Arbeit und Zeit – das sind heute zentrale Begriffe in der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Diskussion. Gute und ausreichend bezahlte Arbeit zu haben, um den Lebensstandard sichern zu können ist das eine; genügend Zeit für, wie es heute heißt, Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung zu haben, das andere. Zwei aktuelle Bücher zeigen an, wie komplex beide Themen nach wie vor sind und eine andauernde Aufgabe für Politik und Gesellschaft bleiben.
Der Sozialphilosoph Axel Honneth gilt als letztes »Urgestein« der Frankfurter Schule. Soviel ist jedenfalls richtig, dass er deren Anliegen, nach demokratischen Arbeits- und Sozialverhältnissen in Politik und Gesellschaft zu fragen, mit immer neuer Akzentsetzung verfolgt. Für ihn ist eine funktionierende Demokratie auch auf gute und faire Arbeitsverhältnisse angewiesen. Er ist »einigermaßen verblüfft«, dass dieser Zusammenhang heute weitgehend in Vergessenheit geraten sei.
»Es muss nach der Demokratie von Arbeit gefragt werden.«
Demokratie und Arbeit seien aber gar nicht zu trennen: »Dass der demokratische Souverän in der Mehrheit seiner Mitglieder arbeitend tätig ist und damit Beschäftigungsverhältnissen unterliegt, die über seine Chancen zur aktiven Beteiligung an der politischen Meinungs- und Willensbildung entscheiden, muss ins Stammbuch beider Disziplinen geschrieben werden.«
Arbeit, sagt Honneth, sei ein hohes Gut, aber letztlich nur, um höherwertige Ziele wie ein menschenwürdiges Leben zu erreichen. Gerade weil sich die Demokratie das Wohl ihrer Bürger zum Ziel gesetzt hat, muss auch nach der Demokratisierung von Arbeit gefragt werden. Honneth ist sichtlich enttäuscht, dass sich heute viele Menschen entweder von der Politik abwenden oder dass sie anderen Themen wie Klimakrise und Identitätsbewusstsein mehr Beachtung schenken als den Arbeitsverhältnissen.
Der Autor gliedert sein streckenweise höchst temperamentvoll geschriebenes Buch in drei größere Kapitel. Zu Beginn geht er auf frühere Überlegungen zur menschenwürdigen Arbeit ein, und überrascht erfährt der Leser, dass kein Geringerer als der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Rechtsphilosophie den höchst modern anmutenden Gedanken äußerte, arbeitenden Menschen sollte nicht nur ein existenzsicherndes Einkommen ermöglicht werden, sondern sie sollten auch in vereinsähnlichen »Korporationen« ein Gefühl für den gesellschaftlichen Wert ihrer Arbeit bekommen.
Das zweite Kapitel ist ein Rekurs auf die Entwicklung von Arbeit seit dem frühen 19. Jahrhundert und auf die sich heute immer weiter auffächernde Bewertung von Arbeit. Trotz der rasant wachsenden Zahl von Industriearbeitern blieben Landwirtschaft und der Dienstleistungsbereich (Dienstboten, Hauspersonal) bis zum Ersten Weltkrieg die zahlenmäßig stärksten Berufsgruppen. Erst im 20. Jahrhundert wurden dann immer mehr Tätigkeiten wirklich als Arbeit anerkannt, insbesondere die Hausarbeit von Frauen.
»Lange Arbeitszeiten und oft schlechte Bezahlung machen demokratische Teilhabe meist unmöglich.«
Extrem lange Arbeitszeiten und gleichermaßen oft schlechte Bezahlung machten es vielen Menschen unmöglich, sich im Sinne von demokratischer Teilhabe zu engagieren. Heute müsste das nicht mehr sein, so der Autor; er nennt mehrere gravierende Hindernisse für eine demokratische Arbeitsmarktpolitik: Zum einen findet Arbeit heute verstärkt unter isolierten Bedingungen statt, und diese »atomisierende Tendenz« werde durch die zunehmende Digitalisierung noch verstärkt.
Auch verschiebe sich mehr und mehr die Arbeit von handwerklicher zu analytischer Verrichtung (»Auge statt Hand«), was zu »wachsender Entsicherung und Prekarisierung gesellschaftlicher Arbeit« führe. Honneth fasst diesen Abschnitt pointiert zusammen: die kapitalistische Arbeitswelt sei »bis heute« im Großen und Ganzen eine Gegenwelt zur politischen Demokratie geblieben.
Wie immer fällt die Diagnose leichter als die Therapie
Das gelegentlich als Allheilmittel gepriesene bedingungslose Grundeinkommen für alle ist für Honneth nur »das Produkt einer blühenden Phantasie«. Akzeptabler fände er eine Art »staatliche Dienstverpflichtung«, die einer Stärkung des demokratischen Zusammenhalts dienen könne und zugleich das hochbeanspruchte Pflegepersonal in Kliniken und Altenheimen entlasten würde.
Ein derart anregendes Buch entlässt zwangsläufig mit vielen Fragen. Erleben wir in vielen Bereichen wie Homeoffice, »Ein-Mann-AG« , individualisierte Leistungsmessung nur eine »Wiederkehr des Alten im Neuen«? Hat die Arbeitswelt gegenüber Klima, Migration und Bildungsnotstand in der öffentlichen Auseinandersetzung wirklich jegliche Relevanz verloren? Wie immer, Honneth entlässt den Leser mit dem Auftrag, den Abstand zwischen politischer Demokratie und sozialer Arbeitsteilung so klein wie möglich werden zu lassen: »Das ist das Gebot der Stunde.«
So ganz anders ist das Anliegen von Teresa Bücker in ihrem Buch Alle_Zeit auch nicht. Die Autorin – gegen das Etikett »feministische Journalistin« würde sie sich wohl nicht wehren – geht von dem heute oft beklagten Umstand aus, dass wir alle zu wenig Zeit haben. Trotz verkürzter Arbeitszeiten und vieler technischer Hilfen im Alltag ist das Empfinden bei vielen Menschen allgegenwärtig, mit ihrer Zeit nicht auszukommen.
»Zeitgefühl und empfundene Zeitknappheit sind das Ergebnis gesellschaftlicher Machtstrukturen.«
Es liegt, sagt Teresa Bücker, nicht am persönlichen Unvermögen, sondern Zeit wird von der Gesellschaft gemacht. Zeitgefühl und empfundene Zeitknappheit sind das Ergebnis gesellschaftlicher Machtstrukturen. Es sei darum eine eminent politische Aufgabe, für Zeitgerechtigkeit zu sorgen.
Dabei fällt ihr Blick vorrangig auf berufliche Arbeit. Die vorhandene Arbeit müsse anders verteilt werden. Unter Berufung auf Arbeitsminister Hubertus Heil, der in der Coronakrise selbst eine Vier-Tage-Woche zum Erhalt der Arbeitsplätze ins Gespräch gebracht hatte, äußert sie, Arbeitszeitverkürzungen seien ein politisches Mittel zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Die Notwendigkeit von 40-Stunden-Jobs bestehe aktuell doch nur, weil ausschließlich dadurch der Lebensunterhalt gesichert werden könne: »Wären die Produktionsfortschritte der letzten Jahrzehnte an die Beschäftigten weitergegeben worden, könnte die 40-Stunden-Woche schon längst Geschichte sein.«
Kaum Anerkennung für häusliche Arbeit und Pflege
Mehr noch ist sie unzufrieden mit der Nicht- oder nur geringen Anerkennung häuslicher Arbeit und Pflege, also von Care-Arbeit. Nach einer Berechnung aus dem Jahr 2019 müsste familiäre Vollzeit-Fürsorge unter Maßgabe professioneller Vergütung mit mehr als 7.000 Euro monatlich entlohnt werden. Das werde bis heute nicht gewürdigt oder konkret bei der Rentenberechnung, anerkannt. Aber Fürsorge sei keine private Frage, dieses »neoliberale Narrativ« müsse endlich überwunden werden: »Care ist ein fundamentales Element unserer Zivilisation.«
Die Frage nach Zeitgerechtigkeit durchzieht Bückers ganzes Buch. Ob bei beruflicher Arbeit, bei Fürsorge und Kindern oder gesellschaftlichem Engagement – Zeitgerechtigkeit bedeutet für die Autorin immer auch radikale Umverteilungspolitik. Care-Democracy und Care-Economy gehen für sie letztlich zusammen, »Mitmenschlichkeit und sozialer Zusammenhalt dürfen nicht länger den Profiten von wenigen untergeordnet werden.«
Wie soll eine so fundamentale Umverteilung bezahlt werden?
In vielen Punkten rennt die Autorin offene Türen ein; man weiß, wie sehr Zeitungerechtigkeit im Beruf, in der Familie, in der Pflege und Fürsorge nach wie vor Realität ist. Skeptiker würden wohl mit Blick auf ihr Konzept fragen, wie eine so fundamentale Umverteilung von Arbeit bezahlt werden soll, wo die dann benötigten Fachleute herkommen sollen (reduziert man etwa bei Kliniken die Arbeitszeit von zehn Ärzten und 50 Pflegekräften um die Hälfte, müssten ja ebenso viele Neueinstellungen erfolgen, die Arbeitskräfte dafür wären gar nicht ohne Weiteres vorhanden), ob nicht doch auch viele Menschen Erfüllung im Beruf finden, schließlich, ob manche Thesen etwa bei der Einbeziehung von Kindern in politische Entscheidungen nicht doch etwas illusorisch sind (»politisches Gegengewicht könnten junge Wähler_innen erst dann entwickeln wenn das Wahlalter auf null gesenkt würde«!).
Teresa Bücker und Axel Honneth – beide stellen, teils provozierend, teils eher wissenschaftlich abwägend unsere Alltäglichkeit von Arbeit und Zeit infrage und nennen Möglichkeiten, wenigstens innerhalb von Industriegesellschaften mehr Gerechtigkeit für die Menschen zu erreichen. Alles nur Utopie?, fragt sich Bücker selbst am Ende. Sie verweist auf die britische Philosophin Ruth Levitas, die Utopien nicht als Ziel, sondern als Methode beschrieben habe, eine bessere Zukunft gemeinsam zu verhandeln, wobei Scheitern durchaus dazugehöre.
Axel Honneth: Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit. Suhrkamp, Berlin 2023, 400 S., 30 €.
Teresa Bücker: Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Ullstein, Berlin 2022; 400 S., 21,99 €.
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