er:  »Als EU sind wir wer. Sonst sind wir nichts.«
Rechnet man all dies zusammen – die glänzende Karriere als Gelehrter, die vielen Ehrungen im In- und Ausland, das hohe Ansehen, das Grosser auch bei  seinen Kritikern genoss, so dürfte man von einem »erfüllten Leben« sprechen. Dennoch war  von Anfang an auch dieses Leben beschattet  durch die Drohung von Verfolgung und Tod, auch wenn Grosser einräumte: »Die Anhäufung der Privilegien hat das Glücklichsein sehr erleichtert.« 1947 wird er als Studienrat Beamter auf Lebenszeit, acht Jahre später Inhaber eines Lehrstuhls am berühmten »Sciences Pol« in Paris und schließlich Anfang der 90er Jahre als  Studien- und Forschungsdirektor an der »Fondation Nationale des Sciences Politiques« emeritiert.
Alfred Grosser sah sich selbst als eine Art »Moralpädagoge«. Er wollte sein Publikum überzeugen, nicht überrumpeln. Er hielt es da mehr mit  dem als jüdischen Litauer geborenen französischen Philosophen Emmanuel Levinas als mit Peter Sloterdijk oder Jean-Paul Sartre. Am nächsten fühlte er sich einem Autor wie Albert Camus, dessen Toleranz er hoch achtete. Überhaupt verachtete er jene, die ihre Meinung als die einzig anzuerkennende Wahrheit verabsolutieren. Grosser wollte aber immer Politik nicht nur erklären, sondern auch betreiben. Als Gelehrter konnte er das aber nur mit Hilfe traditioneller Instrumentarien. Also verfasste er Buch um Buch, arbeitete für Rundfunk und Fernsehen, schrieb daneben für eine Reihe bedeutender Zeitungen, hielt Vorträge. Keine Frage: Grosser, dessen freundliche Zugewandtheit jedem auffiel, der ihn  bei  solchen Gelegenheiten im Gespräch erlebte, hat sich  aber nicht nur Lob eingehandelt. Umstritten war er  vor allem wegen seiner anhaltenden Kritik an der Politik Israels. Den Deutschen hat er immer dazu geraten, kritischer mit dem Staat der Juden umzugehen, ihre Haltung zu Israel zu entkrampfen.
Hinzu kam: Grosser war kein Pazifist, lehnte  Gewalt aber als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ab.  Gleichwohl beantwortete er die Frage einer Zeitung, was er hätte sein mögen mit dem lapidaren Wort »Weltveränderer«. »Man darf mich ruhig als eine Art atheistischen fellow traveller (nicht etwa ›Mitläufer‹!) der engagierten Christen betrachten.« Alfred Grosser war der Einzelgänger, der dazu gehören will. Oder mit seinen Worten: »Als Atheist im französischen Katholizismus wie als Franzose in Deutschland bin ich der Außenseiter, der aber als innerlich Dabeiseiender akzeptiert wird, weil man weiß, er will mitempfindend positiv wirken. Manchmal auch mit den gläubigen Juden.«

 

 

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