Als nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die europäischen Staatenlenker Ende 1990 in Paris zusammenkamen und eine Charta für ein neues Europa beschlossen, gab es unter den Anwesenden kaum Zweifel daran, dass die nun entstehende neue Weltordnung von liberaldemokratischen Grundsätzen, von der Achtung der Menschenrechte, der territorialen Integrität der Staaten und des weitgehenden Verzichts auf Gewalt geprägt sein werde. In der Abschlusserklärung der Konferenz heißt es: »Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an.« In der Folge kam es auch in anderen Regionalorganisationen wie der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), der Afrikanischen Union (AU), der Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft (SADCC) und der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS) zu ähnlich vollmundigen Erklärungen. Wenn man auch zumeist nicht gleich wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte« gekommen sah, so schien doch einiges dafür zu sprechen, dass sich von nun an die Idee der Demokratie und der Menschenrechte unaufhaltsam auf dem Globus ausbreiten werde. Für kurze Zeit konnte man den Eindruck haben, der Zerfall des Ostblocks sei zugleich der Beginn einer westlich geprägten unipolaren Weltordnung.
Was übersehen und verdrängt wurde
Heute, 30 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, ist die Lage eine ganz andere. Heute stellen wir erstaunt fest, was wir lange übersehen hatten: »Die weltweite Verwestlichung des Konsum- und Lebensstils ging mit einem Erstarken fundamentalistischer Strömungen, einer Rückbesinnung auf kulturelle Eigenheiten, einer Radikalisierung religiöser Gemeinschaften und einer Zunahme der Gewaltbereitschaft einher«, wie Julian Nida-Rümelin konstatiert. Mit Donald Trump in den USA, Wladimir Putin in Russland, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Rodrigo Duterte auf den Philippinen und seit Kurzem Jair Bolsonaro in Brasilien sind neue Formen autoritärer Regierungsführung aufgetreten, die selbst in Ländern der EU Anklang finden, wie sich am deutlichsten in Ungarn und in Polen, neuerdings auch in Italien zeigt. Die USA haben sich von ihrer Rolle als »wohlwollender Hegemon« des Westens zurückgezogen und die anfänglich freundschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und der EU sind inzwischen einer immer aggressiveren Konkurrenz gewichen. Zugleich ist mit China ein Gegenspieler des Westens auf die Bühne getreten, der beweist, was lange für unmöglich gehalten wurde: dass eine stürmische technisch-ökonomische Entwicklung auch ganz ohne Liberalisierung im Innern vonstattengehen kann.
Kein Wunder also, dass das Nachdenken über eine neue Weltordnung wieder an Bedeutung gewinnt. In dieser Situation ist das soeben bei C.H.Beck erschienene Buch von Matthias Herdegen, Der Kampf um die Weltordnung, eine wichtige Orientierungshilfe. »Stehen wir«, so Herdegens Eingangsfrage, »dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges – wieder – vor dem Heraufziehen einer neuen Weltordnung«? Der Autor geht systematisch vor, indem er die idealtypische Unterscheidung in »realistische«, »idealistische« und »liberale« Ordnungspolitik und ihre in der Praxis zumeist gemischten Modelle – vom Westfälischen Frieden über den Völkerbund, die Nachkriegsordnung des Ost-West-Gegensatzes und den kurzlebigen Traum von einem weltweiten Westen – auf ihre Tauglichkeit für die Lösung der heutigen Probleme überprüft. Das vorweggenommene Fazit seines Buches, mit dem Herdegen zugleich die Richtung seiner komplizierten Abwägungen internationaler Politikansätze angibt, lautet: »Bei allem Realismus sollte die westliche Welt das liberale Modell einer offenen Staatlichkeit und einer engen Kooperation der Staaten im Interesse globaler Belange mit Selbstbewusstsein im Wettbewerb der Systeme vertreten. Aber die westliche Welt kann nicht mehr wie zum Ende des Kalten Krieges davon ausgehen, dass große und kleine Mächte außerhalb dieser westlichen Ordnung ihre Politik vorrangig am Schutz der Menschenrechte, des Selbstbestimmungsrechts der Völker, der Stabilität des bestehenden territorialen Gefüges und einem freien, unverfälschten Freihandel oder dem Klimaschutz ausrichten.«
Die zivilisierende Wirkung von Handelsverträgen
Am Ende plädiert Herdegen für eine Außen- und Friedenspolitik, die militärische und ökonomische Stärke mit den »soft powers« des westlichen Lebensstils verbindet, die interessengeleitete Bündnispolitik mit Freihandel kombiniert und die Chancen einer »global governance« nutzt, ohne sie als Ordnungsfaktor überzubewerten. Eine kosmopolitische Ordnung unter dem Schutz einer reformierten UNO mit einer Weltgerichtsbarkeit nach Maßgabe der Menschenrechtserklärung hält er auch auf längere Sicht nicht für ein realistisches, womöglich nicht einmal für ein wünschbares Ziel. Stattdessen setzt er auf die zivilisierende Wirkung von Handelsverträgen zwischen Nationalstaaten und regionalen Zusammenschlüssen und wendet sich entschieden gegen den trumpschen Protektionismus. »Aus der Perspektive einer internationalen Ordnung leisten Abkommen der Liberalisierung des Handels und Investitionsschutz einen zentralen Beitrag zur Stabilität zwischenstaatlicher Beziehungen.«
Diese uneingeschränkt positive Bewertung des Freihandels wird, wie wir spätestens seit den Auseinandersetzungen um TTIP, CETA und andere Handelsverträge wissen, durchaus nicht von allen geteilt, gerade auch in Europa. Unter den Bedingungen eines von wenigen kapitalstarken Akteuren dominierten Weltmarktes kann der Abbau von Handelshemmnissen, besonders wenn dieser auch sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse betrifft und die Schlichtung von Streitfällen dubiosen Sondergerichten überlassen wird, die legitime Interessen und das Selbstbestimmungsrecht vieler Menschen akut gefährden, wie die Grundwertekommission der SPD im Streit um TTIP dargelegt und Petra Pinzler in ihrem Buch Der Unfreihandel überzeugend ausgeführt hat. So wie der globale Handel heute zumeist vertraglich geregelt und praktisch organisiert wird, ist er in der Tat kaum weniger einseitige Machtpolitik als der Protektionismus und der Deal-Poker Donald Trumps, vor allem gegenüber den armen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Zugleich erweist sich der Freihandel im neoliberalen Verständnis als Gefahr für die europäische Tradition der staatlichen Garantie sozialer, kultureller und ökologischer Gemeingüter. Leider lässt auch Sigmar Gabriel in seinem ansonsten lesenswerten Buch Zeitenwende in der Weltpolitik in diesem Punkt jede Sensibilität vermissen.
Für Gernot Erler ist es neben der Wende in der russischen Politik unter Putin vor allem die chinesische Vertragspolitik im Kontext der »Neuen Seidenstraße«, die er als eine Gefährdung von Demokratie und Freiheit in Europa ansieht. Er warnt zwar in Weltordnung ohne den Westen? in diesem Zusammenhang vor Alarmismus, stellt aber dennoch fest: »Die chinesische Politik der Neuen Seidenstraße (…) nutzt Schwächen, Probleme und EU-interne Konflikte, besonders in Ost- und Südosteuropa, sie macht attraktive Angebote, sie schafft Abhängigkeiten und gewinnt politischen Einfluss.« Schon jetzt ist in der Tat erkennbar, dass die chinesische Offerte für eine Reihe von Regierungen in Südosteuropa und auf dem westlichen Balkan – z. B. Ungarn und Serbien, womöglich bald auch Griechenland – nicht nur eine zusätzliche Hilfe bei der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch einen Anreiz darstellt, sich der mit der bestehenden oder angestrebten EU-Mitgliedschaft verbundenen lästigen Verpflichtung auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu entziehen.
Weltordnung ohne den Westen?
Während Russland und China – in durchaus unterschiedlicher Akzentsetzung – klassische Großmachtpolitik betreiben, ist die Europäische Union zurzeit vor allem mit sich selbst beschäftigt. Der chaotische Brexit-Prozess, die offensichtliche Unfähigkeit, sich auf eine Reform des komplizierten Institutionengefüges der Union zu einigen, die immer noch bestehenden gewaltigen ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern und das stetige Anwachsen rechtspopulistischer und neonationalistischer Bewegungen schwächen die Fähigkeit der EU, die Zukunft der Welt entscheidend mitzugestalten.
Und die USA? Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert Kagan hat sein Land im Sommer 2018 in der Washington Post als »schurkische Supermacht« bezeichnet und seinem Präsidenten bescheinigt, er vernachlässige nicht nur die liberale Weltordnung, er melke sie zudem für einen geringen Gewinn. Unter Trump haben die USA – das scheint bei politischen Beobachtern weithin Konsens zu sein – ihre Rolle als Garant einer westlich geprägten liberaldemokratischen Weltordnung aufgegeben, was, gepaart mit einer aggressiven Handelspolitik, vor allem Europa in zusätzliche Schwierigkeiten bringt. Die Frage nach einer »Weltordnung ohne den Westen«, wie Gernot Erler sie stellt, ist also in der Tat aktuell.
Was also könnte eine orientierende Ordnungsidee sein, die für die verunsicherten Europäerinnen und Europäer und für die Welt insgesamt wieder eine hoffnungsvolle Perspektive eröffnen könnte? Die hier behandelten Bücher geben unterschiedlich akzentuierte Antworten auf diese Frage. Matthias Herdegen plädiert eher vage für eine »behutsame Verknüpfung stabiler internationaler Beziehungen mit dem Leben im Inneren der Staaten«, und für »eine Brücke zwischen ›realism‹ und ›liberalism‹ in den politischen Wissenschaften. Sigmar Gabriel spricht sich vor allem für eine stärkere europäische Zusammenarbeit in den Feldern »Außen- und Sicherheitspolitik, Asyl- und Flüchtlingspolitik, Bildung, Forschung, Steuerpolitik und Innovation« aus. Ihm geht es vordringlich um die »Selbstbehauptung Europas« auf den globalisierten Märkten, um wirtschaftliches Wachstum und um eine europäische Spitzenposition in der technischen Entwicklung, zusätzlich auch um eine effektivere europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der sozialen und der militärischen Sicherheit, »statt sich um weitere Integrationsschritte oder Erweiterungsprozesse zu kümmern«.
Ohne Europa wird es nicht gehen
Etwas ambitionierter im Sinne einer liberalen Weltordnung fällt das Fazit bei Gernot Erler und Julian Nida-Rümelin aus. Vor allem sind sie gegenüber der noch immer weitgehend von den Grundsätzen des »Washington Consensus« geprägten globalen Wirtschaftsordnung kritischer eingestellt. »Eine Weltordnung«, so Erler am Ende seines Buches, »ohne eine europäische Rolle wird es nicht geben. Aber auch keine, die allein von Europa geprägt ist«. Aber keineswegs dürfe es Europa nur darum gehen, sich in der globalen Konkurrenz nach dem »Dschungelgesetz mit der alleinigen Überlebenschance der Stärkeren« zu behaupten. Vielmehr müsse Europa seine ökonomische Stärke auch dazu nutzen, den »Zugang zu Wasser, Nahrung und Energieressourcen« für alle Menschen zu sichern, den globalen Klimawandel einzudämmen und den Respekt vor den Menschenrechten möglichst weltweit durchzusetzen.
Auch Nida-Rümelin plädiert für eine liberale Weltordnung, die der politischen Gestaltung den Vorrang vor der Anpassung an die neoliberale Logik der Weltmärkte einräumt: Eine solche Ordnung, schreibt er, »muss auf politische Gestaltungskraft setzen, statt sie abzubauen, sie muss auf Menschenrechte und Demokratie setzen, ohne in Gestalt eines vermeintlich humanitär motivierten Interventionismus westliche Wirtschaftinteressen durchzusetzen, sie sollte auf den Aufbau einer globalen Rechtsordnung und auf globale Sozialstaatlichkeit setzen, statt eine Globalisierungsagenda durchzusetzen, die Staatlichkeit schwächt oder zerstört und Strukturen der Solidarität marginalisiert«. Eine solche liberale Weltordnung »wäre nicht libertär und ressourcenzerstörend, sondern sozial-liberal und nachhaltig. Sie stünde in der kantischen Tradition des foedus pacificum und ihr normatives Fundament wäre der Menschenrechtsdiskurs (…)«.
Bevor man im Namen eines vermeintlichen Realismus das Festhalten an solchen »Schönwettertheorien« (Herdegen) als illusionär brandmarkt, sollte man bedenken, welche Bedeutung in der internationalen Politik der glaubwürdigen Vertretung dieser Ideen in der Vergangenheit zukam und auch heute noch zukommt. Lange hat der Westen, hat seine Führungsmacht, die USA, diese Ideen propagiert und von ihrer Strahlkraft profitiert. Das Wunder des gewaltlosen Zusammenbruchs des Sowjetimperiums und der deutschen Vereinigung ist ohne die subversive Wirkung dieser sogenannten soft powers gar nicht zu erklären. Wenn aber die eigene Praxis allzu offensichtlich mit diesen Ideen kollidiert, wie sich am zweiten Irakkrieg, an den Foltergefängnissen in Abu Ghraib und Guantanamo, an der katastrophalen Bilanz der sogenannten »humanitären Intervention«, wie sich auch an der nicht selten jämmerlichen Realität der westlichen Entwicklungshilfe zeigen ließe, dann bleibt von der Glaubwürdigkeit der Verkünder dieser Idee und schließlich auch von der frohen Botschaft selbst auf Dauer wenig übrig. Vielleicht wäre es also ratsam, statt diese Ideen einer traditionellen Interessenpolitik zu opfern oder sie als Spielwiese für sogenannte »Gutmenschen« abzuqualifizieren, genauer darauf zu achten, dass die eigene politische Praxis nicht allzu offensichtlich dem hochtönenden Anspruch widerspricht.
Gernot Erler: Weltordnung ohne den Westen? Europa zwischen Russland, China und Amerika. Herder, Freiburg 2018, 208 S., 20 €. – Sigmar Gabriel: Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten. Herder, Freiburg 2018, 288 S., 22 €. – Matthias Herdegen: Der Kampf um die Weltordnung. C.H.Beck, München 2018, 291 S., 21,90 €. – Julian Nida-Rümelin: Welche Zeitenwende? In: Johano Strasser (Hg.): Das freie Wort. Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter. Allitera, München 2017, 208 S., 19,90 €. – Petra Pinzler: Der Unfreihandel. Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien. Rowohlt, Reinbek 2015, 288 S., 12,99 €.
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