»Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.« Wie sehr sich diese Vorhersage von Carly Fiorina, der ehemaligen Chefin von Hewlett-Packard aus dem Jahr 2009 in unserem Alltag und Berufsleben bewahrheitet hat, erleben wir täglich. Das deutsche Bildungssystem hingegen entzieht sich bislang der umfassenden Digitalisierung unserer Lebenswelt recht nachhaltig, sodass ihm bundesweit mit einem Digitalpakt auf die Sprünge geholfen werden soll.
Die Diskussionen darüber, ob dies überhaupt wünschenswert ist – und falls ja, in welchem Umfang –, fanden auch in dieser Zeitschrift ihren Niederschlag (NG|FH 7+8/2019). Noch weiter auseinander gehen die Meinungen bei der Frage, wie die Digitalisierung der Schule erfolgreich sein kann. Denn inzwischen zeigen zahlreiche Beispiele, dass es nicht damit getan ist, neue Hardware in Form von Whiteboards und Tablets anzuschaffen, solange einerseits in vielen Regionen Deutschlands kein ausreichendes WLAN verfügbar ist und andererseits die Lehrkräfte nicht geschult sind, mit den neuen Geräten umzugehen und sie sinnvoll in den Unterrichtsalltag zu integrieren.
Auch jenseits des staatlichen Schulsystems gibt es inzwischen vielfältige Ansätze, Lernprozesse mit digitalen Hilfsmitteln zu unterstützen. Im Bereich der musikalischen Bildung beispielsweise wird bereits seit Längerem diskutiert, wie digitale Medien das Musizieren und Musizieren-Lernen bereichern können. So haben sich einige private wie auch kommunale Musikschulen auf den Weg gemacht, die Digitalisierung ihrer Institution voranzubringen.
Weit vorangeschritten auf diesem Weg ist etwa Mario Müller, der in Bonn eine freie Musikschule betreibt. Seit Kurzem hat er seine Musikschule, an der an vier Standorten im Raum Bonn ca. 1.300 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden, komplett digitalisiert: In jedem Unterrichtsraum hängen große Displays, jede Lehrkraft wurde mit einem Tablet ausgestattet.
Für den Anfängerbereich liegt das selbst erstellte Notenmaterial komplett in digitaler Form vor und kann aus einer umfangreichen Datenbank abgerufen werden. Vorteil: Das Gebundensein an einen vorgegebenen Lernweg einer Instrumentalschule entfällt, je nach Lernfortschritt kann die Lehrkraft individuell für den jeweiligen Schüler Übungen im passenden Level aus der Datenbank zusammenstellen. Und auch die Lernenden selbst können mit ihrem Onlinezugang von zu Hause aus im digitalen Notenfundus stöbern und sich eigenständig Übungen heraussuchen. Selbstverständlich können auch die digitalen Noten »handschriftlich« elektronisch mit individuellen Fingersätzen, Artikulations- und Atemzeichen versehen werden. Für die Schüler wird das Übungsmaterial in persönlichen digitalen Notenmappen abgelegt.
Doch sehen nicht viele Eltern gerade das Erlernen eines Instruments als Gegengewicht zu den immer aufdringlicheren Verlockungen einer digitalisierten Umwelt? Und braucht nun gar jedes Kind, das an Mario Müllers Musikschule unterrichtet wird, ein eigenes Smartphone? »Keineswegs«, beschwichtigt Müller, »die Rückkopplung der digitalen Medien an die analoge Welt ist wichtig«. Selbstverständlich erhält jeder Schüler auf Wunsch seine Noten ausgedruckt und auch im Bereich der musikalischen Früherziehung wird zusätzlich mit physischen Heften gearbeitet. Für Fortgeschrittene, die beginnen sich das musikalische Repertoire ihres Instruments zu erarbeiten, steht zudem eine umfangreiche physische Notenbibliothek mit Spielliteratur zum Ausleihen zur Verfügung – auch hier erfolgt die Recherche und Reservierung selbstverständlich online.
Doch selbst in der Telekom-Stadt Bonn hat Mario Müller mit unzuverlässiger Internetverbindung zu kämpfen: »Gleich zu Beginn unseres digitalen Unterrichtskonzepts brach erstmal alles zusammen.« Daher müssen grundsätzlich alle Lehrkräfte auch weiterhin in der Lage sein, offline mit dem Tablet oder mit herkömmlichen Noten zu arbeiten.
Begleitet wird das Lernen darüber hinaus durch Musik-Apps, die mittlerweile in den App-Stores zu Hunderten zur Verfügung stehen. Die Auswahl und Beschränkung auf wenige Apps für jedes Instrument war ein langwieriger Prozess, in den das gesamte Lehrpersonal eingebunden war. »Jedes Team hat verschiedene Apps für das eigene Instrument getestet und selbst entschieden, mit welchen Apps man arbeiten möchte.« Der Unterschied zu den vielerorts zu beobachtenden Digitalisierungsversuchen an allgemeinbildenden Schulen liegt auf der Hand: Das komplette Personal ist in die Auswahl geeigneter digitaler Unterrichtsmaterialien eingebunden – und ein digitales Unterrichtskonzept wurde vor der Anschaffung teurer Hardware entwickelt.
Während an Mario Müllers Musikschule die Verwendung digitaler Medien in erster Linie der Unterstützung des Unterrichtens und Lernens traditioneller Instrumente dient, geht man andernorts noch weiter. So bietet etwa die MYOUSIC School Hamburg »APPstrumente-Unterricht« an. Dahinter verbirgt sich ein zeitlich begrenzter Kurs, in dem spielerisch am Smartphone mit Apps gemeinsam in der Gruppe Songs arrangiert und interpretiert werden. Als Einstieg zum Erlernen eines traditionellen Musikinstruments ist der »APPstrumente-Unterricht« eher nicht gedacht, wie auch Sebastian von Düring-Weckler, Leiter der MYOUSIC School Hamburg bestätigt. »Allerdings ist er eine tolle Möglichkeit, die eigene musikalische Kreativität zu entdecken.«
Und könnte man in Zeiten digitaler Musikinstrumente nicht auch das Smartphone als Instrument bezeichnen? »Das Smartphone ist sicher kein ›echtes‹ Instrument wie eine Gitarre oder ein Klavier«, so Düring-Weckler. »Normalerweise braucht man zum Spielen eines Instruments ja spezifische motorische Fähigkeiten, die am Smartphone meist eher keine große Rolle spielen. Wenn man den Begriff aber etwas erweitert und so definiert, dass alles, womit ich mich auf kreative Weise musikalisch ausdrücken kann, als Instrument bezeichnet werden kann, dann ist das Smartphone aus meiner Sicht schon eine Art Instrument.«
Diese Sichtweise würden die Mitglieder des DigiEnsembles Berlin sicherlich bestätigen. Das Ensemble besteht seit 2010, die professionellen Musiker spielen überwiegend auf Tablets und Smartphones. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass man sich den professionellen Umgang mit digitalen Medien erarbeiten muss. Auch wenn die handlichen Geräte zahllose Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung besitzen, muss doch das gemeinsame Musizieren neu gedacht werden und bedarf neuer Konzepte. So entschloss sich das Ensemble, bei bekannten Musikstilen zu beginnen und zunächst die eigenen Spieltechniken zu entwickeln und zu verfeinern. Inzwischen werden auch Eigenkompositionen gespielt und avantgardistische Projekte in Angriff genommen. »Die Auftritte sind gleichzeitig ein Plädoyer dafür, dass heute jeder ein Gerät in der Tasche hat, das mit der richtigen App zum Musikinstrument wird«, ist auf der Website zu lesen. »Es handelt sich daher einerseits um ein professionelles Musik-Ensemble und andererseits um ein künstlerisches Forschungsprojekt.«
Jenseits des professionellen Musizierens auf Smartphones bietet gerade die einfache Handhabung große Chancen in inklusiven Kontexten. Das Forschungsprojekt »be_smart« an der Universität Siegen untersucht die Bedeutung spezifischer Musik-Apps für die Teilhabe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit komplexen Behinderungen an kultureller Bildung. Denn, so heißt es in der Projektbeschreibung, »Digitalisierung birgt Potenziale für mehr Teilhabe an kultureller Bildung für Menschen mit schweren Behinderungen. Diese sind im Bereich inklusiver Musikpädagogik bislang wenig genutzt und kaum erforscht.«
Zurück in die Musikschule: Digitale Medien bieten die Möglichkeit, Lernen ort- und zeitunabhängiger zu gestalten. Im Gegensatz zu allgemeinbildenden Schulen besteht in Musikschulen das Problem, dass Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler in der Regel nur einmal wöchentlich sehen. Beim häuslichen Üben zwischen den Unterrichtseinheiten geht jedoch oftmals viel des Erlernten wieder verloren. Fehler schleichen sich ein, die nicht sofort korrigiert werden können, Motivationsprobleme entstehen. Um einen häufigeren Kontakt von Schülern und Lehrkräften zu ermöglichen, wurde daher am Hamburger Konservatorium die Plattform KON-Plug-in entwickelt. In dieser E-Learning-Umgebung können Lehrkräfte und Schüler zusätzlich zur wöchentlichen Unterrichtsstunde einen weiteren Online-Termin für Feedback und Lernkontrolle vereinbaren und Schülerinnen und Schüler sich auch untereinander vernetzen. Das KON-Plug-in »nutzt selbstverständlich auch und gerade die Attraktivität neuer Medien in unseren Schülerkreisen«, so Markus Menke, Direktor des Hamburger Konservatoriums. »Ohne Smartphone geht nicht mehr viel, mit Smartphone ist es oft nervig. Wir drehen den Spieß um: Wir nutzen gemeinsam mit unseren Schülerinnen und Schülern die Technik und machen Musik, Instrumentalspiel und Gesang zum Kommunikationsinhalt.«
In einer wissenschaftlichen Begleitstudie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2016 über das zweijährige E-Learning-Pilotprojekt »Start in die nächste Generation« wird an sechs Hamburger Schulen ausführlich dargestellt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um digitales Lernen an Schulen zum Erfolg zu führen. Einige der dort genannten Erfolgsfaktoren lassen sich auch in den beschriebenen Digitalisierungsprojekten im Bereich musikalischer Bildung wiederfinden. Zum einen muss von Beginn an festgelegt werden, in welchem Bereich und in welchem Umfang E-Learning eingesetzt wird. Des Weiteren muss die für diesen Zweck benötigte technische Ausstattung vor allem auch für die Lehrkräfte gut handhabbar sein. Und schließlich muss insgesamt in einem andauernden Prozess die Medienkompetenz bei Lehrkräften wie Lernenden erhöht werden.
Mit Geld aus dem Digitalpakt den allgemeinbildenden Schulen Hardware in Form von Whiteboards und Tablets zur Verfügung zu stellen, ist ein guter Anfang. Funktionierendes WLAN die notwendige Voraussetzung. Doch ebenso wichtig ist ein klares Konzept – und die gemeinsame Entwicklung geeigneter »APPstrumente«.
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