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Albträume von gestern und heute Alte Science-Fiction, neue Dystopien

Im Februar 2019 erreichte die 1961 gestartete Science-Fiction-Heftserie Perry Rhodan Band 3.000 und hat damit alle Konkurrenten weit hinter sich gelassen. Den in mehreren Auflagen immer wieder neu gestarteten Titeln der Hauptserie stehen noch rund 2.500 Titel in Nebenserien und Buchausgaben zur Seite, sowie seit 1991 ein fünfbändiges Lexikon und seit 2004 die enzyklopädische Perrypedia im Internet. Und im Jubiläumsjahr erscheint sogar eine Lebensbeschreibung des Helden als junger Mann, die der Fantasy-Autor Andreas Eschbach verfasst hat. Doch während der zeitweilig auf den Titelseiten als »Erbe des Universums« titulierte Perry Rhodan im Jahre 2019 längst die Technik des interstellaren Raumflugs beherrschte, hinkt die tatsächliche Entwicklung der großen Fiktion weit hinterher.

Andererseits haben die technikbegeisterten Autoren der goldenen Jahre der Science-Fiction, von Ausnahmen wie Philip K. Dick abgesehen, nicht vorausgesehen, welche Veränderungen der technische Fortschritt auf der Erde wirklich mit sich bringen würde: nicht in Gestalt meilenlanger Raumschiffe, intelligenter Roboter oder fliegender Autos, sondern als PCs, Smartphones und Drohnen, ganz zu schweigen von der globalen Vernetzung durch das Internet.

George Orwells technisch eher kärglich ausgestattete Welt von Nineteen Eighty- Four bewies in Gestalt der »telescreens« das Talent des Autors zur sozialkritischen Abschätzung der Technikfolgen. Erschienen die Teleschirme zunächst als eine Art Zweiwegfernsehen, das zugleich als propagandistisches Massenmedium und als Überwachungssystem funktionierte, so kann man es heute auch als Vorgriff auf das Internet verstehen. Wie Orwells 1948 vollendeter Roman war auch Aldous Huxleys verspieltere Brave New World (1932) eher Social- denn Science-Fiction, und beide Zukunftsentwürfe waren zur Kenntlichkeit übersteigerte Gegenwartskritik.

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Start von Perry Rhodan sind klassische Elemente der SF wie Roboter, Drohnen und künstliche Intelligenz (KI) auf geradezu enttäuschende Weise alltäglich geworden. Statt als Kampfmaschinen in intergalaktischen Kriegen arbeiten sie in der Produktion und Pflege, überprüfen im Flug, ob das Dach noch in Ordnung ist, oder signalisieren, dass die Farbe im Drucker knapp wird. Das hat den Charakter einer freundlichen Übernahme, bei der die Technik uns erst die Arbeit und dann auch die Entscheidungen abnimmt. Läuft das auf eine Entmündigung des Menschen hinaus, lautet die Frage, die in vielen skeptischen Beiträgen zur KI anklingt. Doch entmündigt sich der Mensch angesichts von Sonderangeboten und Schnäppchenjagden im Internet nicht längst selbst, ohne dass es dazu sehr viel natürlicher oder künstlicher Intelligenz bedürfte?

In Dave Eggers Erfolgsroman The Circle von 2013 war es ein Hightechkonzern, der seinen Mitarbeitern absolute Hin- und Preisgabe ihrer Arbeitskraft und persönlichen Daten abverlangte. In Bijan Moinis Debüt Der Würfel hat nun eine Art Supercomputer die Kontrolle übernommen. Neben den Einflussbereichen des »Kubismus« gibt es »würfelfreie Zonen«, in denen sich »Gaukler« wie der Romanheld Taso, »Offliner« und Widerständler der fürsorglichen Diktatur des Würfels entziehen. Dieser regiert mit Zuckerbrot und Peitsche. Für die Preisgabe persönlicher Daten und für berechenbares Verhalten zahlt er ein Grundgehalt, dessen Höhe sich nach dem »Pred-Score«, dem Grad ihrer Berechenbarkeit, richtet. Vernetzt wird dieses System durch »Smart Eyes« und »Smart Ears«, elektronische Kontaktlinsen und Ohrhörer, dank derer der Würfel nicht nur mitsieht und mithört, was die Menschen erleben, sondern ihnen je nach Bedarf und gegen geringes Entgelt auch eine künstlich aufgehübschte Version der Welt und ihrer selbst »smalen« kann.

Als »Gaukler« entscheidet Taso nach Münzwürfen und verschmäht auch die traditionellen Würfel nicht, um unberechenbar zu bleiben. Das stört nicht nur den Würfel, sondern auch Tasos etablierten Zwillingsbruder, und so kommt es zu einer Reihe erstaunlicher Wendungen. Zunächst liebäugelt Taso mit dem Widerstand, der von einem philanthropischen Milliardär gefördert wird. Dann verliebt er sich in das Mädchen Dalia, welches aus einer fundamentalistischen Christensekte in die schöne neue Welt des Würfels wechseln will. Der Eben-noch-Rebell wird nicht nur ihr Mentor in Sachen Kubismus, sondern will seine Liebesbeziehung sichern, indem er sich selbst integriert. Leider ist die Prognose des Würfels über deren Stabilität so niederschmetternd und die Geliebte so realistisch, dass den Blütenträumen abgrundtiefe Enttäuschung folgt. Hatte sich Taso zunächst vom Widerstand verabschiedet – »endlich hatte er sich integriert, war nicht mehr allein, hatte eine Freundin und kam gerade wieder seinem Bruder näher« –, so wirft er nach einer simplen Liebesenttäuschung das Ruder erneut um 180 Grad herum und vollzieht den totalen Bruch mit dem Kubismus, indem er sich »vergessen«, d. h. aus allen Datenbanken löschen lässt.

Da ist es schon merkwürdig, dass der Widerstand diesen Wackelkandidaten nach kurzem Zögern nicht nur aufnimmt, sondern ihm – wider alle konspirative Vernunft – Zugang zum innersten Führungszirkel gewährt. Hier verfolgt Taso »wahnsinnig gespannt« eine Art Starparade der antikubistischen Internationale. Besonders Aza Schneider hat es ihm angetan: »Sie hatte kurze Haare und trug eine grüne Cargohose, ihr enges schwarzes Oberteil verriet eine muskulöse Statur.« Taso ist gefesselt: »Genau so stellte er sich eine Revolutionärin vor.« Genau so möchte man sich die politischen Rebellen der Zukunft aber lieber nicht vorstellen – nicht mit der Frustrationstoleranz eines Dreijährigen, nicht als neuer Simplicissimus und nützlicher Idiot, dessen Familienname sinnigerweise »Doff« lautet.

Gegen den Strich gebürstet, verrät Der Würfel weniger über die Zukunft als über unsere Gegenwart, die unfreiwillige Satiren hervorbringt. Zu Beginn eines konspirativen Diners beim Milliardär Hugo anlässlich der kurzen Liaison zwischen Taso und Dalia verstoßen die Kinder seines Bruders in flagranter Weise gegen den Grundsatz »children should be seen, not heard« und setzen lautstark ihren Willen durch, vor gesmalter Urwaldkulisse zu essen. Vom ganzen Essen bekommt man nur den Espresso danach mit. Kein Geschirr, keine Gläser, kein Besteck wird erwähnt, nur zwei im Dschungeldunkel »mystisch« flackernde Kerzen.

Man könnte sich hier einen Rembrandt an die Wand zaubern, aber man bevorzugt eine bewegte Fototapete, deren kitschiges Helldunkel ein Männergespräch beleuchtet, an dem die Frauen nicht teilnehmen: »Taso schielte in Richtung Küche und versicherte sich, dass die Tür auch wirklich geschlossen war.« Zumindest das bürgerliche Frauenbild ist hier noch intakt, aber ohne Ironie lässt sich feststellen, dass Leben und Kultur hier infantilisiert sind. Ja, sie sind barbarisiert, wie der weitere Abend zeigt. Nach dem Familienbesuch gehen Taso und Dalia noch in eine Kneipe, wo gerade eine Mottoparty zum Thema »Steinzeit« stattfindet und man sich, in Tierfelle gehüllt, ums Lagerfeuer versammelt. Dalias neue Freunde sind schon ein wenig voraus: »In den Händen hielten sie halbierte Menschenschädel, darin schwappte eine dunkle Flüssigkeit.« Den realistischen Eindruck dieser Schädel führt Taso zwar auf die Qualitäten eines 3-D-Druckers zurück, aber die Szene erinnert an jene grausigen Märchen, in denen voreilige Wünsche wortwörtlich erfüllt werden.

Eine direktere Barbarisierung der Gesellschaft behandelt Max Annas in seinem dystopischen Krimi Finsterwalde. In naher Zukunft ist die EU zerfallen, der Osten Deutschlands durch die Landflucht weiträumig entvölkert und eine populistische Partei an der Macht. Menschen afrikanischer Herkunft sind im geräumten Ort Finsterwalde interniert worden, auch wenn sie deutsche Staatsbürger sind. Als Ersatz für die afrikanische Ärztin Marie ist die Griechin Eleni mit Mann Theo und Kindern nach Berlin und in deren Wohnung gekommen. Während Theo auf Spuren der Deportierten stößt, die ihn nach Finsterwalde führen, macht sich Marie mit einigen Lagerinsassen auf, um Kinder zu retten, die in Berlin versteckt zurückgelassen worden sind. Anders als Moini oder Tom Hillenbrand in seinem dystopischen Krimi Drohnenland (2014) interessiert sich der 1963 geborene Annas nicht für technische Innovationen. Oder er vertraut ihnen nicht so sehr wie seine jüngeren Kollegen. Zwar trägt Theo als Bürger auf Probezeit eine elektronische Fußfessel, aber die lässt sich manipulieren. Zwar gibt es viele Polizisten, Soldaten, Drohnen und rassistische Bürgerwehren, aber auch militante, in Fragen der Herkunft tolerante Neusiedler, die man in ihren Dörfern schalten und walten lässt, solange sie die Hauptstadt mit ihren Produkten versorgen. Inmitten allgemeiner Anomie bilden sich totalitäre Regime heraus, aber auch Inseln einer militant verteidigten Humanität.

Wie hat es so weit kommen können? Eine Bank in Italien ist zusammengebrochen, eine andere in Griechenland ist gestürmt und angezündet worden, ein vorlauter Minister wird erschossen, in Fürth findet ein Anschlag auf einen Kindergarten statt – »die süßen kleinen Kinder«. Ein paar alte Türken in einer Berliner Kneipe reden darüber und über Schießereien an der Grenze, sie fügen das eingestürzte Kartenhaus Europa noch einmal zusammen und zeigen, wie fragil es immer war.

Wo nichts mehr richtig geht, erscheint alles möglich. In Perry Rhodans fiktiver Biografie lässt der Held den Rassismus auf seinem Weg in die ferne Zukunft hinter sich. Bei Moini bleibt eher die Kultur auf der Strecke, bei Annas – und darin liegt ein satirischer Zug – bleibt trotz aller Überwachungstechnik ein wenig Hoffnung. Hoffnung darauf, dass diese, wie so oft erlebt, wieder einmal versagt.

Andreas Eschbach: Perry Rhodan – das größte Abenteuer. Fischer Tor, Frankfurt/M. 2019, 848 S., 25 €. – Max Annas: Finsterwalde. Rowohlt, Reinbek 2018, 400 S., 22 €. – Bijan Moini: Der Würfel. Atrium, Hamburg 2019, 412 S., 22 €.

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