Nur ein politischer Kurswechsel kann die prekäre Lage verändern
Deutschland ist ein reiches Land. Trotzdem wächst zwischen Gelsenkirchen und Cottbus die Armut. Reichtum und Armut sind zwei Seiten derselben Medaille. Das kapitalistische Wirtschaftssystem produziert aus sich selbst heraus Ungleichheit. Oder in den Worten von Bertolt Brecht: »Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.«
Ein Beispiel: Vier der zehn reichsten Deutschen sind Einzelhändler oder deren Erben. Gleichzeitig sind gerade auch im Einzelhandel Niedriglöhne, unsichere Jobs und Arbeitshetze weit verbreitet. Zufall? Nein! Der Reichtum der einen resultiert aus der wirtschaftlichen Ausbeutung der anderen. Billiglöhne, Minijobs und unbezahlte Überstunden sind dort die Quelle hoher Profite. Vergleichbare ausbeuterische Arbeitsbedingungen gab und gibt es auch in der Fleischindustrie, auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder in der Hotelbranche. Und wir reden über Kausalität, nicht über Korrelation.
Wo Armut beginnt, ist gesellschaftlich umstritten. In modernen Gesellschaften wird die Armutsgrenze nicht allein durch das physische Existenzminimum bestimmt. Armut ist eine relative Größe. Arm sind Menschen, die nicht über die materiellen, sozialen und kulturellen Mittel verfügen, um über dem gesellschaftlichen Minimum zu leben. Die Europäische Kommission zieht die Armutsgrenze bei 60 Prozent des mittleren Nettohaushaltseinkommens. Wer weniger hat, gilt als arm. Hierzulande haben 14 Millionen Menschen weniger zur Verfügung. Die Armutsquote kletterte seit Mitte der 90er Jahre von elf auf heute 16,9 Prozent. Somit lebt jede/r sechste Deutsche in Armut.
In den jüngsten Krisen – Pandemie, Inflation, Energiekrise – wuchs die Armut. Während der Pandemie mussten Millionen abhängig Beschäftigte aufgrund von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit starke Einkommensverluste hinnehmen. Viele kleine Selbstständige verloren ihre wirtschaftliche Existenz. Doch damit nicht genug. Der russische Angriffskrieg und die einhergehende Sanktionspolitik ließen die Energiepreise explodieren. Heizen und Tanken wurden teurer. Anschließend fraßen sich die hohen Energiekosten durch den gesamten Warenkorb. In den letzten drei Jahren betrug der Kaufkraftverlust fast 16 Prozent.
»Heute gibt es 800.000 arme Menschen mehr als vor der Pandemie.«
Die hohe Inflation traf Haushalte mit kleinem Geldbeutel besonders hart. Sie mussten – im Verhältnis zum Einkommen – mehr für Lebensmittel, Heizen und Mobilität ausgeben als Besserverdienende. Zwar schnürte die Ampel mehrere milliardenschwere Entlastungspakete. Die Staatshilfen waren jedoch nicht zielgenau. Während reiche Haushalte mit Steuergeschenken wie der Abschaffung der kalten Progression und Transfers wie der Energiepauschale und dem Tankrabatt entlastet wurden, reichten die Hilfen für Bedürftige nicht aus, um deren zusätzliche finanzielle Belastung vollständig abzufedern. Folglich gibt es heute 800.000 arme Menschen mehr als vor der Pandemie.
Besonders von Armut betroffen sind Geringqualifizierte, Alleinerziehende, Erwerbslose, Migranten, Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen. Jedes fünfte Kind und jeder sechste über 65-Jährige ist arm. Jeder vierte Arme arbeitet und drei von fünf Armen haben ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau. Auch Bildung und Arbeit schützen also nicht mehr vor Armut. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Armut inzwischen verfestigt hat. Arm bleibt immer häufiger arm. Die Einkommensmobilität ging in den letzten zwei Jahrzehnten zurück. Dies gilt insbesondere für den Osten der Republik. Die Hälfte der Einkommensschwachen schafft es innerhalb von fünf Jahren nicht aus der Armut herauszukommen. Armutslöhne sind kein Sprungbrett in gute Arbeit, sondern eine Armutsfalle. Drei von fünf Niedriglohnbeschäftigten arbeiten dauerhaft in gering entlohnten Jobs.
In unserer Gesellschaft ist Armut ein Spiegelbild des Arbeitsmarktes und der Wirksamkeit des Sozialstaats. Armut ist somit nicht individuell verschuldet, sondern hat strukturelle Ursachen. Gute Arbeit ist immer ein gutes Mittel gegen Armut. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit steigt das Armutsrisiko und umgekehrt. Prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne verursachen Erwerbsarmut. In den letzten drei Jahrzehnten sorgten Arbeitgeber und Politik dafür, dass immer mehr Menschen trotz Arbeit in Armut leben mussten.
Ursachen zunehmender Armut
Nach der Deutschen Einheit brachen viele Unternehmen mit Tarifverträgen. Deindustriealisierung und Tarifflucht verwandelten Ostdeutschland in eine weitgehend tariffreie Zone. Die Arbeitgeber setzten so auch die westdeutschen Beschäftigten unter Druck. Zudem organisierten die Arbeitgeberverbände Tarifbruch, indem sie Unternehmen eine Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung anboten. Outsourcing, Offshoring, Liberalisierung und Privatisierung verschärften die Erosion der Tarifbindung. Das, was ver.di, IG Metall & Co aushandeln, kommt heute nur noch bei jedem zweiten Beschäftigten an. Vor der Deutschen Einheit lag die Tarifbindung im Westen noch bei über 80 Prozent.
»Eine arbeitnehmerfeindliche Politik schwächte die Verhandlungsposition der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften.«
In den Nullerjahren entwertete und entgrenzte die Schröder-Regierung menschliche Arbeit. Sie förderte prekäre Beschäftigung, baute den Niedriglohnsektor aus und verschärfte den Erwerbsarbeitszwang (Stichwort: Hartz IV). Diese arbeitnehmerfeindliche Politik schwächte die Verhandlungsposition der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Nach der Jahrtausendwende kamen die heimischen Löhne nicht mehr vom Fleck. Deutschland hatte die schlechteste Lohnentwicklung in Europa. Gleichzeitig stieg die Lohnungleichheit. Zwischen Flensburg und München entstand der größte Niedriglohnsektor des alten Kontinents.
Der neoliberale Ab- und Umbau des Sozialstaats, vor allem der sozialen Sicherungssysteme tat ein Übriges. Rot-Grün schaffte die Lohnersatzleistung Arbeitslosenhilfe ab und ersetzte sie durch eine reine Fürsorgeleistung. Hartz IV wurde zu einer institutionellen Stütze des Niedriglohnsektors. Neue Zumutbarkeitsregeln sorgten dafür, dass Arbeitslose jede noch so schlecht bezahlte Arbeit annehmen mussten. Die Regelsätze sicherten nicht mehr das Existenzminimum.
Die Rentenkürzungen der Nullerjahre – Änderungen der Rentenformel, Rente mit 67, Riesterrente – führten zu einer Rückkehr der Altersarmut. Die gesetzliche Rente schützt heute weder vor Armut, noch sichert sie den Lebensstandard. Über 1,2 Millionen ältere und erwerbsgeminderte Menschen müssen zum Sozialamt. Ihre Zahl hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt. Hinzu kommt die versteckte Altersarmut. Drei von fünf Anspruchsberechtigten beantragen keine Grundsicherung im Alter. Zukünftig wird die Altersarmut weiter zunehmen. In 20 Jahren droht jedem fünften Neurentner ein Leben in Armut. Am stärksten betroffen sind Alleinerziehende und Geringverdienende.
Damit aber nicht genug. Die steuerpolitische Reichtumspflege der Schröder- und Merkel-Regierungen sorgte dafür, dass das heimische Steuer- und Transfersystem mit den Herausforderungen steigender Ungleichheit nicht mehr Schritt halten konnte. Bis Anfang der 90er Jahre konnte Berlin mit Steuern, Abgaben und Transfers den Anstieg der Ungleichheit in der primären Einkommensverteilung noch verringern, Seitdem hat die umverteilende Wirkung des Sozialstaates deutlich nachgelassen. Erst nach der Finanzmarktkrise konnten die Gewerkschaften wieder stärkere Lohnzuwächse durchsetzen. Das Jobwachstum der 10er Jahre veränderte die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften nahm zu. Der Boom prekärer Arbeitsverhältnisse kam zum Erliegen.
»Die SPD korrigierte arbeitsmarkt- und sozialpolitische Fehler der jüngeren Vergangenheit.«
Mitte der 10er Jahre stellte sich die SPD inhaltlich neu auf. Der Sozialstaat wurde wiederentdeckt. Diesmal als notwendiges soziales Korrektiv und Produktivkraft. Als Juniorpartner in der Großen Koalition korrigierte die SPD einige arbeitsmarkt- und sozialpolitische Fehler der jüngeren Vergangenheit. Arbeitsministerin Andrea Nahles stoppte den freien Fall der Löhne durch eine gesetzliche Lohnuntergrenze. Olaf Scholz, Andrea Nahles und Hubertus Heil stabilisierten das Rentenniveau, führten die Rente mit 63 ein und schufen die Grundrente. Dadurch konnte das Wachstum der Altersarmut gebremst werden.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Spaltung des Arbeitsmarktes konnte nicht überwunden werden. Die Erosion der Tarifbindung setzte sich fort. Die Löcher im sozialen Sicherungsnetz, welche die neoliberale Politik der Nullerjahre verursachte, konnten nicht gestopft werden. Und in den Metropolen explodierten die Mieten. Folglich lebten Geringqualifizierte, Alleinerziehende, Erwerbslose, Migranten, Kinder und Jugendliche weiterhin mit einem hohen Armutsrisiko.
Politik der Ampelregierung
Die Ampel war 2021 angetreten, um mehr Fortschritt zu wagen. Aus sozialdemokratischer und grüner Sicht ging es dabei immer auch um sozialen Fortschritt. Im Koalitionsvertrag wurden wichtige Maßnahmen zur Armutsbekämpfung vereinbart. Die Liste reichte von einem höheren Mindestlohn, einer politischen Stärkung von Tarifverträgen, die Einführung eines Bürgergeldes bis hin zur Kindergrundsicherung. Eine konsequente Umsetzung dieser Politik hätte mindestens 2,4 Millionen Menschen aus der Armut befreien können.
Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro war das große Wahlversprechen der SPD. Ein Jahr nach der Wahl konnte die Ampel dieses Versprechen einlösen. Von der Mindestlohnerhöhung profitierten zunächst sechs Millionen Arbeitnehmer/innen. Steigende Preise sollten aber schon bald dieses kräftige Lohnplus wieder aufzehren. Die Mehrheit der Mindestlohnkommission – Arbeitgeber und Vorsitzende – ignorierte anschließend die Inflation. Sie spendierte lediglich eine mickrige Mindestlohnerhöhung. Eine zweite politische Anhebung auf 14 Euro scheitert gegenwärtig an der FDP. Ebenfalls schwer tut sich die Ampel mit der politischen Stärkung von Tarifverträgen. Zwar sollen öffentliche Aufträge künftig an Tarifverträge gebunden werden. Dies wird jedoch nicht zu einer deutlich höheren Tarifbindung führen. Dafür bräuchte es eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeit und eine kollektive Nachwirkung von Tarifverträgen. Das ist aber mit Christian Lindner, Marco Buschmann & Co nicht zu machen.
»Das neue Bürgergeld schützt nicht vor Armut, die Regelsätze decken nicht den Bedarf.«
Darüber hinaus ersetzte die Ampel Hartz IV durch das sogenannte Bürgergeld. Diese Reform sollte Bedürftige verstärkt in dauerhafte sozialversicherte Arbeit bringen und die Weiterbildung fördern. Die Sanktionen wurden abgeschwächt und das Schonvermögen erhöht. So weit, so gut! Das neue Bürgergeld schützt aber nicht vor Armut. Zwar wird der Regelsatz im Januar 2024 angehoben. Diese Erhöhung gleicht aber nicht einmal die Inflation aus. Die Regelsätze decken bis heute nicht den Bedarf. Ferner wurde an der Zumutbarkeit festgehalten und kein Berufs- und Qualifikationsschutz geschaffen.
Trotzdem war die Bürgergelderhöhung heftiger öffentlicher Kritik ausgesetzt. Arbeitgeberverbände und CDU/CSU behaupteten, dass sich Arbeit jetzt nicht mehr lohne. Geringverdienende und Bedürftige wurden gegeneinander ausgespielt. Das sogenannte Lohnabstandsgebot wird jedoch weiter eingehalten. Wer arbeitet, hat hierzulande immer mehr als derjenige, der nicht arbeitet. Die Kampagne gegen die Bürgergelderhöhung zeigte aber Wirkung. Die Ampel verschärfte die Sanktionen gegen sogenannte Totalverweigerer.
Die Einführung einer Kindergrundsicherung sollte ursprünglich Kinderarmut bekämpfen. Die grüne Familienministerin Lisa Paus hatte dafür einen jährlichen Betrag von zwölf Milliarden Euro vorgesehen. Diese geplanten Mehrausgaben kollidierten aber mit Lindners Sparplänen. Herausgekommen ist eine Kindergrundsicherung light, die nur noch bestehende Sozialleistungen bündelt. Die beabsichtigten zwölf schrumpften auf zwei Milliarden Euro. Der Anspruch Kinderarmut zu beseitigen, wurde der Sparpolitik geopfert.
Last but not least schwächt die Ampel mit der neuen Aktienrente – ein politisches FDP-Projekt – die gesetzliche Rente. Der Milliardenbetrag, der künftig für eine kapitalgestützte Rente angelegt wird, fehlt für eine besser ausgestattete Grundrente.
Die Regierung versucht zwar Armut zu bekämpfen. Gleichzeitig wachsen aber krisenbedingt die sozialen Probleme: die Reallöhne sinken, die Preise steigen und die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Bezahlbarer Wohnraum ist knapp, ebenso Kita- und Schulplätze. Die politischen Anstrengungen der Ampel reichen nicht aus, um die Armut zu senken. Erschwerend kommt hinzu, dass der Schutzengel der Reichen weitere notwendige arbeitsmarkt- und sozialpolitische Reformen verhindert. Lediglich ein starker wirtschaftlicher Aufschwung könnte die Armut jetzt noch schrumpfen lassen. Darauf deutet aber wenig hin. Ohne politischen Kurswechsel wird die Armut in einem reichen Land weiterwachsen.
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