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© Håkan Dahlström/flickr (lizenziert unter CC BY 2.0)

Unsere Zeit braucht eine starke Friedensbewegung Appell: Warnung vor dem doppelten Selbstmord

Dann droht zum einen ein schneller Selbstmord, der durch eine erneute atomare Aufrüstung in Gang gesetzt werden kann, zum anderen ein langsamer Selbstmord, der sich vor unseren Augen durch die sich beschleunigende Erderwärmung und globale Naturzerstörung vollzieht. Der Frieden ist daher gleichzeitig von mehreren Seiten gefährdet. Die Folgen dieser Herausforderungen sind erbitterte Verteilungskämpfe und gewalttätige Konflikte. Beides muss im Zusammenhang gesehen werden. Die Menschheit steht an einem Wendepunkt und die ganze Tragweite der Entwicklung wird wahrscheinlich erst in einigen Jahrzehnten richtig deutlich. Deshalb müssen wir heute handeln – unserer Kinder und Enkelkinder wegen.

Frieden, unvollkommen allemal, kann in der zu einer zerbrechlichen Einheit zusammenwachsenden Welt nicht allein als die Abwesenheit von Krieg definiert werden. Selbst in der Europäischen Union, die 2012 für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, stehen wir am Rande des Friedens. Unter den Bedingungen eines entfesselten Marktkapitalismus und seiner neoliberalen Heilslehren weltweit spitzen sich soziale Polarisierungen und ökologische Zerstörungen zu und lösen Gewalt aus. Deshalb dürfen wir der wachsenden Ungleichheit ebenso wenig tatenlos zuschauen wie dem Sterben der Natur. Schon in wenigen Jahrzehnten können weitere 1,5 Milliarden Menschen mit ungebrochenem Hyperkonsum auf der einen und nachholender Industrialisierung auf der anderen Seite in Verbindung mit dem Klimawandel, dem Erreichen der maximalen Ölfördermenge (Peak-Oil) und der maximal möglichen Wassernutzung (Peak-Water) sowie dem Zusammenbruch landwirtschaftlicher Systeme negative Synergien erzeugen, deren Folgen jenseits unserer Vorstellungskraft liegen.

Wer sich um den Frieden sorgt, hat die Pflicht sich einzumischen. Die Politik hat sich bisher jedenfalls als unfähig erwiesen, die Gefahren abzuwenden und überzeugende Alternativen zu entwickeln. In dieser Situation unserer »überbevölkerten, ungleichen, verschmutzen und störanfälligen Welt« (Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen von 1987) erleben wir eine noch 1990 überwunden geglaubte Militarisierung der Politik durch neue Hochrüstung. Krieg, soziales Elend und Klimakatastrophe sind aber kein Schicksal. Sie haben eine Vorgeschichte, die wir hinnehmen oder verändern können.

Notwendig ist ein grundlegender Kurswechsel, sowohl hin zu einer neuen Entspannungspolitik und zu einem System gemeinsamer Sicherheit als auch durch eine sozialökologische Transformation, die zu einer nachhaltigen Entwicklung der menschlichen Zivilisation führt, den Zusammenhalt Europas stärkt und damit weltweit ausstrahlt. Dafür braucht unser Land eine starke Friedensbewegung, die mit Gewerkschaften, Sozialorganisationen und Umweltbewegung eng verzahnt ist. Wie in den 80er Jahren, in denen die Ablehnung der Atomkraft – sowohl durch die atomare Überrüstung als auch durch den Super-GAU von Tschernobyl – die gemeinsame Klammer war.

Damals hat die Friedensbewegung, der wir seit Jahrzehnten in verschiedenen Funktionen eng verbunden sind, in beiden Teilen des geteilten Deutschlands Mut und Weitsicht bewiesen. Aus diesen Erfahrungen wissen wir, was zu tun ist, auch wenn heute andere Ausgangsbedingungen und Herausforderungen vorliegen: Abrüsten statt aufrüsten für eine neue Entspannungspolitik jetzt! Dafür brauchen wir einen breiten, die herkömmlichen Lager übergreifenden gesellschaftlichen Diskurs über das, was angesichts der gewaltigen technologischen und ökonomischen Machtkonzentration sowie des hohen militärischen Vernichtungspotenzials getan werden muss.

Der schnelle Selbstmord

Mit dem drohenden Zusammenbruch der Rüstungskontrollarchitektur und der rasanten Erhöhung der Militärausgaben stehen die Zeichen wieder auf Hochrüstung. Die Geschwindigkeit und Zerstörungskraft moderner Waffensysteme vergrößern die Option einer Auslöschung der Menschheit. Nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI lagen die globalen Militärausgaben 2018 mit 1,822 Billionen US-Dollar auf dem höchsten Stand seit 1988. Davon entfallen allein auf die ersten zehn Länder 74,7 %. Die USA liegen an der Spitze mit einem Anteil von 36 %.

Während der damalige US-Präsident Ronald Reagan in den 80er Jahren bemüht war, die in der Nachkriegszeit durchgesetzte sozialstaatliche Einhegung des westlichen Kapitalismus abzubauen, verfolgte er einen »schmutzigen Keynesianismus«, der nicht nur die UdSSR totrüsten, sondern auch die angeschlagene US-Industrie stabilisieren sollte. Reagan trieb die Rüstungsausgaben auf fast 7 % des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts hoch. Nachdem es nach den historischen Ereignissen der Jahre 1989/90, dem Ende der Ost-West-Teilung der Welt, zu deutlichen Senkungen gekommen war, stiegen in den letzten Jahren viele Rüstungsetats wieder an. Allein für die Modernisierung der amerikanischen Atomwaffen sind in den nächsten Jahren rund 500 Milliarden US-Dollar vorgesehen.

Dem Spitzenreiter USA folgen China, Saudi-Arabien, Indien und Frankreich. Russland liegt an sechster Stelle. In Deutschland wurden die Militärausgaben seit 2014 bereits um mehr als ein Drittel erhöht. Derzeit steht unser Land mit 49,5 Milliarden US-Dollar auf Rang acht. Grundlage für die massive Steigerung in den NATO-Staaten ist der rechtlich nicht verbindliche, aber von den Regierungen akzeptierte Beschluss, die Ausgaben bis zum Jahr 2024 auf jährlich 2 % des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Je nach wirtschaftlicher Entwicklung der nächsten fünf Jahre würde Deutschland mit einer Summe von dann fast 90 Milliarden US-Dollar wahrscheinlich auf Rang vier vorrücken. Insbesondere die Regierungspartei SPD muss sich fragen lassen, ob sie daran wirklich beteiligt sein will. Tatsächlich sind die 2 % ein Fetisch, der keinen Bezug zu einer zeitgemäßen, rationalen Sicherheitspolitik hat. Sie sind, wie Theo Sommer, der frühere Chefredakteur der Zeit, konstatierte, eine Milchmädchenrechnung. Abgesehen davon, dass für die Aufgaben, die für den Frieden wirklich wichtig sind, viel Geld fehlen würde.

Das Wettrüsten kommt also wieder in Gang. Das zeigt auch die Aufkündigung des Vertrags über das Verbot von landgestützten Mittelstreckenraketen (INF) zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Russland, den Ronald Reagan und Michail Gorbatschow am 8. Dezember 1987 unterzeichnet haben. Wenn es nicht bis zum 1. August 2019 noch zu einer Verständigung kommt, bricht ein zentraler Grundpfeiler der internationalen Sicherheitsordnung weg, der durch die Ausschaltung eines ganzen Waffensystems vor allem Europa Schutz gegeben hat. Der INF-Vertrag war ein Durchbruch, der zur Verschrottung von mehr als 2.600 landgestützten Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern sowie ihrer Abschussvorrichtungen geführt hat. Heute werfen sich Washington und Moskau gegenseitig vor, den Vertrag zu verletzen. Statt die Streitigkeiten auf dem vertraglich vorgesehenen Weg zu klären, nimmt auf beiden Seiten die Konfrontationsbereitschaft zu. Sie kündigen an, neue superschnelle Waffensysteme mit einer Geschwindigkeit von Mach 20, also rund 21.000 Stundenkilometern, in Stellung zu bringen.

Die Aufkündigung des INF-Vertrags wird zudem gravierende Folgen für weitere Abkommen zur Rüstungskontrolle haben. Gefährdet ist insbesondere die Verlängerung des New-Start-Abkommens, das die nukleare Stabilität zwischen den USA und Russland, die zusammen über mehr als 90 % aller Atomwaffen verfügen, regelt. Das Säbelrasseln wird lauter. In den USA gibt es starke Stimmen wie die von John Bolton, dem Sicherheitsberater von Präsident Donald Trump, die eine Rüstungskontrolle generell ablehnen. Wladimir Putin droht mit der Stationierung neuer Interkontinentalraketen. In Westeuropa werden die Stimmen lauter, die eine Ausweitung der nuklearen Option fordern, so auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Sie will, dass die ganze Palette militärischer Strategien auf dem Tisch bleibt. Und dabei ist der heraufziehende Konflikt zwischen den Supermächten USA und China noch gar nicht in Rechnung gestellt.

Der langsame Selbstmord

Denkbar wird auch die »ökologische Selbstvernichtung« (Siegfried Lenz). Wir sind Mitwisser und Mittäter einer immer schnelleren Überlastung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Entscheidend ist, dass die Vernichtung der Umwelt- und Naturgüter in den letzten Jahrzehnten eine globale Dimension angenommen hat. Der ökologische Fußabdruck ist so groß, dass die Menschheit bereits jetzt 1,7 Erden bräuchte, um die jährliche Regenerationskraft unseres Planeten zu sichern. Im letzten Jahr wurde der Welterschöpfungstag bereits am 1. August erreicht. In vier von neun Dimensionen des Erdsystems, die für das Leben der Menschen essenziell sind, werden planetarische Grenzen überschritten: beim Klimasystem, bei der biologischen Vielfalt, beim Stickstoffkreislauf und bei den Süßwasserreserven.

Nach den Berechnungen des Weltklimarates wird wahrscheinlich um das Jahr 2040 die erste kritische Marke einer globalen Erwärmung um 1,5° Celsius erreicht werden. Dabei hatte die internationale Staatengemeinschaft bereits auf dem Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro den UN-Klimarahmenvertrag beschlossen, der die Grundlage der internationalen Klimadiplomatie ist und eine deutliche Verringerung der Treibhausgase vorgab. Doch tatsächlich haben sich seitdem die wärmestauenden Emissionen nahezu verdoppelt. Auch das Abkommen von Paris vom Dezember 2015 bleibt weit hinter dem Notwendigen zurück. Sollten die dort vorgelegten Selbstverpflichtungen umgesetzt werden, wird die Erderwärmung je nach Wahrscheinlichkeitsannahmen bis zum Ende unseres Jahrhunderts bei 2,8 bis 3,2° Celsius liegen. Seit dem Pariser Abkommen sind mehr als drei Jahre vergangen, ohne dass es einen Durchbruch oder wenigstens eine Trendwende gegeben hätte. Auch Deutschland bleibt hinter den Vorgaben zurück. Und mit den USA, in der weltweiten Rangliste der CO2-Sünder nach China die Nummer zwei, und Brasilien, der Nummer zwölf, wollen zwei große aus dem internationalen Klimaschutz aussteigen.

Schon heute werden Inselstaaten, große Flussdeltas und weite Dürregebiete zu Opfern des ökologischen Kolonialismus. Über eine längere Zeit werden die Hauptverursacher nicht die Hauptbetroffenen des Klimawandels sein. Immer häufiger sehen wir bereits die Bilder über die Folgen der Wetterextreme, sich ausbreitende Zonen des Hungers und eine wachsende Zahl von aus Elendsgebieten Flüchtenden. Der Glaube, dass es auf einem unwirtlichen Planeten hochgesicherte grüne Oasen des Wohlstands geben könne, wäre eine fatale Illusion. Die sozialökologische Transformation wird somit zu einer zentralen Frage auch für den Frieden.

Die Definition Olof Palmes, des ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten, von gemeinsamer Sicherheit aus dem Jahr 1982 ist noch immer aktuell: »Wir müssen eine Sicherheit, die auf eine ständig wachsende Rüstung angewiesen ist, schrittweise durch eine Sicherheit ersetzen, die grundsätzlich politisch ist und auf gegenseitigem Vertrauen beruht. Politische und ideologische Gegner müssen trotz grundlegender Meinungsverschiedenheiten zusammenarbeiten, um einen Atomkrieg zu vermeiden – zusammen überleben oder zusammen sterben. Es wird keinen Gewinner im Atomkrieg geben.«

Es ist dringend notwendig, dass alle Seiten zu Rüstungskontrolle und substanziellen Abrüstungsverhandlungen zurückkehren sowie die fatale Militär(pakt)logik durchbrechen. Einseitige kalkulierte Schritte, etwa in Richtung strategischer Konzepte zu struktureller Nichtangriffsfähigkeit, sind hilfreich, um die Eskalationsdynamik der Gewaltandrohung durch eine Entspannungsdynamik abzulösen. Ungeachtet des Rechts der Staaten auf territoriale Selbstverteidigung ist ein blockersetzendes kollektives System gesamteuropäischer Sicherheit anzustreben, dem die Länder der nördlichen Hemisphäre vor drei Jahrzehnten schon einmal erheblich näher waren.

Wer den Frieden will, muss sich für den Frieden einsetzen, statt für den Krieg zu rüsten. Die globalisierte Welt braucht eine Weltinnenpolitik, für die die Staaten Europas vorangehen müssen. Dafür muss die Eskalationsdynamik des Militärischen durchbrochen werden. Natürlich kann in einer Welt, die geprägt ist von extremer Ungleichheit, Gewalt und ökologischen Konflikten die Antwort nicht nur Palmenzweig und Zimbelton sein. Eine Politik ist gefragt, die nach Gemeinsamkeiten sucht – gemeinsame Sicherheit, gemeinsames Überleben und gemeinsame Zukunft, wie es in den großen UN-Berichten heißt. Dafür müssen die Ursachen der Konflikte beseitigt werden, statt die Folgen gewaltsam einzudämmen.

Es ist ein positives Zeichen, dass die Friedensbewegung einen Schwerpunkt auf die ökologischen Gefahren legt. Der vom Menschen verursachte Klimawandel ist zu einem Friedensthema geworden. Die absehbare Ressourcenknappheit wird nicht nur Verteilungskämpfe, sondern auch Kriege auslösen, wie wir das im Nahen Osten bereits erleben. Wir müssen heute handeln, alles andere käme einem unentschuldbaren politischen und moralischen Versagen gleich.

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