Mit dem kalendarischen Frühlingsbeginn kam der pädagogische Wintereinbruch: Der Shutdown der Schulen im März 2020 hatte alle Beteiligten kalt erwischt. Und schnell wurde deutlich, die Verschärfung der Bildungsmisere im Land kommt vor allem binär daher: 1 (vorhanden) oder 0 (nicht vorhanden) lautet die Frage. Bei Laptops/Tablets, schnellen Datenleitungen, Druckern etc. steht meist die Null.
Die Reihe ließe sich beliebig verlängern, auch und insbesondere über die bloße Frage nach vorhandener Soft- oder Hardware hinaus. Homeschooling oder das Lernen auf Distanz hat viele Familien massiv unter Druck gesetzt. Vor allem aber wurde einmal mehr deutlich, wie stark der Bildungserfolg in unserem Land vom finanziellen oder Bildungshintergrund der Eltern abhängt. Und die zum Teil massiven Ausstattungsmängel bei den Schülerinnen und Schülern sowie den Schulen wurden schonungslos offengelegt. Es fehlte an Geräten, Serverkapazitäten und Grundlagenwissen. Selbst Schulen, die sowohl technisch als auch in Bezug auf die Kompetenz der Lehrenden über einen guten digitalen Standard verfügten, mussten eingestehen, dass es ihnen in der Phase des Shutdowns nicht gelungen ist, alle Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Es gibt Haushalte, in denen das Mobiltelefon das einzige digitale Endgerät darstellt. Das Bemühen, diese via Postwurf und auf Paper-and-Pencil-Basis auf dem Laufenden zu halten, konnte aufgrund des mangelnden direkten Austauschs nur eingeschränkt erfolgreich sein. Auch wenn eine Videoschalte den direkten Austausch im Unterricht nicht ersetzen kann, so erlaubt sie aber zumindest eine Interaktion mit Visualisierungen und konkretem Nachfragen, die bei »Postwurfbeschulung« nicht möglich ist. Hinzu kam, dass Lehrkräfte weder über Dienstlaptops noch Diensthandys verfügten. Die Kultusverwaltung konnte somit die Nutzung von digitalen Geräten im Distanzunterricht nicht anordnen – schließlich hatte sie keine bereitgestellt.
Insofern erübrigt sich auch die Frage nach einer digitalen Revolution an unseren Schulen. Keine Frage, es gab bemerkenswerte Pionierleistungen, die Vorhandenes konsequent ausgeweitet und manches Neuland erschlossen haben. Für Baden-Württemberg ließ sich aber beispielsweise auch feststellen, dass die gravierenden Fehler der Vergangenheit die Kultusverwaltung massiv eingeholt haben. Das 2019 in einem über 80 Seiten starken Bericht des Rechnungshofes aufgearbeitete Scheitern beim Aufbau der digitalen Bildungsplattform ELLA verbrannte nicht nur einen zweistelligen Millionenbetrag. Es gingen auch vier Jahre Zeit verloren. Bis heute verfügen die Schulen im Land nicht über eine einheitliche Lösung für eine direkte (auch videogestützte) digitale Kommunikation, die die Bereitstellung pädagogischer Materialien ermöglicht.
Bemerkenswert, dass die CDU die Hauptverantwortliche für dieses Scheitern zur Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2021 bestimmte.
Wie es funktionieren könnte
Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat Ende Mai 2020 unter dem Titel »Schulen in Zeiten der Pandemie« eine Stellungnahme herausgegeben, die das aktuelle Dilemma beschreibt. Niemand kann sicher vorhersagen, wie der Stand im Schuljahr 2020/21 sein wird: Präsenzunterricht, Fernunterricht oder eine Mischung? Klar ist aber, das kommende Schuljahr darf für die Schülerinnen und Schüler kein verlorenes sein!
»Wir wissen es nicht…« kann aber nur bedeuten, dass die Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden, nicht nur schnell umgesetzt werden, sondern auch im besten Falle (also keine weiteren Corona-bedingten Einschränkungen vorausgesetzt) einen klaren pädagogischen Fortschritt erzielen müssen.
Die SPD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg hat zeitgleich zur FES unter dem Titel »Das krisenfeste Klassenzimmer« eine politische Antwort auf die skizzierte Herausforderung formuliert und Anfang Juni der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Papier hat zwei Stoßrichtungen: Bildungsnachteile bekämpfen und Digitalisierung vorantreiben. Gefordert wird u. a. ein mindestens 10 Millionen Euro umfassendes Landeshilfsprogramm unter Einbindung von zertifizierten Weiterbildungsträgern wie den Volkshochschulen. Nachdem Vorbild des anerkannten Mannheimer Unterstützungssystems Schule (MAUS) sollen Schulen flexibel eigene Budgets erhalten und Nachhilfestunden im eigenen Haus einkaufen können. Dies soll sowohl in den Ferien als auch laufend während des Schuljahres erfolgen, insbesondere falls ein Einsatz von Lehrkräften der sogenannten Risiko-Gruppe nicht oder nur auf Distanz möglich ist. Flankiert werden soll dies durch eine weitere Ausweitung der Schulsozialarbeit.
Die Schulen sollen darüber hinaus endlich umfassend zeitgemäße Mittel nutzen können. Bis Ende 2022 sollen nach unseren Vorstellungen alle Schulen im Land mit einer Ein-Gigabit-Leitung und ausreichender WLAN-Abdeckung ausgestattet sein. Bis Ende 2020 sollte hierzu ein mit den Kommunen abgestimmter Ausbauplan vorliegen. In künftigen Konjunkturpaketen soll der Sanierung von Schulen als Investitionsmaßnahme eine hohe Priorität eingeräumt werden. Es müssen unverzüglich schulartspezifische Standards für eine digitale Grundausstattung der Schulen definiert werden. Die Realisierung dieser »Basics« muss unabhängig von der Erstellung von Medienentwicklungsplänen erfolgen. Damit sollen die Mittel des Digitalpakts ohne Verzögerung zugänglich gemacht werden. Es ist nicht zu akzeptieren, dass bis Juni 2020 vom Fünf-Milliarden-Paket des Bundes gerade mal Anträge mit einem Gesamtvolumen von 125 Millionen Euro bewilligt werden konnten.
Die Fortbildung der Lehrkräfte muss kontinuierlich verbessert und ausgebaut werden. Insbesondere Angehörige der Risikogruppen sollten die Abwesenheitszeiten vom Präsenzunterricht hierfür nutzen können. Der datenschutzkonforme Einsatz des Kollaborationstools MS Teams und von Messenger-Diensten unter Einbindung der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern muss ermöglicht werden. Und auch wenn der Besitz eines Tablets oder Laptops nicht per se klüger macht, hat der Nichtbesitz im Jahr 2020 faktisch zur Exklusion von Bildung geführt. Die Bundesmittel vom Mai 2020 zur Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten haben hier einen wichtigen Schub gegeben, dabei aber nicht die Versorgung mit ausreichender Internetverbindung und Datenvolumen mitbedacht. Wir brauchen vor diesem Hintergrund eine gesellschaftliche Debatte um eine »digitale Grundsicherung«, die auch Teil der allgemeinen Grundsicherung ist. Eine Spaltung der Gesellschaft zwischen online und offline oder zwischen schnellen und langsamen Datenleitungen führt zu einem weiteren Öffnen der sozialen Schere, nicht zuletzt auch in der Bildung.
Die Debatte um die Digitalisierung der Schulen darf aber hier nicht stehen bleiben. Durch die Coronakrise haben viele Schulen pädagogische Potenziale erschlossen: Ausweitung von Erklärvideos, Videokonferenzen, Umstellung von Unterrichtskonzepten auf digitale Formate, Ausbau von schuleigenen Serverkapazitäten usw. Dieser Weg muss kreativ weiter beschritten werden. Ein bloßes Zurück zum Regelbetrieb ante Corona darf es nicht geben. Schulen sollten im Ganzen als lernende Organisationen begriffen werden. In jedem Fall müssen die Potenziale des Lernens unabhängig von Zeit und Raum weiterentwickelt werden. Schülerinnen und Schülern könnte es dann z. B. im Krankheitsfall ermöglicht werden, Inhalte nachzuarbeiten oder sich bei Mobilitätseinschränkung von zu Hause datenschutzkonform am Unterricht live zu beteiligen. Die pädagogischen Potenziale digitaler Technik sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Welchen Beitrag Fortentwicklungen in den Bereichen erweiterter oder virtueller Realität, Simulationen, additiver Fertigung (3D-Druck) oder Gamification-Ansätze leisten können, muss im Zusammenspiel von Forschung und Praxis weiter untersucht werden. Schulische Modellversuche sind notwendig und sollten nach erfolgreicher Evaluation breit ausgerollt werden. Dies gilt neben der allgemeinen insbesondere für die berufliche Bildung. Bund wie Länder sollten hierfür weitere Mittel für digitale Innovationsprojekte bereitstellen.
Wir müssen uns in Deutschland aber auch entscheiden, ob wir in Zukunft digitale Produkte nur konsumieren oder auch verstehen und selbst entwickeln wollen. Die Anstrengungen in Sachen Coding sind immer noch viel zu schwach ausgeprägt. Es bedarf verbindlicher Unterrichtseinheiten, die spielerisch bereits früh einsteigen können.
Wird es also eine umfassende Digitalisierung an unseren Schulen geben? Es wäre zu wünschen. Aber jeder Bildungslobbyistin und jedem Bildungslobbyisten sollte klar sein, dass dies auch nach der Coronakrise kein Selbstläufer sein wird. Sollte der gewünschte Regelbetrieb an Schulen wieder stattfinden, werden möglicherweise manche Diskussionen aufgrund finanzieller Restriktionen schnell wieder verstummen. In Baden-Württemberg hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann bereits erklärt, dass die Schulden zur Krisenbewältigung innerhalb von zehn Jahren zurückgezahlt werden müssen. Es droht Ungemach für den größten Haushaltsposten, dem Kultusetat. Eine Sparpolitik auf Kosten der Bildung und insbesondere der digitalen Fortentwicklung unserer Schulen würde aber nichts anderes bedeuten als die Erfahrungen 2020 ad absurdum zu führen. Es wäre auch fatal mit Blick auf eine mögliche neue Pandemie – wer jetzt nicht entschieden handelt, muss sich den Fragen nach politischer Verantwortung und Fahrlässigkeit stellen. Bildung braucht Investitionen. Wir müssen mit unseren Schulen endlich im 21. Jahrhundert ankommen.
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