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© Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Bodo Schackow

Zur Aktualität der Gedanken von Robert O. Putnam in Zeiten des Social Distancing Alleine Bowling spielen?

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Es ist diese Traurigkeit, die das Bild vermittelt, eine Traurigkeit wie in einem Edward-Hopper-Gemälde: Ein Mann, der sich mutterseelenallein in einer großen Bowlinghalle aufhält und eine allzu ruhige Kugel schiebt. Vielleicht ist man auch versucht, an den traurigen Helden im Film The Big Lebowski zu denken. Auch andere Assoziationen drängen sich auf, wenn jener Ausdruck wieder fällt, der es wie kein anderer jemals verdient hätte, zum Unwort des Jahres gekürt zu werden: Social Distancing. Der einsame Muskelmann, der in völliger Abgeschiedenheit seines Fitnesskellers Gewichte stemmt, wäre auch so ein Bild. Und nach nur wenigen weiteren Gehirnumdrehungen kommen jene unter uns, die in der Verzweiflung der Lockdown-Zeiten gar zu philosophischen Büchern greifen, womöglich von Gottfried Wilhelm Leibniz.

Unwillkürlich drängt sich die Frage auf: Was haben ein Hanteln stemmender Muskelmensch, The Big Lebowski und der Philosoph Leibniz miteinander zu schaffen? Mehr als man denkt. Wer in der Einsamkeit des Fitnessstudios die Kilos drückt, der ähnelt jener Kultfigur im Film der Brüder Ethan und Joel Coen, dem Althippie Jeffrey Lebowski, der zur Not auch allein seine Kugel auf der Bowlingbahn schiebt. Und beide haben etwas mit jenen nur schwach aktiven Monaden gemein, die Gottfried Wilhelm Leibniz auf den Begriff gebracht hat: Metaphysische Atome, die nur für sich allein stehen und, nach der berühmten Formulierung des barocken Philosophen aus Hannover, »keine Fenster« haben, durch die sie mit der Außenwelt in Kontakt stünden. Welch ein Bild für uns alle, die wir in sozialer und kultureller Isolation auch praktisch keine Fenster mehr haben, um an jener sozialen Welt zu partizipieren, wie sie vor der Pandemie eine Normalität war, die nun aber mehr als brüchig geworden ist. Wir sind alle Corona-Monaden.

Kommen wir von Hannover nach Harvard und von Leibniz zu Robert D. Putnam. Der amerikanische Politologe hat intensiv darüber nachgedacht, wie das gehen soll: allein Bowling spielen. Oder allein im Chor singen. Oder allein eine Partie Schach austragen. Bowling alone heißt seine einflussreiche Studie, die leider und unverständlicherweise nie in deutscher Übersetzung erschienen ist. Darin stellt er eine soziale Welt dar, deren Kitt mürbe geworden ist. Das im Jahr 2000 erstmals erschienene Buch geht auf einen Aufsatz Putnams zurück, den er schon fünf Jahre vorher im Journal of Democracy unter dem Titel »Bowling Alone: America's Declining Social Capital« veröffentlicht hatte. Putnam schildert hier wie dort die Auswirkungen des freiwilligen Rückzugs der Individuen aus dem Gemeinschaftsleben. Sozialwissenschaftlich gut belegt zeigt Putnam das auf, was er selbst »soziales Disengagement« nennt: Seit den 50er Jahren hat das Engagement der US-Bürgerinnen und -Bürger in zivilen Organisationen stark nachgelassen: Ob religiöse Gemeinschaften oder Gewerkschaften, ob politische Parteien oder Sportvereine, ob Veteranenorganisationen oder die Pfadfinder, die Mitgliederzahlen kennen nur eine Richtung, nämlich nach unten. Selbst wenn die Zahl der Menschen, die Bowling spielen, zugenommen hat, im gleichen Zeitraum hat die Zahl der Menschen, die Mitglieder in Bowlingvereinen sind oder an Wettbewerben teilnehmen, stark abgenommen. Wer aber allein Bowling spielt, so Putnam, der partizipiert nicht an der gesellschaftlichen Interaktion und er nimmt auch nicht an jenen zivilgesellschaftlichen Diskursen teil, die nebenbei in einem organisierten Vereinsleben stattfinden könnten.

Soziales Kapital als Säule der Demokratie

Für Putnam ist das gleichbedeutend mit dem Rückgang des sozialen Kapitals. Der Begriff des sozialen Kapitals ist uns in Deutschland vor allem durch den französischen Soziologen Pierre Bourdieu bekannt. Er pflegte einen kritischen Umgang mit dieser Ressource, mit der er eine neue Form der Elitenbildung durch die Akkumulation nicht nur der ökonomischen, sondern eben auch der sozialen und kulturellen Münze dräuen sah. Putnams Konzept des sozialen Kapitals ist viel positiver. Er sieht darin eine alternative Währung neben dem physischen und dem sogenannten Humankapital, und allein mit dieser sozialen Währung könnten demokratische Gesellschaften aufrechterhalten werden. Ziviles Engagement ist dabei das wesentliche Bindemittel, um dieses soziale Kapital anzusparen, denn einerseits schafft es Vertrauen, andererseits bildet es aber auch das Forum, auf dem die Mitglieder einer Gesellschaft sich überhaupt begegnen und dadurch die Gelegenheit für Gemeinschaftsgefühle und Interaktionen bekommen. Das Besondere am sozialen Kapital ist gerade, dass es nicht von einzelnen Individuen vermehrt werden kann, sondern ausschließlich in sozialer Interaktion. Putnam schließt sich damit der Analyse Alexis de Tocquevilles an, der zufolge im Amerika des 19. Jahrhunderts die Vereine die »Schule der Demokratie« darstellten: In freiwilligen sozialen Netzwerken wie Sport- oder Gesangsvereinen kooperieren Menschen auch mit solchen Mitbürgerinnen und -bürgern, die aus gänzlich anderen sozialen Schichten stammen. Als Nebenprodukt dieser horizontalen sozialen Interaktion entstehen für Putnam die »bürgerlichen Tugenden«, die in ihrer generalisierten Form auf die Gesellschaft als Ganzes ausstrahlen: »Soziales Kapital macht uns smarter, gesünder, sicherer, reicher und versetzt uns besser in die Lage, eine gerechte und stabile Demokratie am Laufen zu halten«.

Als Ursache für das soziale Disengagement und den Rückgang des sozialen Kapitals hat Putnam vor allem einen Schuldigen identifiziert: das Fernsehen. Vereinzelung und Isolierung lägen vor allem am modernen Medienkonsum. Mit der Veränderung des Freizeitverhaltens, das sich, wie ausgedehnte Kohortenvergleiche der »long civic generation«, der zwischen 1910 und 1940 Geborenen, mit der »post-civic generation«, der nach 1940 Geborenen ergaben, in die eigenen vier Wände und vor die Mattscheibe verlagert habe, seien das gesellschaftliche Vertrauen und die angestammten sozialen Werte und Normen in die Knie gegangen.

Mitder Corona-Epidemie erhält die kulturpolitische Metapher vom »bowling alone« eine ganz frische Relevanz: Was wir heute erleben, ist der gesundheitspolitisch erzwungene Rückzug aus dem Sozialen. Gerade die Rolle der Medien erscheint dabei aber in einem neuen Licht: Ohne Skype und Zoom, ohne Onlinespiele und Onlinehandel wäre unser soziales Leben noch viel ärmer, als es erzwungenermaßen ohnehin schon ist. Zwar sah auch Putnam schon Anfang der Nullerjahre, dass Internetnetzwerke womöglich einen positiven Einfluss auf die zersetzende Kraft des sozialen Disengagements haben könnten. Andererseits sah er die Onlinewelt aber auch sehr skeptisch und identifizierte etwa Virtual Reality-Helme als Radikalisierung der isolierenden Momente des Fernsehkonsums. Schon Claude S. Fischer, ein Netzwerkforscher von der Berkeley University, wies aber darauf hin, welche Unterstützungsfunktion das Internet gerade für Menschen in der Isolation haben könne. Viele der Annahmen und Hypothesen Putnams bedürfen schon deswegen heute einer erneuten Betrachtung und – wer weiß? – der Revision, weil sich das Medienrezeptionsverhalten in den vergangenen 20 Jahren tiefgreifend gewandelt hat. Während der Fernsehkonsum rückläufig ist, rücken andere Medien in den Fokus, bei denen die Rollenverteilung in einen aktiven sendenden und einen passiven empfangenden Part nicht mehr so eindeutig vorzunehmen ist. Aus dieser Perspektive wären auch die von Putnam zugrunde gelegten Daten und deren Interpretation zu hinterfragen, insbesondere ob das soziale Disengagement und der TV-Konsum nicht doch eher nur korrelieren, als dass sie sich kausal aufeinander beziehen.

Das social distancing unserer Tage ist demnach womöglich gar kein soziales, sondern einfach nur ein körperliches, also ein body distancing. Sozial können wir heute auch sein, ohne uns physisch zu begegnen. Ohne hier techno-deterministischen Utopien das Wort reden zu wollen, hat unser medialer Umgang mit der Pandemie vielleicht auch im sozialen Sinne sein Gutes: dass wir wieder zu schätzen wissen, was wir an Menschen im Verein haben. Vielleicht treffen wir uns nach dem Ende des Corona-Spuks alle zusammen mal auf eine Partie Bowling?

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