Bevor ich meinen ökonomischen Blick auf die aktuelle Flucht- und Migrationsthematik werfe, erlauben Sie mir ein paar Worte über meinen Vater Karl Hellenschmidt jr., der mich in zweierlei Hinsicht prägte. Er verließ die Schule mit nicht einmal zwölf Jahren (genauso wie meine Mutter) und entsprechend war ihr beider Leben von großer Frustration und mangelnden Lebenschancen geprägt. In dieser Umgebung wuchs ich auf. Zugleich war mein Vater ein bemerkenswert kluger Mann – von ihm lernte ich das Denken. Mit dieser Fähigkeit genoss ich eine außerordentlich gute Ausbildung und doch waren es insbesondere mein Vater und seine Unterweisung, welche mich nachhaltig beeinflussten.
Mein Lebenswerk fand maßgeblich in Gesellschaften statt, in denen ich meinen Vater und meine Mutter millionenfach wiedersah – Menschen, für die die Chancen der modernen Welt unerreichbar blieben und die somit unnötig frustrierte Leben führten. Nahezu mein gesamtes Berufsleben habe ich damit zugebracht, Chancen zu schaffen, wo Frustration herrscht, doch glaube ich nicht, dass wir im Falle der Zuwanderung den richtigen Weg eingeschlagen haben, und hoffe, Sie von dieser These ein Stück weit überzeugen zu können.
Ich bin (neben Alexander Betts) Autor des Buches Refuge. Transforming a Broken Refugee System, welches die existierenden Strukturen der Flucht- und Asylpolitik anklagt – eines maroden, katastrophal gescheiterten Systems. Dieses Scheitern begründet sich in zwei Umständen. Zum einen ist es das Ergebnis einer seit 70 Jahren unverändert bestehenden Struktur, die in ihrer gegenwärtigen Architektur nicht mehr reformierbar ist. Verstärkt durch einen politischen Populismus – Entscheidungen, die kurz und bestenfalls mittelfristig wirksam scheinen, aber beim ersten Auftreten unerwarteter Konsequenzen aufgegeben oder ins Gegenteil verkehrt werden – taumelt dieses System seit Jahren zwischen zwei Welten hin und her: dem herzlosen Kopf, grausam, unachtsam gegenüber dem humanitär Gebotenen, und dem kopflosen Herz, emotional, bar jeglicher Rationalität.
Flucht ist keine Migration
Den entscheidenden Punkt, den ich für die folgende Argumentation und knappe Analyse dieses gescheiterten Systems deutlich machen möchte, ist der folgende: Flüchtende sind keine Migranten. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass eine gewaltige Anzahl von Menschen, nämlich mindestens eine Milliarde weltweit, den mehr oder minder ausgeprägten Wunsch hegen, auszuwandern, also gerne in einem anderen Land als dem eigenen leben würden. Daneben gibt es etwa 20 Millionen Menschen, die sich auf der Flucht (außerhalb ihres Heimatlandes) befinden. Der Versuch, das Verlangen von einer Milliarde Menschen nach Migration zu befriedigen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt; unsere Pflicht den Flüchtenden gegenüber nachzukommen, ist hingegen absolut umsetzbar.
Anders als Migranten verlassen Flüchtende ihre Heimat nicht freiwillig. Sie tun es aus Gründen höherer Gewalt, angetrieben von der Furcht vor Krieg, Unterdrückung oder Hungersnöten. Dagegen gehen Migranten aus freien Stücken, sie werden angetrieben von Hoffnung, nicht von Angst. Der Flüchtende strebt nach der Wiederherstellung der Normalität; der Migrant hofft auf ein neues Leben. Während Flüchtende nach Zufluchtshäfen suchen, also Orten, die sicher sind, suchen die Migranten Honigtöpfe, das heißt Orte, an denen es sich gut leben lässt. Zwischen beiden gibt es keine Überschneidung. Jedes der zehn wichtigsten Zufluchtsländer, darunter die Türkei, Pakistan, der Libanon und der Iran, ist heute ein Land der Auswanderung, in dem Flüchtende eintreffen und aus dem Migranten weggehen.
Unsere Verantwortung gegenüber diesen beiden Gruppen ist also völlig konträr. Die Pflicht gegenüber Flüchtenden besteht darin, sie aus der Gefahr zu retten und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, wieder ein halbwegs normales Leben zu führen. Haben wir auch den Migranten gegenüber eine Pflicht? Ein Recht auf Auswanderung kann und sollte es nicht geben – weder rechtlich noch moralisch. Es gibt allerdings eine Pflicht, gegen die Ursachen von Migrationsbewegungen aus sehr armen Ländern etwas zu unternehmen. Was diese Menschen treibt, ist häufig die totale Hoffnungslosigkeit. Doch besteht die Lösung nicht darin, das Land zu verlassen; vielmehr müssen wir die Hoffnung in diese Gesellschaften zurückbringen.
Aus meiner Arbeit weiß ich, wie schwierig dies ist. Nehmen wir als Beispiel Mali, welches bis zu den Tumulten in Libyen auf einem guten Weg war – bis 800 bewaffnete Männer, beauftragte Söldner Muammar al-Gaddafis, ins Land kamen. Weil die in das Land fließenden Entwicklungshilfeleistungen und Spendengelder nicht für die Rüstung verwendet werden durften, blieb Mali vollkommen schutzlos. Auch die in Stuttgart zum Schutz afrikanischer Staaten und Bürger stationierten US-Soldaten der Einrichtung AFRICOM (Africa Command) schritten nicht ein. Wir versagen in unserer Verpflichtung, Hoffnung in die ärmsten Länder zu bringen, doch müssen wir uns auch klarmachen, dass Auswanderung nicht die Lösung sein kann.
Das Scheitern zweier Institutionen
Wir haben zwei Institutionen, die unseren Umgang mit flüchtenden und asylsuchenden Menschen maßgeblich bestimmen, und ich halte sie beide für hoffnungslos zum Scheitern verurteilt: den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) und die Genfer Flüchtlingskonvention. Der UNHCR ist ein rein humanitäres Amt, jedoch ist die zentrale Herausforderung in der Flucht- und Asylpolitik wirtschaftlich und nicht humanitär. Der UNHCR befindet sich noch heute in einer Welt der späten 40er Jahre, als Schutz und die Versorgung mit Nahrung Priorität hatten.
In meiner Familie gibt es ein Dokument über die deutsche Fluchtbewegung nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem es um verzweifelte Lebenslagen von Millionen von Deutschen geht – Flüchtende, die aus den östlichen Gebieten geflohen oder von dort vertrieben waren; ihre Hauptsorge waren Essen und ein Dach über dem Kopf. Dies stellt sich heute anders dar: Der durchschnittliche Geflüchtete ist bereits seit vielen Jahren auf der Flucht und strebt in erster Linie nach Wiederherstellung von Autonomie und Würde. Dazu gehört insbesondere die Möglichkeit, sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. So gesehen ist der UNHCR für die meisten Flüchtenden aus Syrien völlig irrelevant, denn nur ein geringer Anteil von diesen sucht in den Lagern Zuflucht. Der überwiegende Teil, etwa 80 %, geht direkt in die Städte, um illegal zu arbeiten. Diese Flüchtenden verzichten auf Nahrung und Unterkunft in den Lagern und nutzen stattdessen die Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und vermutlich würden wir alle es ihnen gleichtun.
Als humanitäre Einrichtung hat der UNHCR wie viele große Bürokratien heute unüberschaubare Ausmaße angenommen und operiert vermehrt im Sinne einer Notfall- oder Katastrophenhilfe. Diese kurzfristige humanitäre Notfallversorgung kann den längerfristigen wirtschaftlichen Bedürfnissen der Flüchtenden jedoch nicht gerecht werden; dem UNHCR mangelt es leider an Kapazitäten, um in diesem Sinne strategisch über die Fluchtfrage nachzudenken.
Mit noch größeren Widersprüchen sehen wir uns bei der Genfer Flüchtlingskonvention konfrontiert. Sie ist ein historisches Relikt, eine Reaktion auf die Expansionspolitik der Sowjetunion zu Beginn des Kalten Krieges. Nachdem der Eiserne Vorhang Europa 1948 in zwei Machtsphären geteilt hatte, beschlossen die USA, Geflüchtete aus Osteuropa nicht mehr in diese Länder zurückzuführen, um sie vor Verfolgung und Unterdrückung durch die kommunistischen Machthaber zu schützen. Die Flüchtlingskonvention war also einem ganz spezifischen historischen Kontext geschuldet – es ging um Verfolgung und es ging um Osteuropa. Dies hielt Europa freilich nicht davon ab, das Dokument später für universell gültig zu erklären – ein typischer Akt des Eurozentrismus. Wie wenig universell die Konvention tatsachlich ist, lässt sich allein daran ablesen, dass sie von keinem einzigen der zehn größten Aufnahmeländer unterzeichnet wurde. Damit ist sie für unsere heutige Lage von Flucht und Asyl irrelevant. Nach Inkrafttreten der Konvention haben Juristen ihren Wortlaut immer wieder neu gedehnt und nach den Gegebenheiten der jeweiligen Situation und des jeweiligen Landes interpretiert, bis der heute existierende Flickenteppich daraus geworden ist. Dies kann kaum Grundlage für eine zielführende Flucht- und Asylpolitik sein.
Arbeit, wo Arbeit gebraucht wird
Die Hauptaufgabe liegt in der Schaffung von Arbeitsplätzen, wo diese benötigt werden. Anstatt die Geflüchteten nach Europa zu bringen, sollten sie in näher gelegenen Zufluchtshäfen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dies hat gleich zwei Vorteile: Zunächst sind die Wege dahin kurz und weniger gefährlich. Flucht ist keine Wahl und nur eingeschränkt planbar; es ist ein Fliehen vor unsicheren Orten, Massengewalt und Mangel. Die wenigsten Flüchtenden, unter denen sich auch Alte, Frauen und Kinder befinden, sind in der Lage, lange Strecken zurückzulegen. Sie verbleiben als Binnengeflüchtete innerhalb der Grenzen des Herkunftslandes. Nur die, die es über die Grenze schaffen, nehmen wir überhaupt als Flüchtende wahr. Ihnen müssen wir vor Ort Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.
Der zweite Vorteil bezieht sich auf das Bestreben von Geflüchteten, in ihre Heimat zurückzukehren, sobald der Konflikt vorüber ist. Auch wenn es für uns manchmal so scheinen mag, als würden die Konflikte niemals enden, enden sie irgendwann. Deshalb müssen wir uns auf die Zeit nach der Beendigung eines Konflikts vorbereiten. Die Geflüchteten tun dies gewiss – zumindest gedanklich. Sie möchten in ihre Heimat zurückkehren. Und das ist für sie einfacher, wenn ihr Zufluchtsort möglichst nahe bei ihrem Herkunftsland liegt. Doch haben wir gerade diese regionalen Zufluchtshäfen massiv vernachlässigt.
Im syrischen Fall wurden seit 2011 etwa zehn Millionen Menschen – gut die Hälfte der syrischen Bevölkerung – vertrieben. Etwa die Hälfte von ihnen schaffte es in die Türkei, nach Jordanien oder den Libanon und blieb dort. Aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzung sind keine genaueren Zahlen vorhanden. Von der internationalen Gemeinschaft wurde dies zunächst weitgehend ignoriert und die drei Staaten mit dem Problem alleingelassen. Jordanien, das mich als Experten konsultiert hatte, befand sich zum Beispiel in einer verzweifelten Situation, weil seine Staatsverschuldung aufgrund der immensen Ausgaben für die Geflüchteten regelrecht explodiert war. Deutschland hatte seine Hilfszahlungen unterdessen halbiert.
Niemand sollte versucht sein, in ein Boot zu steigen und sein Leben aufs Spiel zu setzen. Anstatt Flüchtende zu uns zu bringen, müssen wir die Lage in den Zufluchtshäfen verbessern – dort wo die meisten von ihnen ohnehin längst leben und arbeiten wollen. Es ist viel einfacher, Arbeit für Geflüchtete in den Zufluchtshäfen zu organisieren als in einem hoch entwickelten Industrieland wie Deutschland, dessen Arbeitskräftebedarf von den meist unterdurchschnittlich qualifizierten Geflüchteten nicht abgedeckt werden kann. Die hohe Arbeitsproduktivität in der Bundesrepublik basiert auf einem hohen Qualifikationsniveau und langen Ausbildungszeiten, was an den wirklichen Bedürfnissen eines Geflüchteten vorbeigeht. Diese brauchen sofort einen Job für die nächsten Jahre – bevor sie in ihre Heimatländer zurückgehen – und keine Deutschkurse und fachspezifische Lehrgänge, die sie auf ein dauerhaftes Leben in der Fremde vorbereiten.
In einer Umfrage wurden die 30 führenden deutschen DAX-Unternehmen im Juni 2016 nach der Zahl der Arbeitsplätze gefragt, die sie in Deutschland für Geflüchtete schaffen könnten. Tatsächlich hatte die Deutsche Post bis dahin 50 und die übrigen 29 Unternehmen zusammen ganze vier Stellen bereitgehalten. Gleichzeitig wurden etwa 2.700 zusätzliche Praktikumsplätze und 300 Ausbildungsplätze geschaffen, die jedoch nur teilweise besetzt werden konnten, wie die FAZ berichtete. Dieselben deutschen Unternehmen haben in den letzten zwei Jahrzehnten Hunderttausende Jobs zuerst nach Polen und später in die Türkei ausgelagert. Wenn sie Arbeitsplätze für türkische Staatsbürger in der Türkei schaffen können, warum ist das nicht auch für syrische Geflüchtete in der Türkei oder in Jordanien möglich? Dafür müssen wir die Politik aus den Gerichtssälen rausholen und in die Vorstandsetagen tragen.
Vorausschauende Strategien für die Zeit nach dem Konflikt
Abschließend ein paar Worte über eine unglückliche Nebenwirkung der aktuellen Flucht- und Asylpolitik. Krisengebiete erholen sich in der Zeit nach dem Konflikt nur langsam, insbesondere, wenn wirtschaftliche Strukturen wie im syrischen Falle nahezu vollständig zerschlagen wurden. Problematisch und langwierig gestaltet sich dabei nicht so sehr der physische Wiederaufbau sondern der Wiederaufbau dieser zerstörten Strukturen. Mit Letzterem können wir jedoch schon vor Ende des Konfliktes beginnen. Wenn wir Arbeitsplätze für Geflüchtete in Zufluchtshäfen schaffen, sollten wir dort ebenso Unternehmen etablieren, die nach Ende des Konflikts nach Syrien weiterziehen. Die Rahmenbedingungen der modernen Privatwirtschaft erlauben, dass ein Unternehmen erfolgreich in Jordanien tätig sein und zu einem späteren Zeitpunkt vollständig oder mit einem Teil seiner Belegschaft nach Syrien umsiedeln kann. Wenn wir mit einer solchen Planung in den Zufluchtshäfen jetzt beginnen, lässt sich dem Risiko einer fortgesetzten politischen und wirtschaftlichen Instabilität vorbeugen. Erfahrungsgemäß ist die Gefahr eines erneuten Ausbruchs der Konflikte in solchen Gesellschaften hoch. Die Erholung der Wirtschaft könnte insofern einen wichtigen Beitrag zur regionalen Friedenssicherung leisten.
Ohne es zu wollen, ist Deutschland für eine sehr ausgewählte Gruppe von Flüchtenden attraktiv geworden. Dadurch hat die Bundesrepublik Geflüchtete, die sich längst in Zufluchtshäfen befanden, faktisch zu Migranten gemacht. Doch wurden sie nicht alle zu Migranten, sondern nur diejenigen, die in der Lage waren, die Reise zu bewältigen, und diejenigen, die am stärksten von einer verheißungsvollen Aussicht auf ein zukünftiges Leben in Deutschland angezogen wurden. Laut einer qualitativen und quantitativen Umfragereihe wurde als wichtigster Grund dabei nicht die wirtschaftliche oder wohlfahrtsstaatliche Situation Deutschlands, sondern die Achtung der Menschenrechte genannt (IAB-Forschungsbericht 9/2016).
Verlässliche und präzise Zahlen sind derzeit nicht verfügbar, aber ein überdurchschnittlich hoher Anteil der syrischen Bevölkerung in Hochschulausbildung oder mit Hochschulabschluss befindet sich derzeit in Deutschland. Das ist potenziell verheerend für eine nachhaltige Wirtschafts- und Friedenssicherung in der Zeit nach dem Konflikt in Syrien, die unter anderem auf den erfolgreichen Wiederaufbau der Verwaltung, der Unternehmensstrukturen und des Steuersystems angewiesen sind. Dafür bedarf es Hochschulabsolventen, an denen es in all diesen Gesellschaften mangelt. Deutschland ist darum bemüht, syrische Geflüchtete in Deutschland zu integrieren, ihnen die Sprache beizubringen, eine Zukunft zu ermöglichen, sie dezentral unterzubringen – kurz, sie zu Deutschen zu machen. Aus einer nationalen Perspektive mag dies erstrebenswert sein. Doch verzögert die Bundesrepublik damit den Wiederaufbau in der Bürgerkriegsregion und gefährdet so ungewollt deren friedliche Entwicklung und Stabilität. Diesen Albtraum müssen wir verhindern.
(Der Text basiert auf einem Vortrag, den Paul Collier 2016 in Bonn gehalten hat. Er wurde transkribiert, übersetzt, bearbeitet und ergänzt von Thorsten Stolzenberg. Der Beitrag ist ebenfalls in dem Buch »Flucht, Transit, Asyl. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein europäisches Versprechen« erschienen, das von Ursula Bitzegeio, Frank Decker, Sandra Fischer und Thorsten Stolzenberg herausgegeben wurde und 2018 bei J. H. W. Dietz in Bonn erschienen ist, 472 S., 32 €.)
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