Menü

Ampel in Berlin – Aufbruch für Europa?

Die Bundestagswahlen sind überall in Europa mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und das Ergebnis mit Spannung erwartet worden. Auch in den anderen europäischen Staaten war den meisten klar: Nach 16 Jahren Angela Merkel wird es in der deutschen Politik nun eine Zäsur geben.

Mit dem Übergang in die Nach-Merkel-Ära sind in Europa sowohl Erwartungen als auch Befürchtungen verbunden. Die »Kompromissmaschine« , wie der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel die Bundeskanzlerin bei ihrem wohl letzten EU-Gipfel titulierte, war nicht überall beliebt. Ihre Europabilanz ist auch bei Weitem nicht so gut, wie in den zahlreichen Reden zu ihrer Verabschiedung geurteilt wird. Ihre Fehleinschätzung über die Folgen der Bankenkrise ab 2008 hat zu einer Verschärfung der ökonomischen Kluft zwischen Nord- und Südeuropa geführt. Die mangelhafte europäische Abstimmung bei der Bewältigung der Migrationsströme in den Jahren 2015/16 hat dann auch noch eine Spaltung zwischen West- und Mittelosteuropa provoziert. Angela Merkels Methode, die allermeisten Entscheidungen nur auf Sicht zu treffen, hat notwendige Reformen in der EU verschleppt.

Bei unseren Nachbarn wurde der Verlauf des Bundestagswahlkampfes mit einigem Erstaunen wahrgenommen. Noch im Frühsommer sah es so aus, als ob Deutschland eine grüne Bundeskanzlerin bekommen würde. Die Strategen in Paris und anderswo begannen zu spekulieren, was da auf sie zukommen könnte. Danach hatte einige Wochen der Merkel-Getreue Armin Laschet die Nase vorne, also: keine Aufregung und alles beim Alten?

Im Sommer dann wurde sichtbarer, dass irgendwie die FDP Teil einer neuen Bundesregierung sein könnte. Für die einen ein Segen, für die anderen ein Schrecken. Die harte Haltung der deutschen Liberalen zur Einhaltung der Orthodoxie des Stabilitätspaktes hat insbesondere in Paris, Rom und Madrid echte Sorgenfalten in die Stirnen gegraben. Bei den sogenannten »Frugals«, den Nettozahlern aus den Niederlanden und Skandinavien dagegen wurde Christian Lindner zum Hoffnungsträger für eine Ablehnung weiterer Ansprüche an den EU-Haushalt oder neuer EU-Finanzinstrumente.

In der sozialdemokratischen Familie in Europa, aber auch darüber hinaus, wurden ab August mit Erleichterung die Umfrageergebnisse für Olaf Scholz und mit etwas Verzögerung auch die der SPD zur Kenntnis genommen, am Wahlabend dann auch ausgiebig gefeiert. Eine neue deutsche Regierung unter sozialdemokratischer Führung würde auch in der EU einen neuen Aufbruch bedeuten, für die Schwesterparteien in der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE/PSE). Die Wellen des Populismus und des Nationalismus haben im letzten Jahrzehnt den Sozialdemokraten in einer Reihe von Ländern arg zugesetzt. Der SPD-Wahlsieg wird auch als Auftrag verstanden, sich stärker in der SPE wie auch in der Zusammenarbeit mit den einzelnen sozialdemokratischen Parteien unserer Nachbarn zu engagieren.

Ein Aufbruch wird für die Europapolitik erwartet. Und der ist auch dringend nötig. Eine Großbaustelle ist die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik, denn die Währungsunion wurde nicht durch eine Wirtschafts- und Finanzunion ergänzt. Dieser Webfehler der europäischen Integration zeitigt seit 20 Jahren zunehmend negative Folgen. Die Währungs- und Geldpolitik wird europäisch bestimmt, die Wirtschafts- und Finanzpolitik national. Die starken Länder wurden stärker, so auch Deutschland, die schwächeren Länder blieben schwach und fielen weiter zurück. Der Maastricht-Vertrag hatte auf Betreiben der damaligen Bundesregierung hohe Hürden für Hilfen der starken EU-Länder an die schwächeren aufgestellt. Hinzu kommen die starren Regeln des Stabilitätspaktes, die zusätzlich Luft zum Atmen und Freiräume zum Investieren nehmen.

Dieses Regelwerk wäre schon vor über zehn Jahren bei der Bankenkrise reformbedürftig gewesen. Es kam allerdings nur zu Flickschusterei und das auch noch widerwillig. Die tiefen ökonomischen und finanziellen Einbrüche durch die Coronapandemie haben dann endlich zu einer Politik der Solidarität mit einem neuen Instrument geführt: dem Europäischen Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro. Die EU leiht sich auf den Kapitalmärkten gemeinsam Geld, um es gezielt zur Modernisierung in den Mitgliedstaaten einzusetzen und in 30 Jahren auch gemeinsam zurück zu zahlen.

Olaf Scholz hat diesen Next Generation Fonds als »Hamilton-Moment« für die EU bezeichnet. Der erste Finanzminister der USA, Alexander Hamilton, hatte seinerzeit den Mut, mit dem Geld aus föderalen Anleihen einige der zwölf Gründungsstaaten aus der Finanzmisere zu befreien und damit einen Grundstein für den Zusammenhalt der Föderation zu legen. Viele erwarten von Olaf Scholz eine Verstetigung gemeinsamer EU-Anleihen, um den Wirtschaftsaufschwung zu sichern und die gigantischen Investitionen für die digitale und grüne Transformation in diesem Jahrzehnt zu stemmen.

Gleichzeitig muss der Stabilitätspakt überholt werden. Die Verschuldensgrenze von 60 % des BIP ist nach Corona nicht mehr erreichbar und nicht mehr zeitgemäß. Gleichzeitig muss der Pakt flexibler werden. Rentable Investitionen wie jene in Forschungsprojekte und Infrastrukturmaßnahmen müssen anders gerechnet werden als rein konsumptive Ausgaben. Der nächste deutsche Finanzminister und erst recht der Bundeskanzler stehen hier schon bald vor einer ersten Bewährungsprobe.

Klimaneutralität ist das Ziel

Der Aufbruch für eine klimaneutrale EU ist in vollem Gange. Mit dem European Green Deal sind die Eckpunkte für die Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft bis 2045/50 gesetzt. Alle wissen, dass die neue Bundesregierung einen Zahn zulegen muss, um die selbstgesteckten sowie die EU-Ziele zu erreichen. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie. Der Energiesektor wird sich aufgrund des Emissionshandels und des damit verbundenen CO2-Preises von den fossilen Energien verabschieden. Der Verkehrssektor wird durch Ordnungspolitik und scharfe CO2-Grenzwerte auf emissionsfreie Antriebe umrüsten. Schwierig bleibt die Grundstoffindustrie wie die für Stahl, Metalle, Zement oder Chemie. Allein die Stahlindustrie benötigt 40 Milliarden Euro zur Umrüstung von Koks auf Wasserstoff. Ein europäischer Klimaschutz-Fonds wird zur Bewältigung dieser Transformation nötig sein.

Sozialdemokraten müssen auf die sozialen Folgen der Umrüstung und Verteuerung achten. Die EU muss helfen, die Weiterbildung und Umschulung von vielen Menschen in der Wertschöpfungskette zu finanzieren wie auch sozial schwächeren Haushalten einen Ausgleich zu gewähren. Der soziale Zusammenhalt während der Transformation ist eine Kardinalaufgabe für Sozialdemokraten. Die 22 Punkte der »Europäischen Säule sozialer Rechte« in verbindliche Regeln umzusetzen gehört ebenfalls zum Aufgabenkatalog, vom europaweiten Mindestlohn bis zur europäischen Rückversicherung bei massenhafter Arbeitslosigkeit.

Gibt es mit der neuen Bundesregierung einen Aufbruch zu einer europäischen Industriepolitik? Deutschland ist traditionell skeptisch bis ablehnend bei staatlich geförderten Industrieprojekten. Der Markt soll es regeln. Soweit die Theorie. Europa befindet sich jedoch in einem geopolitischen Umfeld, in dem andere Akteure riesige Summen in Forschung und Entwicklung neuer Technologien investieren. China und die USA werfen alles in die Waagschale, um bei IT, Bio- und Ökotechnologien die nächsten Entwicklungsstufen anzuführen. Die EU kommt nicht umhin, in ausgesuchten Bereichen, wie Wasserstoffenergie, Batterietechnik oder Supercomputing, um nur einige zu nennen, mit Anschubfinanzierung europäischen Innovationen zum Durchbruch zu verhelfen.

Und dann sind da noch die echt schwierigen Themen auf der Europa-Agenda: Eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik kommt in der EU kaum voran. Die neue Bundesregierung muss darauf beharren, dass alle EU-Mitgliedstaaten die Genfer Flüchtlingskonvention einhalten und entsprechend eine humane Behandlung und Versorgung von Geflüchteten anbieten. Die Probleme sind damit natürlich nicht gelöst. Neue Anreizinstrumente für die Aufnahme von Migranten sollten eingeführt werden. So haben sich 750 Städte in der EU bereit erklärt, Migranten zu beherbergen. Diese Bereitschaft sollte mit einem EU-Förderprogramm unterstützt werden. Die Aufnahmeblockade einiger Mitgliedstaaten könnte damit umgangen werden.

Es braucht auch ein verstärktes Engagement, mit den Herkunftsländern dieser Menschen umfassende Abkommen zu schließen, von Programmen gegen Jugendarbeitslosigkeit, über legale Kontingente der Einwanderung bis zur Rückführung nicht aufenthaltsberechtigter Personen. Die menschlichen Dramen an Europas Außengrenzen müssen ein Ende finden.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sollten für EU-Mitgliedsländer eine Selbstverständlichkeit sein. Sie sind es leider nicht mehr. Die Regierungen in Ungarn und Polen bekennen sich offensiv zur »illiberalen« Regierungsführung und der Unterminierung demokratischer Eckpfeiler, wie die Unabhängigkeit der Justiz, freie Medien und eine vielfältige Zivilgesellschaft. Der Wesenskern der EU als Wertegemeinschaft steht auf dem Spiel.

Die neue Bundesregierung muss die EU-Kommission als Hüterin der EU-Verträge unterstützen, Sanktionen gegen illoyales Verhalten zu verhängen. Die Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds sollten eingefroren bleiben, bis Ungarn und Polen Korrekturen an ihren demokratiefeindlichen Maßnahmen veranlassen. Die Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem Spiel. Da passt es ganz gut, dass auf der politischen Tagesordnung eine Selbstvergewisserung darüber steht, was die EU sein und wohin die Reise in diesem Jahrzehnt gehen soll. Die Konferenz zur Zukunft Europas soll bis zum Frühjahr 2022 einen Kompass für die weitere Integration vorlegen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich an diesen Beratungen beteiligt. Die neue Bundesregierung muss mithelfen, dass die Beschlüsse dieser Zukunftskonferenz nicht im Papierkorb landen, sondern in europäischen Gesetzen und Programmen ihren Niederschlag finden, auch in einer Veränderung des Vertrages von Lissabon, wenn die bisherige Rechtsgrundlage nicht ausreicht.

Nicht zuletzt wird die neue Bundesregierung mit etlichen außenpolitischen Problemen zu tun haben. Berlin muss sich mehr um die östlichen Nachbarn kümmern. Bei allem Groll gegen Orbán und Kaczyński dürfen die Menschen in Ungarn und Polen nicht alleingelassen werden. Wie mit dem Präsidenten auf Lebenszeit Vladimir Putin umgehen? Russland ist der östliche Nachbar der EU. Eine Kooperation auf Feldern des gemeinsamen Interesses wie der Energie- oder Klimapolitik ist nötig, trotz der Kontroverse wegen der Intervention in der Ukraine. Wie sich bei dem anbahnenden Konflikt zwischen den USA und China verhalten? Bei dem Systemkonflikt steht Europa an der Seite der Demokratien auf der Welt. Auch wird sich die EU mehr gegen unfaire Praktiken von anderen Akteuren zur Wehr setzen müssen.

Die Ampelkoalition hat nicht nur eine Reihe fulminanter innenpolitischer Themen. Die europapolitischen Herausforderungen sind nicht weniger brisant. Einen Aufbruch gibt es nur, wenn die Aufgaben und Interessen der drei Parteien im Koalitionsvertrag ausreichend geklärt sind. Nichts wäre für Europa fataler als eine neue Bundesregierung, die sich bei den ersten Bewährungsproben auf internationaler Ebene nicht einig ist.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben