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Apokalypseblindheit – Günther Anders wiedergelesen

Günther Anders war ein Jahrhundertmann. 1902 als Günther Stern in Breslau geboren, starb er 1992 in Wien. Er wurde Zeuge der Katastrophen seines Jahrhunderts: Nationalsozialismus, Verfolgung, Exil, Krieg, Rüstungswettlauf, Atomkraft, Umweltzerstörung. Es lohnt sich, Günther Anders wieder zu lesen. Gerade heute.

Der bekannte Psychologe William Stern war sein Vater. Günther Anders war verwandt mit Walter Benjamin und kurzzeitig mit Hannah Arendt verheiratet. Er studierte bei Husserl und Heidegger und lernte Marcuse und Adorno in Frankfurt kennen. 1933 musste er zunächst nach Frankreich und dann in die USA fliehen.

In den beiden Bänden seines Hauptwerkes Die Antiquiertheit des Menschen (die 1956 beziehunghsweise 1980 erschienen) entfaltete Günther Anders eine philosophische Anthropologie im Zeitalter der Technokratie. Weltweit bekannt wurde er allerdings durch seinen 1961 veröffentlichten Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly.

Wir leben in einer Welt, in der die Menschheit sich selber auslöschen kann. Früher als andere hatte Günther Anders das erkannt und analysiert. Er fragte nach den Gründen und Mechanismen dieser Entwicklung und er suchte nach einem Selbstverständnis des modernen Menschen, das Verantwortung und Veränderung möglich macht. Was würde Günther Anders wohl heute zu den Beherrschungsstrategien von Google, Elon Musk oder Mark Zuckerberg sagen, ganz zu schweigen von den weltweit um sich greifenden autoritären Führergestalten?

Die Antiquiertheit des Menschen

Der Mensch passt nicht in die technisierte Welt, die er selbst geschaffen hat. Er ist der Perfektion seiner Produkte nicht ebenbürtig. Er ist in der Lage, mehr herzustellen als er sich vorstellen kann, und er glaubt, das, was er machen kann, auch machen zu dürfen. Der Mensch, so folgert Günther Anders, ist antiquiert, er ist der technisch-industriellen Welt nicht gewachsen: emotional und moralisch nicht, rational und politisch auch nicht. Der atomare Rüstungswettlauf, die zivile Nutzung der Kernenergie, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Umweltzerstörung belegen diese Tendenz.

Unsere Gegenwart ist die Endzeit. Die Entscheidung über Sein oder Nicht-Sein der Welt ist in unsere Menschenhände gelegt. Wir Menschen bedrohen unseren Fortbestand nicht, weil wir entschlossen hätten, böse zu sein, sondern weil wir nicht überblicken, was wir bewirken. Günther Anders mahnt: Heute kommt es nicht mehr darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zuerst einmal zu erhalten. Ist er also bloß ein konservativer Pessimist?

Anders positionierte sich gegen Ernst Bloch. Dieser suchte nach Hoffnungsimpulsen, die unheilvolle Tendenzen bremsen oder gar verhindern können. Die Technokratie ermöglicht es den Menschen nicht, überhaupt solche Tendenzen wahrzunehmen, also werden auch keine hoffnungsvollen Ansätze zum Widerstand entwickelt werden können. Von dieser Grundsatzposition aus wandte sich Anders gegen jede Art von Messianismus – ob christlich (der Messias ist »schon da«) oder jüdisch (der Messias ist »noch nicht« da) –, weil die Gegenwart dem »Nicht-Mehr« entgegentreibt. Da hilft kein religiöser Erlöser und kein linker Revolutionsführer. Günther Anders stellte ernüchtert fest, dass noch keiner in der Lage war, die radikale Wende vom »Noch-Nicht« zum »Nicht-Mehr« mitzuvollziehen. Wir müssen ohne Hoffnung auskommen.

Der realistische Blick auf die Gegenwart sieht keinen Anlass für Fortschritt, Zukunft oder Hoffnung. Auch wenn er zu den Mitbegründern der Anti-Atom-Bewegung gehörte, gelang es Anders nicht, ein historisches Subjekt des Protestes gegen den realen Zynismus abzugeben. Auch wenn er jede moralische Bewertung für unmöglich hielt, leistete er doch mit seinen Analyse der Zeitzeichen einen Appell an das Gewissen.

Man wird Günther Anders nicht missdeuten, wenn man ihn als areligiösen Nihilisten bezeichnet. Dennoch verwendet er dezidiert theologische Gedanken, die noch über seine Prophezeiung einer Apokalypse ohne Durchbruch zum Reich Gottes hinausgehen. Die moderne technisierte Welt besitzt selbst eine religiöse Dimension, stellte Anders fest. Als tragende Elemente dieser Welt führt er an: Wir modernen Menschen können etwas, was sonst nur Gott vorbehalten war: die gesamte Menschheit auslöschen mit allem, was ihre Vergangenheit ausmacht und was ihre Zukunft ermöglicht.

Dieser Allmacht entspricht aber andererseits eine absolute Ohnmacht. Wir sind nicht einfach nur sterblich, sondern Hiroshima und Auschwitz haben gezeigt, dass wir tötbar sind. Es gibt keinen privaten – vielleicht auch guten – Tod mehr. Die Möglichkeit der gewaltsamen Selbstvernichtung auch der noch ungeborenen Menschen ist etwas anderes als das individuelle Sterben. Meine Existenz, meine Ebenbildlichkeit, meine Einmaligkeit sind unwichtig, denn ich werde nicht planmäßig und gezielt vernichtet. Ich bin nicht persönlich gemeint.

Aufruf zur Gewalt

Früher als andere hatte Günther Anders die Katastrophen von Auschwitz und Hiroshima wahrgenommen als substanzielle Herausforderungen an die abendländische Philosophie und Theologie. Er verzichtete auf moralisch aufgeladene Appelle an das politische Handeln, wollte dazu anhalten, unser Selbst- und Weltverständnis zu reflektieren. Und zwar ohne jede Form der Anpassung.

Im Jahr seines 85. Geburtstages – es war 1987 und somit ein Jahr nach dem Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl – überschritt Günther Anders allerdings eine Grenze. Er forderte dazu auf, jeden totzuschlagen, der für Atomwaffen oder Atomkraftwerke eintritt. Das sei ein Akt individueller Notwehr, um zu verhindern, dass die kollektive Zukunft vernichtet werde. Das erregte großes Aufsehen. Viele Mitstreiter aus der Anti-Atom-Bewegung distanzierten sich von Anders und kritisierten ihn heftig. Tatsächlich nahm er hier – vielleicht aus Verzweiflung? – eine Position ein, die sonst nur von Nazis oder Stalinisten, die er doch selbst so verabscheute, eingenommen wurde.

Von Günther Anders ließe sich noch viel in das aktuelle Bewusstsein holen. Etwa aus seinen Erfahrungen als Emigrant. Diese liefern hilfreiche Überlegungen zur Orientierung in unserer Gegenwart. Als Emigrant musste er die Erfahrung machen, immer von der Erlaubnis anderer (Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung) abhängig zu sein, also unter einer »Lebenserlaubnis« zu existieren. »Leben im Plural« hat Günther Anders das genannt, weil es für einen Emigranten keine durchgehende Biografie gibt. Die Empfindung der Scham aus Erniedrigung und Ungenügen bestimmt den Emigranten. Er fühlt sich überflüssig und unwürdig.

Würde und Identität eines Menschen können nur dann bewahrt werden, wenn man von anderen bedacht und als gültig anerkannt wird, wenn man von ihnen in Anspruch genommen wird. Cogitor ergo sum – man denkt an mich, also bin ich – hat Günther Anders formuliert. Es gibt nicht das autonome Subjekt, das selbst entscheidet, wer es sein will. Sondern es gibt den Unterdrückten, den Verfolgten, den Geflohenen, der auf Anerkennung angewiesen ist, damit er frei leben kann.

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