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Digitale Ausgaben verdrängen zunehmend die gedruckte Tagespresse Amputation vor dem Exitus?

Die Stimmung in der Zeitungsbranche ist etwa so schlecht wie die Meldungen über ihre finanzielle Lage. Der Einbruch der Einnahmen aus Anzeigen dauert an und die Zahl der Abo-Kündigungen (»Abo-kalypse«) steigt. Die Antworten darauf lauten überall etwa gleich und sind in der Regel ziemlich hektisch aus der Hüfte geschossen: Verringerung des Zeitungsumfangs, inhaltliche Ausdünnung von der Banalisierung bis zur strikten Boulevardisierung (Basler Zeitung, Tages-Anzeiger, Frankfurter Rundschau), Verkleinerung der Redaktionen und Kürzung der Etats für Pauschalisten und »freie« Journalisten, Kooperationsverhältnisse mit anderen Zeitungen, d. h. kostensparendes Nachdrucken insbesondere von Berichten und Reportagen der Auslandskorrespondenten. Das Ergebnis ist bereits absehbar: Bevor die Zeitungen ganz eingehen, schwinden Vielfalt und Originalität und mit ihnen ganz zwangsläufig die Qualität.

Je weniger diese gleichsam homöopathisch dosierten Sanierungsmaßnahmen wirksam werden, desto mehr werden radikalere Lösungen empfohlen. Der Abschied von der von vornherein hybriden Gratiskultur im Online-Sektor, als ob Qualitätsjournalismus kostenlos zu haben wäre, ist längst überfällig. Die Chancen und Risiken von Bezahlschranken sind allerdings fast unberechenbar und die Ergebnisse, soweit sie ehrlich dokumentiert und nicht nur mit wenig aussagekräftigen Klickzahlen frisiert werden, bleiben – gelinde gesagt – durchwachsen bis enttäuschend.

Als letzte Station vor dem Aus empfehlen Berater und Sanierer sozusagen als letzten Rettungsanker die Amputation, d. h. den kompletten oder teilweisen Verzicht auf Printausgaben. Am Beispiel der vollzogenen Ergänzung der Printausgabe beim Guardian und des Verzichts auf diese beim Independent 2016 in Großbritannien sowie der für 2022 ins Auge gefassten Einstellung der Printausgabe bei der tageszeitung (taz) werden die tatsächlichen bzw. mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Folgen sichtbar.

Der 1821 gegründete Guardian erschien bis 1959 als The Manchester Guardian, von da an als The Guardian, zog 1964 nach London um und wurde jahrzehntelang vom Scott-Trust (benannt nach dem schwerreichen, langjährigen Chefredakteur C. P. Scott) über Wasser gehalten. Trotz des Erfolgs herausragender Reportagen etwa über Folter im Irak, die Geschäftspraktiken von »Cambridge Analytica« oder die Snowden-Papiere blieb das Blatt immer defizitär – am Schluss mit über 50 Millionen Pfund pro Jahr. Mit der neuen Chefredakteurin Katharine Viner wagte die das angesehene Blatt tragende Stiftung 2017 einen radikalen Kurswechsel – die Ergänzung der Printausgabe durch eine mit einer teuren Investition auf die Gleise gehobenen digitalen Ausgabe. Dafür wurden etwa 100 IT-Fachleute eingestellt. Die digitale Ausgabe ist frei zugänglich, die Auflage der Print-Ausgabe liegt heute bei rund 140.000 Exemplaren (2005 waren es noch 400.000). Der digitale Guardian hat heute mit seinen England-, Australien- und USA-Ausgaben täglich 160 Millionen »Leser«, wenn man die Mitglieder der ziemlich unübersichtlichen »Klick-Community« 1:1 in Leser umrechnet. Diese Community spendet freiwillig für die Nutzung, sofern die Nutzer nicht zu den 200.000 Premium-App-Abonnenten mit rund sieben Pfund Beitrag pro Monat gehören.

2018 erwirtschaftete der Guardian erstmals nach Jahrzehnten einen Gewinn in Höhe von 800.000 Pfund, nachdem unter dem Vorgänger von Katharine Viner noch 80 Millionen Pfund für eine eigene Druckerei versenkt worden waren. Der Erfolg der Strategie Viners, die von sich selbst sagt, »ein Allesfresser« zu sein, »wenn es um Informationen und Nachrichten geht«, wurde mit einer Banalisierung und Boulevardisierung der Print- und der Digitalausgabe erkauft.

Die nach Klickzahlen sehr erfolgreiche Performance des Guardian ist aber nicht so leicht verallgemeinerbar, denn sie ist an spezifische Bedingungen gebunden – vor allem daran, dass beide Produkte in der Weltsprache Englisch erscheinen –, aber auch an die globale Attraktivität einer englischen Publikation für Werbekunden. Über diesen doppelten, durch die Sprache bedingten Vorteil können sich französische und spanische Zeitungen wahrscheinlich auch behaupten, deutsche Publikationen aber mit Sicherheit nicht.

Eine empirisch einwandfreie Studie zur Umstellung des Independent von der Print- auf eine digitale Ausgabe ergab, dass Printleser die Zeitung etwa fünfmal länger lesen als Nutzer der Netzausgabe – nämlich 37 statt 7 Minuten. Vielleicht ist die Prognose richtig, dass Printleser mittelfristig zu Exoten werden und langfristig gesehen zum Aussterben verurteilt sind. Mit diesem Prozess aber ist auch ein nicht geringes Risiko für eine funktionierende Demokratie verbunden, die ohne gut informierte Bürgerinnen und Bürger undenkbar ist. Natürlich sind Umfragen bei Printlesern nicht über alle Zweifel erhaben und ergeben kein vollständiges Bild über das Informationsniveau der Leserschaft. Aber verglichen mit der Messung von Klickzahlen geben Leserumfragen belastbarere Informationen über den zumindest wahrscheinlichen Informationsstand des Publikums.

Neben den zu erwartenden Aufmerksamkeits- bzw. Wahrnehmungsverlusten beim Übergang zu Online-Produkten fallen auch die Kollateralschäden bei der Umstellung ins Gewicht. Beim Guardian entfielen durch die Teilumstellung die Stellen von 330 Angestellten und von 120 Redaktionsmitgliedern. Beim Independent wurde die Redaktion von 200 Mitgliedern auf 110 fast halbiert. Zwiespältig ist die finanziell erfolgreiche Umstellung des Independent, weil sie auf dem Wachstum des digitalen Anzeigengeschäfts beruht sowie auf Lohnsenkungen für die Restbelegschaft. Mit publizistischer Qualitätssicherung hat beides – das Anzeigengeschäft und die Lohnkürzungen – nichts zu tun.

Im Umfeld der Veranstaltungen zum 40-jährigen Bestehen der taz wurde bekannt, dass für 2022 über die Einstellung der Printausgabe nachgedacht wird. Die Zeitung wird von der seit 1992 bestehenden Genossenschaft mit heute knapp 20.000 Mitgliedern getragen. Die Genossenschaftsanteile von 500 bis 100.000 Euro gewähren ein vom Zeichnungsbetrag unabhängiges, egalitäres Stimmrecht. Diese Konstruktion macht das Blatt doppelt unabhängig – von den Geldgebern und vom schwankenden und schwindenden Anzeigenmarkt bzw. von Werbeeinnahmen. Dies erklärt auch, warum die Zeitung heute so etwas wie einen Solitär in der Branche darstellt.

Der langjährige Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch verabschiedete sich in den Ruhestand mit der Prognose: »Das Zeitalter der gedruckten Zeitung ist zu Ende, der Journalismus lebt weiter im Netz«. Es fragt sich natürlich, welche Art von Journalismus auf welchem Niveau weiterlebt. Auch die taz, die wie der Guardian keine Bezahlschranke kennt, setzt auf freiwillige Spenden von Nutzern der Online-Ausgabe. Dadurch soll nach von außen nicht überprüfbaren Angaben monatlich eine fünfstellige Summe zusammenkommen. Es gibt also finanziell gesehen keine akuten Gründe, die Print-Ausgabe einzustellen. Nach vielen Krisen schreibt die taz mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren, davon 27.000 Abonnenten, seit 2008 schwarze Zahlen.

Damit ist die taz die mit Abstand kleinste der wenigen überregionalen Zeitungen in der Bundesrepublik. Um den Status eines landesweit wahrgenommenen Blattes zu erhalten und zu stärken, könnte der Ausbau der digitalen Ausgabe auf Kosten der Print-Ausgabe, die 2022 eingestellt würde, ein rationales Kalkül sein. Über die Frage, wie realistisch dieses Szenario ist, lässt sich jedoch nur spekulieren. Ein leichter Druck, auf die Printausgabe zu verzichten, kommt jedoch von zwei anderen Seiten – durch die Höhe der Vertriebskosten und das Durchschnittsalter der Abonnenten.

Die hohen und tendenziell steigenden Vertriebskosten und die Unwägbarkeiten der Entwicklung der Vertriebssysteme, deren Träger unrentable Regionen lieber heute als morgen »vergessen« möchten, sowie die unabsehbaren Kosten und Zumutungen bei der Postzustellung könnten die Geschäftsführung in Zukunft zu einem radikalen Schnitt zwingen, weil diese Faktoren das Blatt in rote Zahlen herunterdrücken. Dasselbe gilt für die Abonnenten der Printausgabe. Deren Durchschnittsalter liegt bei 57 Jahren, während die Besucher der Website im Durchschnitt nur 35 Jahre alt sind. Die Frage, ob man die Zeitung lieber im Internet, auf dem Smartphone oder Tablet oder doch auf Papier lese, ist mithin keine nach den Lesegewohnheiten oder dem Kontostand, sondern nach dem Alter. Und sie könnte zum Sargnagel für die Printausgabe der taz werden.

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