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Nachhaltige Industriepolitik aus gewerkschaftlicher Sicht Arbeit vs. Umwelt – ein Zielkonflikt?

Die klima- und umweltpolitischen Zielsetzungen Deutschlands und Europas sind sehr ehrgeizig: Bis 2050 soll die Treibhausgasneutralität erreicht werden. Die 2015 verabschiedeten Social Development Goals (SDGs) geben zudem soziale, wirtschaftliche, industrielle, arbeitspolitische und Governance-Ziele vor. Auf Bundesebene wurden diese internationalen Zielsetzungen in nationale Strategien und Programme übersetzt. Aktuell stehen wir vor der Herausforderung ihrer konkreten Umsetzung: Was braucht es in der Realität, um eine langfristig nachhaltige Wohlstandsgesellschaft zu werden?

In der Arbeit mit der Umsetzung der verschiedenen Nachhaltigkeitsstrategien wird schnell eine erste Herausforderung klar: Es gilt, die vielen potenziellen Zielkonflikte zwischen den verschiedenen Entwicklungszielen zu minimieren. Beispielsweise wurde in der Debatte um den Kohleausstieg oder die Zukunft des Verbrennungsmotors deutlich, dass zwischen einem schnellen ökologischen Umbau fossilbasierter Branchen und der Erschließung neuer, zukunftsfester Wertschöpfung und Beschäftigungsmöglichkeiten ein potenziell gravierender Zielkonflikt entstehen kann. Bleiben solche Zielkonflikte unaufgelöst, können sie in Sackgassen führen, oder wir riskieren, mitten in der Transformation stecken zu bleiben.

Ein probates Mittel, um solche latente Zielkonflikte zu entschärfen, ist es, die sozialen und wirtschaftlichen (arbeitspolitischen) Ziele ebenso konkret zu definieren wie die klimapolitischen und – soweit möglich – explizit miteinander zu verknüpfen. Bleiben die sozialen und arbeitspolitischen Ziele schwammig, während die klimatologischen Ziele konkret sind, landet man schnell in einer »Gewinner- und Verliererdebatte«, die die Transformation gefährdet. Der sogenannte »Kohlekompromiss« aus dem Jahr 2019 war in dieser Hinsicht bahnbrechend: Zum ersten Mal wurden klimatologische Ziele (die Abschaltung von Kohlekraftwerken) konkret mit sozialen und arbeitspolitischen Zielen verknüpft (die soziale Absicherung der Beschäftigten sowie Investitionen in Höhe von 40 Milliarden Euro in regionale Infrastrukturen und industrielle Wertschöpfung). Durch diese explizite Kopplung von sozialen/arbeitspolitischen und klimatologischen Zielen wurde der schnelle politische Konsens möglich. Als Gesellschaft haben wir dadurch Verantwortung übernommen, nicht nur für die Klimazielerreichung, sondern auch für die Zielerreichung im industriellen, arbeitspolitischen und sozialen Bereich.

Werden soziale und klimatologische Ziele und Strategien explizit verknüpft, offenbart sich, dass der abstrakte Zielkonflikt zwischen »Arbeit und Umwelt« im Konkreten häufig ein Konflikt der gesellschaftlichen Ressourcen ist. Die tiefe Dekarbonisierung erfordert enorme Investitionen und die daraus resultierende soziale Umschichtung verlangt enorme Kompensationen – für beides muss es Konzepte und eine Finanzierung geben. Damit wird auch die Rolle der Industriepolitik deutlich: Denn durch die Unterstützung und damit den Erhalt einer wettbewerbsfähigen Industrie in der Zeit der Transformation wird die volkswirtschaftliche, finanzielle Grundlage derselben Transformation gesichert. Zudem werden die mit der Transformation verbundenen sozialen Kosten (Arbeitslosigkeit, sinkende Durchschnittsgehälter u. ä.) minimiert, wenn die Industrie weiterhin produzieren und damit gute Arbeitsplätze anbieten kann. Der latente Zielkonflikt zwischen Industrie und Arbeit einerseits und der Transformation hin zu Nachhaltigkeit andererseits wird somit ein Stück weit durch die aktive, auf nachhaltige Transformation und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete Industriepolitik aufgelöst. Denn es liegt auf der Hand: Bricht die Industrie im Laufe der Transformation weg, können vielleicht die klimapolitischen Ziele erreicht werden, dies geht aber mit enormen sozialen Kosten und wenig(er) Geld für die notwendigen Investitionen einher.

Aus industriegewerkschaftlicher Sicht ist dies das Kernargument für eine aktive, nachhaltige Industriepolitik: Werden Industrieunternehmen und industrielle Produktionsnetzwerke in der Transformation unterstützt, ist ihr Beitrag zur Finanzierung der notwendigen Investitionen gesichert und die mit der Transformation verbundenen sozialen Kosten können minimiert werden. Somit hängen gute (Industrie-)Arbeit und Erhalt der Umwelt in unserer hoch entwickelten Wohlstandsgesellschaft gegenseitig voneinander ab.

Grundzüge nachhaltiger Industriepolitik

Eine nachhaltige Industriepolitik zeichnet sich durch eine aktive Marktgestaltung vonseiten des Staates aus. Alleine gelassen sind Märkte inkohärent, inkrementell, langsam und verfolgen oder befördern häufig andere Ziele, als jene, die wir uns als demokratische Gesellschaft gesetzt haben. Eine aktive Industriepolitik in unserem Wirtschaftssystem ist allerdings nicht primär von staatlichen Vorgaben »top-down« geprägt, sondern vielmehr von einem konstruktiven Zusammenspiel zwischen öffentlichen und privaten Akteuren. Jedoch muss sowohl öffentliches als auch privates Geld in die richtige Richtung gelenkt werden. Der Staat muss somit die Rahmenbedingungen so gestalten, dass nachhaltiges Wirtschaften mehr betriebswirtschaftlichen »Sinn« ergibt als nicht-nachhaltiges Wirtschaften.

Um die technologische Entwicklung in die gewünschte Richtung voranzutreiben, ist – erstens – die Bereitstellung der dafür notwendigen fundamentalen Infrastruktur notwendig. Im Übergang zur Treibhausgasneutralität bedeutet das, dass statt fossiler Energieinfrastrukturen Infrastrukturen auf­gebaut werden müssen, die auf erneuerbaren Energien (EE) basieren: EE‑Anlagen, ‑Netze, ‑Speicher, Elektroladesäulen an jedem Parkplatz, und – für die relativ schwer zu dekarbonisierenden Grundstoffindustrien und den Schwerlastverkehr – Wasserstofferzeugungsanlagen und -transportwege. Mit dem im Jahr 2019 verabschiedeten europäischen Green Deal sowie den Industrie- und Wasserstoffstrategien wurde klar, dass das EE-Ausbautempo sowohl in Deutschland als auch Europa erheblich erhöht werden muss, um den EE- und Wasserstoffbedarf bis 2030 decken zu können. Der Staat hat hier neben einer anteiligen Finanzierungsrolle vor allem eine koordinierende Rolle zwischen den verschiedenen Akteuren.

Zweitens bedeutet eine nachhaltige Industriepolitik, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass privates Kapital in grüne Investitionen fließt. Das bestehende deutsche Energiewende-Regime ist historisch gewachsen, an vielen Stellen widersprüchlich und beinhaltet hemmende Steuern und Abgaben (zum Beispiel die EEG-Umlage und die Stromsteuer). Damit die Industrieakteure in großem Maßstab auf strom- und wasserstoffbasierte Verfahren umstellen können, braucht es deutlich stärkere Mechanismen für Innovations- und Investitionsförderung. Diese Mechanismen müssen die mit den neuen Technologien verbundenen hohen Investitionskosten (sogenannte CAPEX-Kosten) sowie die mittelfristig steigenden laufenden (Strom-)Kosten (sogenannte OPEX-Kosten) in Betracht ziehen, beispielsweise im Rahmen sogenannter Carbon Contracts for Difference, durch einen neuen Transformationsfonds oder gegebenenfalls festgelegte Industriestrompreise. Darüber hinaus muss es eine realistische Marktperspektive für die nachhaltig hergestellten, häufig aber teuren Endprodukte geben. Hier spielen Aspekte wie ein zeitgemäßer Carbon-Leakage-Schutz (also die Verhinderung von Standortverlagerungen und somit Emissionen ins Ausland), eine Auflockerung der beihilferechtlichen Regeln auf europäischer Ebene sowie auf Nachhaltigkeit fokussierte staatliche Beschaffungsstrategien und Quoten wichtige Rollen, um die neuen Märkte für nachhaltige Produkte zu sichern beziehungsweise zu etablieren. Erst durch eine realistische Marktperspektive lässt sich die Transformation auch mit den üblichen betriebswirtschaftlichen Kriterien für Investition und Produktion vereinen.

Ein drittes Feld für die nachhaltige Industriepolitik ist die innovative Verknüpfung von sozialen Zielen mit klimapolitischen Instrumenten. Die anschwellende Debatte um eine Etablierung von »Wasserstoff-Valleys« in den ehemaligen deutschen und europäischen Kohlerevieren ist beschäftigungspolitisch sowie klimapolitisch interessant, da dadurch sowohl energiewirtschaftliche Strukturen und Fachkompetenz als auch die damit verbundenen industriellen Cluster (wie etwa Chemie- und Raffinerieunternehmen) erhalten werden können. Auch bei der Vergabe von öffentlichen Fördergeldern, zum Beispiel im Rahmen von EEG-Ausschreibungen, der Förderung von Reallaboren oder bei der Investitionsförderung für Neuansiedlungen (etwa der Tesla-Gigafactory in Brandenburg) könnten soziale oder arbeitspolitische Kriterien eine stärkere Rolle bei der Mittelvergabe spielen. US-amerikanische Autohersteller mögen schicke, batteriegetriebene Autos produzieren können, aber bezahlen sie auch tarifierte Gehälter? Chinesische Windradhersteller mögen effiziente Windräder herstellen können, aber halten sie dabei die ILO-Kernarbeitsnormen in der Produktion und den Lieferketten ein? In jungen, auf nachhaltige Produkte ausgerichteten Unternehmen und Start-ups erweist sich häufig der Aufbau von Mitbestimmungs- und Gewerkschaftsstrukturen als äußerst mühsam (»Lieber Yoga-Kurse als Betriebsrat!«). Eine bessere gewerkschaftliche Bindung in der EE-Wirtschaft und die Nutzung von Gute-Arbeit-Kriterien bei der Förderung von Unternehmen und grünen Wirtschaftsbereichen können Methoden sein, um die soziale Akzeptanz für die Nachhaltigkeitstransformation in breiteren Beschäftigtengruppen zu stärken, und damit die soziale mit der ökologischen Entwicklung zu verknüpfen.

Die Geschwindigkeit der Transformation erhöht sich; die meisten wirtschaftlichen und politischen Akteure wollen sich auf eine nachhaltige Zukunft ausrichten. Durch mehr Koordination zwischen Staat, Unternehmen, Sozialpartnern und Zivilgesellschaft kann eine gemeinsame Richtung für Innovation und Investition definiert werden und es können neue, produktive Kooperationen entstehen. Die Herkulesaufgabe unserer Zeit ist es, die soziale Marktwirtschaft mit der nachhaltigen Industriegesellschaft zu verbinden. Packen wir sie an.

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