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Ein Manifest für eine globalisierte Welt Attraktive Arbeit statt technokratischer Utopie

Das Werk muss als ein Manifest gelten. Ein Manifest mit 4.000 Seiten Umfang? Das bekannteste, das kommunistische, weist gerade mal 40 Seiten auf und hat Epoche gemacht. Und doch ist die Assoziation gerechtfertigt: Diese Bände teilen dieselbe Hoffnung auf das den Produktivkräften innewohnende Vermögen, ein Weltalter ohne Hunger, Ausbeutung, Herrschaftsverhältnisse, Ressourcenknappheit und Raubbau an der Natur freizusetzen.

Die alte Ausbeutung und die größte Not gibt es doch gar nicht mehr, sagen die mit den Verhältnissen Einverstandenen und machen aus der Feier der Technologien eine Feier des Kapitalismus. Das dem Kapital zugeschriebene Vermögen ist aber eines der lebendigen Arbeit, das sich in den Technologien vergegen­ständlicht hat, hält dieses Buch dagegen. Was der Seite der Lohnarbeit zugehört, ist nicht fetischisierend der Gegenseite zuzuschreiben; das ist die Analysis dieses Textes.

Inspiriert von Thomas Piketty

Die Verfasser der Bände sind erkennbar von Thomas Piketty inspiriert. Sein Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert hat die Gesellschaftskritik auf die Höhe der Zeit gehoben. Er hat das statistische Material, mit dem Karl Marx im ausge­henden 19. Jahrhundert gearbeitet hatte, auf den Stand des beginnenden 21. Jahrhunderts gebracht. Die Autoren von Matrix der Arbeit wetteifern dem französischen Ökonomen und seiner statistischen Vorliebe nach: Die Apologeten der Marktwirtschaft haben vor nichts so sehr Respekt wie vor Zahlenkolonnen.

Die Grafiken in diesem Buch zeigen die im ständigen Progress befindliche menschliche Arbeit. Längst hat dieses Arbeitsvermögen eine Stufe erreicht, die die Fortexistenz von Hunger und Durst als Schande entlarvt. Wären die Produktivkräfte von dem Zwang befreit, nur dem Tauschwert zu dienen und stünde ihr Gebrauchswert frei zur Verfügung, wäre der schändliche Zustand der Welt rasch beendet. Hierin kommt der Charakter des Manifests zum Ausdruck.

Die einzelnen Bände dieser Monografie gehen den Epochen der Menschheitsgeschichte nach und gliedern sie nach ihren Produktions- und Herrschaftsverhältnissen; das mit Herrschaft amalgamierte Verhältnis von geistiger und körperlicher Arbeit ist wieder ein Thema. Es ist eins dieser hässlichen Themen, die die bundesrepublikanische Gesellschaft gerne verdrängt und die als verdrängte dann wiederkehren.

In der Rede vom Fachkräftemangel kommt wieder zu Bewusstsein, dass Handwerks- und Industriearbeit unverzichtbar sind.

Fachkräftemangel ist die Chiffre der Angestelltengesellschaft, womit ihr zu Bewusstsein kommt, dass Handwerks- und Industriearbeit für die Funktionsweise der Gesellschaft unverzichtbar sind. Man rät den eigenen Kindern davon ab; sie sollen ihr künftiges Berufsleben im Büro und nicht auf der Baustelle oder dem Shop Floor der Fabrik verbringen. Und plötzlich wird man gewahr: Da fehlt doch wer. Also müssen Arbeiter her; am besten kämen sie quasi als ausgebildete Klempner angesegelt. Stattdessen kommen unausgebildete junge Männer, Frauen und Kinder  mit dem Schlauchboot. Aber für die hat man keine Verwendung.

Die Realität der globalisierten Welt

Gute Sozialwissenschaft verzuckert keine gesellschaftliche Realität; man erkennt sie daran. Dieses Buch bleibt im Zustand der Nüchternheit. Man könnte auch sagen, es stellt sich der Realität der globalisierten Welt. 20 Prozent der jungen Bevölkerung in den Ländern der Subsahara wollen, so liest man, ihrer Verelendung entfliehen. Das Buch zitiert eine Untersuchung der Vereinten Nationen. Die Flüchtlinge orten mit ihren Smartphones das gelobte Land und die dorthin führenden Fluchtrouten. Wer will es ihnen verdenken? Zehn Prozent der Menschheit leben mit vier Dollar am Tag; darunter fängt gleich das Sterben an. 36 Prozent verfügen gerade mal über acht Dollar, was für ein respektables Leben nicht hinreicht. Solange sich diese Verhältnisse fortschreiben, wird es das heutige Ausmaß an Migration geben. Das zeigt auch die Verlogenheit der Suggestion, mit einer anderen Bundesregierung käme die Lösung des Flüchtlingsproblems.

Die umfängliche Materialsammlung ist eingefügt in eine Geschichte der Werkzeuge, der Maschinen und der von den jeweiligen Produktionsweisen charakterisierten Epochen und blendet Herrschaftsverhältnisse nicht aus. Die Produktivität des Ackerbaus liefert zum ersten Mal ein über das zum Überleben hinausgehendes Mehrprodukt, und ruft die Mächte auf den Plan, die es sich aneignen.

Den Epochen der Menschheitsgeschichte ist jeweils ein Band gewidmet. Den entstehenden Imperien – und ihrer Ökonomie – gehen diese Bände nach. Der maritime Handel mit Schiffsflotten macht die oberitalienischen Stadtstaaten und ihre Medicis reich. Der Sklavenhandel ist ein vom Kaufmannskapital betriebenes zirkuläres Geschäft. Die Handelshäuser liefern Textilien und Waffen nach Afrika, bekommen dafür Sklaven, setzen diese auf den Baumwollfeldern der Südstaaten ein, lassen den Rohstoff in den englischen Fabriken weben, und dann überschwemmen sie mit billiger Massenware Afrika und die ganze Welt. Dem Handelskapital werden die Märkte im Bedarfsfall freigeschossen. Man verschafft sich Zugang zu den Märkten, wie beispielsweise im dem Freihandel gewidmeten Opiumkrieg. Der Preis eines Sklaven notiert um 1800 bei 400 Dollar, ein Lohnarbeiter um 130 Dollar im Jahr; der versklavte Mensch amortisiert sich also schon nach drei Jahren.

Nur für Historiker von Interesse? Auch heute gibt es Zwangsarbeit.

Solche Kurszettel der Vergangenheit sind doch bloß für einen Historiker von Interesse, wird man vielleicht einwenden und auf den Fortschritt in der Geschichte der Menschenrechte verweisen. Wie weit ist es aber damit her? Das weltweite Zentrum des Baumwollanbaus liegt im Nordosten Chinas, in der Provinz Xinjiang. Dort herrscht laut UN und ILO, der International Labor Organisation, Zwangsarbeit. Die Staatsgewalt steckt die Uiguren in Umerziehungslager in der Nähe von Textilfabriken. Die in Europa bekannten großen Markenhersteller verarbeiten in Xinjiang geerntete Baumwolle. Mit dem Fortschritt der Menschenrechte ist es also nicht so weit her.

Der Fortschritt der Arbeitsproduktivität ist dagegen immens. Der Warenkorb von 1800, beinhaltend Kleidung, Behausung, Nahrung und Energie, ist um das Vierzigfache angewachsen. Produzierte Rom zu seinen Glanzzeiten 300 Gramm Weizen pro Stunde, waren es um 1800 schon ein Kilogramm und sind es gegenwärtig 200 Kilogramm. Eisen zu verwenden für die Werkzeuge des Handwerks, des Kriegs und des Landbaus hat den Produktivitätsschub ausgelöst. Die Geschichte des Werkzeugs schreibt das Buch zu einer Geschichte der Maschine fort. Die Wind- und Wassermühlen der beginnenden Industrialisierung sind der frühe Maschinenbau gewesen. In den sogenannten Satanic Mills der englischen Midlands erlebte der Mensch seinen Tiefpunkt, zu ermessen an dem für Kinder erlassenen Sozialgesetz, das um 1800 als große Reform galt: Ein Zehnstundentag, keine Nachtarbeit, und ein Mindestalter von zehn Jahren als Hilfskraft. Die Arbeitszeiten der Erwachsenen gingen bis auf 100 Stunden die Woche hoch und die Profitraten auf 40 Prozent.

Der Verbrennungsmotor, so erfahren wir, hat die Grenzen der menschlichen und der tierischen Muskelkraft gesprengt. Er löste eine technische Revolution aus, denn die neue Energiequelle steigerte den Mengenoutput pro Arbeitsstunde immens. In dieser gängigen Definition von Produktivität kommt das Wesen einer Ökonomie zum Ausdruck, die für die Bestimmung des Fortschritts bloß quantitative Parameter zur Verfügung stellt. Längst ist dieser Ökonomie die Gegenrechnung aufgemacht. Der Siegeszug der bürgerlichen Produktionsform kam einer Eroberung gleich, den die Fauna und Flora erleiden musste, schreiben die Autorinnen und Autoren. Die Destruktivkräfte werden ihr Zerstörungswerk fortsetzen, sollte es der Menschheit nicht gelingen, die mit dem »fossilen Irrweg« entstandene ökologische Krise zu steuern.

Kritik des Wegwerfkonsums

Dazu bieten die Produktivkräfte alle nötigen Potenzen. Es ist kein Gürtel-enger-Schnallen, dem das Institut für Geschichte und Zukunft der Arbeit das Wort redet. Den Wegwerfkonsum bedenkt es dagegen mit aller Kritik. Vermutlich werden 30 Prozent der produzierten Kleidung nie getragen; denn die Menschheit des globalen Nordens ist gehalten, dem mehrmals im Jahr ausgerufenen Modetrend zu folgen. Die Influencer sind als die Trendsetter angestellt, die Näherinnen schuften bei niedrigstem Lohn in den Sweatshops Pakistans und der Onlinehandel optimiert die Distribution der modischen Ware. Millionen Beschäftigte des Globalen Südens stellen Wegwerfartikel und Billigelektronik her.

Die der Zukunft gewidmeten Kapitel handeln von der Notwendigkeit, die Armut zu steuern. Zehn Prozent der Menschheit besitzen gerade mal vier Dollar am Tag und damit das Existenzminimum. Wer das Doppelte verdient, und das sind 36 Prozent der Menschen, ist von einem respektablen Leben natürlich noch weit entfernt. Die Wirtschaftsstatistiker des Instituts haben errechnet: Das Fünfzehnfache des Existenzminimums, dazu ärztliche Versorgung und Bildung, sind für ein menschenwürdiges Leben notwendig.

»Es war die Arbeiterbewegung, die ein humaneres Leben erkämpfte.«

Einem Viertel der Menschheit, dem in den OECD-Staaten lebenden Teil, ist ein solches vergönnt, und es war die Arbeiterbewegung, die ein humaneres Leben erkämpfte. Die so gerne vom enger geschnallten Gürtel reden und dabei die Ökologie als Vorwand benutzen, wollen – auch daran erinnert das Buch – das System der Tarifbindung und der Sozialversicherung aushebeln. Sie sind an ihren floskelhaften Sprache leicht zu erkennen; das Wort von der Vollkaskomentalität taucht in den liberal-konservativen Reden und Schriften zuverlässig auf.

Der abschließende Band ist dem Begriff Guter Arbeit gewidmet. Wie die Gewerkschaften schreiben die Wissenschaftler das Adjektiv groß. Es soll gleichsam ein Markenzeichen gesetzt werden. Und ein legitimer Wunsch, wie die vom DGB veranlasste Studie unter dem Titel Index Gute Arbeit zeigt. Das Bedürfnis nach humanen Arbeitsumständen ist groß, befriedigende Arbeit ist voraussetzungsvoll; mit einigen Floskeln über New Work ist es nicht getan. Solche Arbeit ist abwechslungsreich, hat Einfluss auf die ihr zugrunde liegenden Organisation, ist ordentlich entlohnt und fördert die Entwicklung weiterer Fähigkeiten; sie vergegenständlicht sich in einem nützlichen Gut, bietet Beschäftigungssicherheit bei einem mäßigen Zeitaufwand.

Der Mensch ist mehr als ein Roboter

Es ist also nicht weniger verlangt, als eine grundlegende Abkehr vom Taylorismus. Die Technik soll wieder Werkzeugcharakter bekommen. Der Arbeitende wendet sie an, statt von der Maschinerie angewandt zu werden. Solche Umwälzung ist ein Gedanke von vorgestern, würden die Hymnen auf die Künstliche Intelligenz Schreibenden sagen. Der des Deep Learning fähige Computer schließe zur Intelligenz des Menschen auf, schreiben sie. Welch ein armseliges Bild des Menschen hat diese technokratische Utopie! Er wird in Analogie mit einem humanoiden Roboter gesehen. Ein solcher Roboter rechnet, speichert Daten und führt mit Sensorik und Aktorik Handlungen aus, deren Zweck dem dummen Ding vorgegeben ist. Freiheit, Selbstbestimmung, die großen Kategorien der Philosophie, müssen als übergeschnappte Selbstverkennung des Menschen gelten.

Ein technokratisches Utopia ist die Sache der Berliner Instituts für die Geschichte und Zukunft der Arbeit nicht. Es hat ein überaus nützliches, mit seinem Schlagwortverzeichnis gleichsam lexikalisches Werk vorgelegt.

Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit – IGZA (Hg.): Matrix der Arbeit, Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit. Sieben Bände im Schuber, J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2023, 2.388 S., 245 €.

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