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Der Mensch auf seinem Planeten Apropos Anthropozän

Schon seit einiger Zeit ist der Begriff »Anthropozän« en vogue. Er postuliert einen neuen Abschnitt der Erdgeschichte, in dem ein signifikanter Einfluss des Menschen erkennbar ist. Menschen schleifen Berge und tragen im Tagebau ganze Landschaften ab, kontaminieren Luft, Wasser und Boden mit radioaktiven, giftigen und künstlichen Substanzen, auf die die vorhandene Biosphäre nicht vorbereitet ist. In ihren Städten entstehen eigene Klimazonen und durch die massenhafte Oxidation, sprich Verbrennung fossiler Energieträger zum Zwecke der Energiegewinnung, nimmt die rasant wachsende Menschheit auch Einfluss auf die globale Klimaentwicklung.

Das Modewort »Anthropozän« akzentuiert, welche Verantwortung der Mensch für den Planeten trägt, steht aber gleichzeitig für seine Überheblichkeit, denn die Veränderungen, die der Mensch sich darin selber zuschreibt, sind Folgen eines hemmungslosen und unbeherrschten Wachstums, das selbstzerstörerische Ausmaße angenommen hat. Insofern steht der Begriff nicht nur für gewachsenes Verantwortungsbewusstsein, sondern auch für die mangelnde Selbstbeherrschung einer Spezies, von denen einige per Fernflug zu Umweltschutzkonferenzen anreisen, um den Verzicht auf Plastiktüten zu propagieren, und deren bislang zu kurz gekommener Teil gerade dabei ist, die Sünden einer von Europäern betriebenen Globalisierung zu wiederholen.

So schreibt sich das Anthropozän der Erdgeschichte vor allem als Zeitalter der Verluste ein: »Nach Ansicht vieler Fachleute verschwinden Lebewesen heute viel schneller als zu jeder anderen Zeit in der jüngeren Vergangenheit«, schreibt der Epidemologe Christopher Kemp in seinem Buch Die verlorenen Arten. Schätzungen zufolge »liegt die Zahl der aussterbenden Arten heute tausendmal höher, als es dem natürlichen ›Hintergrund‹ entsprechen würde (…) Wir sind in die Phase der Sechsten Auslöschung eingetreten, wie manche Wissenschaftler sie nennen. Für manche Arten sind die wenigen Stücke, die in den naturhistorischen Sammlungen auf der Welt existieren, die einzigen vorhandenen Beispiele: Lebende Exemplare gibt es nicht mehr.« Aus den Zeugnissen der Artenvielfalt sind Kronzeugen für deren Verlust geworden.

Zivilisation und Barbarei

Bananen werden dieses Schicksal so bald nicht erleiden. Pro Jahr verzehre die Menschheit 100 Milliarden davon, schreibt Christ Fitch in seinem statistischen Kartenwerk Globalografie. Lediglich Reis, Weizen und Mais seien für die Ernährung der Weltbevölkerung noch wichtiger. Entsprechend große Mengen werden produziert. Doch ausgerechnet Bananen sind zum Sinnbild eines modernen Wirtschaftsimperialismus geworden. Anders als die genannten Getreidesorten lassen Bananen sich nicht in den Ländern der Hauptimporteure USA und Europa anbauen und müssen gekühlt transportiert werden. Wie exotische Gewürze, Kaffee, Tee, Kakao und Zucker zählen sie zu den kolonialen Luxusnahrungsmitteln, auf die man aber auch verzichten könnte.

Die Gier des Westens nach den exotischen Produkten und Reizen aus Ländern des Globalen Südens hat dazu geführt, dass deren »paradiesische« Natur durch großflächige Plantagen ersetzt wurde und die Vielfalt der Tropen der Einfalt von Monokulturen weichen musste. So führt gerade der Wunsch nach Abwechslung dazu, dass es immer mehr von immer weniger gibt, weil sich die Massenproduktion von tierischer und pflanzlicher Nahrung auf optimierte Rassen und Sorten konzentriert.

Seit dem 17. Jahrhundert importiert Europa Tropenfrüchte und exportiert seine Ordnungsvorstellungen. Kolonialistischen Funktionsträgern folgte der urlaubsreisende Massenmensch, dessen Armada der Publizist Wolfgang Meyer-Hentrich in seinem Buch Wahnsinn Kreuzfahrt analysiert. Eines der Flaggschiffe, die Harmony of the Seas, ist 362 Meter lang, 66 Meter breit, 65 Meter hoch und kann bei einer Besatzung von 2.380 Personen 6.780 Passagiere aufnehmen: »Bei guter Auslastung befinden sich also über 9.000 Menschen an Bord.« Obwohl deren Gastronomie und Unterhaltungsmöglichkeiten einem schwimmenden Las Vegas gleichkommen, bleibt das Sightseeing an exotischen Orten die Hauptattraktion jeder Kreuzfahrt. Bordeigene Shuttleboote bringen Tausende von Touristen mühelos auch in die kleinsten Häfen. So gibt es inzwischen auch auf Grönland, in Alaska sowie im hohen Norden Europas abgelegene Orte, in denen tagsüber die Einheimischen angesichts der Schwärme von Kreuzfahrern zur Minderheit werden.

Der Autor konstatiert: »Man könnte das moderne Phänomen des Massentourismus auf hoher See als zivilisierte Barbarei oder als Erscheinungsform einer barbarischen Zivilisation bezeichnen. Die zivilisierten Aspekte sind in diesem Zusammenhang vor allem in dem hohen Maß an Organisation und Logistik sowie dem technischen Know-how zu sehen, das diese Form des Reisens erst möglich macht. Das barbarische Element zeigt sich in der Ignoranz gegenüber der Natur, dem rücksichtlosen Streben nach schnellen Profiten, der monströsen Banalität der Unternehmens- und Erlebnisphilosophien sowie der ignoranten und parasitären Einstellung gegenüber der Kultur und den Lebensgewohnheiten der Menschen in den Anlaufregionen.«

Wegen ihrer hohen Geschwindigkeit und ihres enormen Energieverbrauchs für die Versorgung der Passagiere und Mannschaften sind Kreuzfahrtschiffe Dreckschleudern und Energiefresser, doch deren Betreiber zahlen – u. a. wegen der in der Schifffahrt üblichen Ausflaggung in Billigländern – kaum Steuern. Bei Monatslöhnen von 770 bis 1.519 US-Dollar – zwar bei freier Kost und Logis, aber für bis zu monatlich 300 Arbeitsstunden – komme fast jede dritte Arbeitskraft auf Kreuzfahrtschiffen von den Philippinen, wo es sehr effiziente Ausbildungszentren gäbe. Wäre es da nicht sinnvoller, so ließe sich der kritische Impetus des Autors fortschreiben, die expandierende Umweltbelastung Kreuzfahrt durch eine angemessene Besteuerung zurückzufahren und dem Bordpersonal eine Schulung für den derzeit vollkommen überforderten Sozial- und Pflegebereich Europas anzubieten?

Die Dynamik Asiens

Kreuzfahrtschiffe machen nur 1 % der Hochseeschifffahrt aus. Den weitaus größten Teil beansprucht der Handel, und hier fällt der Westen gegenüber Asien zurück, wie Fitchs Globalografie illustriert. In China liegen sieben der zehn umsatzstärksten Häfen der Welt, und allein Shanghai setzt dreimal so viele Containereinheiten um wie der westliche Champion Rotterdam. »Wir leben bereits im ›asiatischen Jahrhundert‹«, urteilt der Historiker Peter Frankopan in seinem Buch Die neuen Seidenstraßen: »Die Verschiebung des globalen Bruttoinlandsprodukts von den entwickelten Volkswirtschaften des Westens hin zu denen des Ostens hat atemberaubende Ausmaße und ein atemberaubendes Tempo erreicht.« Vor allem China ahmt dabei nach, was Europa im 16. Jahrhundert zur herrschenden Region gemacht hat – eine strategisch entwickelte Handelspolitik, die weltweit Stützpunkte erschließt, Häfen ausbaut und Allianzen schmiedet.

Der Erfolg Europas im maritimen Fernhandel mit Südostasien hat es den traditionellen Landhandel über die »Seidenstraße« unterschätzen lassen. Hier nun setzt Chinas Seidenstraßen-Initiative »One Belt, One Road« an, aber auch Saudi-Arabiens »Vision 2030«, die Eurasische Wirtschaftsunion von Russland, Weißrussland, Kasachstan, Armenien und Kirgisistan, Kasachstans Initiative »Helle Straße«, Vietnams Initiative »Zwei Korridore, ein wirtschaftlicher Kreis«, die türkische Initiative »Mittlerer Korridor«, die mongolische Initiative »Entwicklungsstraße« sowie die Entwicklungspläne von Laos, Kambodscha und Myanmar. Bemerkenswert an diesen Initiativen zur Entwicklung teils neuer, teils traditionsreicher Beziehungen zwischen Vorderem Orient und China ist, dass sie einerseits – anders als das derzeit vieldiskutierte Seidenstraßen-Konzept – hierzulande kaum bekannt sind und dass zum anderen Europa und der Westen darin gar nicht vorkommen.

So lautet denn Frankopans Leitthese: »Die wirklich relevanten Entscheidungen in der heutigen Welt werden nicht – wie vor hundert Jahren – in Paris, London, Berlin oder Rom getroffen, sondern in Peking und Moskau, Teheran und Riad, Delhi und Islamabad, in Kabul und in den von Taliban kontrollierten Gebieten Afghanistans, in Ankara, Damaskus und Jerusalem.« Es zählt zur Ironie der Geschichte, dass jenes globale Verantwortungsbewusstsein, das sich in Begriffsbildungen wie »Anthropozän« artikuliert, gerade in Städten diskutiert wird, auf die es künftig nicht mehr groß ankommen wird.

Die neuen Nomaden

Während China und die Völker Asiens neue Seidenstraßen planen, zeigt sich gerade im ach so großartigen Amerika eines Donald Trump die Kehrseite menschlicher Allmachtsfantasien in Gestalt einer neuen Unbehaustheit: »Wanderarbeiter, Landstreicher, Vagabunden, rastlose Seelen hat es immer gegeben. Heute jedoch, im dritten Jahrtausend, entsteht eine neue Art umherziehendes Volk. Leute, die sich nie haben vorstellen können, Nomaden zu sein, machen sich auf den Weg. Sie geben ihre traditionellen Häuser und Wohnungen auf, um in etwas zu leben, das in Anspielung auf real estate, den englischsprachigen Ausdruck für Immobilie, auch scherzhaft als wheel estate bezeichnet wird – Vans, gebrauchte Wohnmobile, Schulbusse, Pick-ups mit Campingaufbauten, Trailer und einfache alte Limousinen«, schreibt Jessica Bruder in ihrer Reportage über Nomaden der Arbeit in den USA.

Wenn dann auch der letzte »wheel estate« seinen letzten Schnaufer getan hat, werden Nomaden zu Obdachlosen und Gesetzgeber aktiv. So habe die New York Times 2016 berichtet: »Eine Welle von Gesetzen, die die Obdachlosigkeit effektiv kriminalisieren, erfasst die Nation, besonders spürbar in Orten wie Orlando, Florida, in Santa Cruz, Kalifornien, und in Manchester, New Hampshire. Bis Ende 2014 hatten 100 Städte es zu einem Verbrechen erklärt, auf einem Bürgersteig zu sitzen, ein Anstieg von 43 % im Vergleich zu 2011, wie eine Umfrage unter 187 amerikanischen Großstädten durch das National Law Centre on Homelessness and Poverty ergab. Die Zahl der Städte, in denen das Schlafen in Autos verboten ist, stieg im selben Zeitraum von 37 auf 81.«

Was immer das Anthropozän noch bringen wird, so folgt es doch jener »majestätischen Gleichheit des Gesetzes«, das laut Anatole France »Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen« – ein Menschenzeitalter, das sich um den Menschen wenig schert.

Jessica Bruder: Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert. Blessing, München 2019, 384 S., 22 €. – Chris Fitch: Globalografie. 50 Karten erklären die Welt von heute. DuMont, Köln 2019, 224 S., 30 €. – Peter Frankopan: Die neuen Seidenstraßen. Gegenwart und Zukunft unserer Welt. Rowohlt, Berlin 2019, 352 S., 22 €. – Christopher Kemp: Die verlorenen Arten. Große Expeditionen in die Sammlungen naturkundlicher Museen. Kunstmann, München 2019, 288 S., 25 €. – Wolfgang Meyer-Hentrich: Wahnsinn Kreuzfahrt. Gefahr für Natur und Mensch. Ch. Links, Berlin 2019, 248 S., 20 €.

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