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Der Weg zur Verständigung führte über eine Wählerinitiative vor 50 Jahren Auch Katholiken wählen SPD

In der Wahlnacht vom 19. November 1972 sorgte Willy Brandt für Aufsehen, als er sich bei den Katholiken für den hohen Wahlsieg der SPD bedankte: »Meine Partei begegnete draußen im Land einer zunehmenden Aufgeschlossenheit, und ich beobachtete mit besonderer Freude den Geist wachsender Offenheit unter unseren katholischen Landsleuten.« In seiner Regierungserklärung hob Bundeskanzler Brandt die Katholiken erneut hervor.

1969 zählte die von Günter Grass initiierte Wählerinitiative 90 Initiativen vor Ort, im Wahlkampf 1972 waren es 220. Viele Künstler und Intellektuelle riefen zur Wahl Willy Brandts auf: »Willy wählen« oder »Bürger für Brandt« lauteten die Slogans auf den Stickern, die damals modern waren. Günter Grass tourte mit seinem Wahlkampfbus für die »Espede« vor allem durch katholische Gegenden, um die örtlichen sozialdemokratischen Bundestagskandidaten und um Willy Brandt in Bonn gegen die erdrückenden CDU-Mehrheiten zu unterstützen. Die Friedens-, Bildungs- und Sozialpolitik Willy Brandts überzeugte die Katholiken auf dem Land.

Der katholische Arbeitskreis der SPD-Wählerinitiative trat erstmals im Juni 1972 in Aktion. Eine schmale Broschüre mit dem Es-Pe-De-Hahn vorne drauf enthielt Beiträge des Schriftstellers Carl Amery, der Publizisten Walter Dirks und Alfred Horné sowie des Politologen Gottfried Erb, in denen sie ihren Einsatz für die SPD begründeten. In dieser Schrift war der Wahlaufruf »Auch Katholiken wählen SPD« eingeheftet – zum Weitergeben und Nachbestellen. Die Autoren stellten heraus, dass nicht die SPD, sondern der politische Konservatismus von CDU und CSU dem kirchlichen Auftrag schadeten.

Carl Amery betonte, die Katholiken lägen sozial und in ihrem Bildungsstandard unter dem deutschen Durchschnitt. Sie müssten deshalb die SPD als ihre Interessenvertretung wählen. Walter Dirks ging auf die notwendige Reform des Paragrafen 218 ein. Alfred Horné erinnerte an die Wertung des Jesuiten Oswald von Nell-Breuning, das Godesberger Programm sei eine kurzgefasste katholische Soziallehre. Gottfried Erb hob schließlich die Ostpolitik von Willy Brandt hervor. Damit wurde von der katholischen Wählerinitiative das gesamte Spektrum sozialdemokratischer Reformpolitik aufgegriffen.

1972 wählten kirchenferne wie auch kirchlich stark gebundene Katholiken die SPD. Zwar geriet die führende Stellung der CDU unter den Katholiken nicht in Gefahr, aber die Wahlforscher erkannten in dem selteneren Kirchgang der Katholiken eine politische Größe. Menschen, die weniger häufig zur Kirche gehen, sind bald auch nicht mehr von den Vorgaben und Erwartungen ihrer Kirche erreichbar. 1973 besuchten gerade noch 35 Prozent der Katholiken regelmäßig den Sonntagsgottesdienst. Zehn Jahre zuvor waren es noch 55 Prozent gewesen.

Der Anteil der SPD-Wähler unter den Katholiken stieg von 24 Prozent 1961 auf 35 Prozent 1972. Vor allem die katholischen Frauen wandten sich zunehmend der SPD zu. Allerdings sank der Anteil der Katholiken, die für die SPD stimmten, im Lauf der 70er Jahre wieder auf unter 30 Prozent. Als Grund dafür dürfte die breite Koalition von CDU und Kirche für eine »geistig-moralische Wende« in der Bildungs-, Familien- und Innenpolitik gelten.

Willy Brandt hatte frühzeitig diese Brisanz erkannt und richtete – bis dahin singulär in der deutschen Parteiengeschichte – ein evangelisches und ein katholisches Referat für Kirchenfragen beim Parteivorstand ein. Die beiden Referenten beobachteten für die SPD den kirchlichen Bereich, bewerteten für den Parteivorstand politische Entwicklungen in den Kirchen und erweiterten die Basis von christlichen Sozialdemokraten in den Kirchen und in der Partei.

Obwohl Bundeskanzler Helmut Schmidt und auch andere führende Sozialdemokraten mit richtungsweisenden Beiträgen in der Grundwertedebatte vertreten waren, veröffentlichten die deutschen Bischöfe zur Bundestagswahl 1980 einen Hirtenbrief, der einseitig das Programm des Kanzlerkandidaten Franz-Josef Strauß übernahm und damit zur Abwahl von Schmidt aufrief. Mindestens drei Folgen hatte dieser Vorgang: eine starke Bestürzung in der SPD mit zeitweiliger Distanzierung von der katholischen Kirche, eine Solidarisierung von kritischen Strömungen in der Kirche mit der SPD – es gab etwa erstmals einen »Anti-Hirtenbrief« von prominenten katholischen Theologen – und die langsam aufziehende Erkenntnis in der Kirche, dass die Zeit ihrer politischen Autorität vorbei ist. Damit war die Integration der Katholiken in den gesellschaftlichen Pluralismus gelungen; die Zeit der Wahlhirtenbriefe war vorbei.

Das Umfeld der Wählerinitiative

Vorbei war damit aber auch die hohe Zeit der Wählerinitiativen. Dabei hatte es solche Ausbrüche aus dem CDU-Katholizismus schon lange vorher gegeben. Bereits ab dem Ende der 50er Jahre begannen Heinrich Böll, Carl Amery, Luise Rinser und Günter Grass sich von ihrer Herkunft aus dem katholischen Milieu freizuschreiben. In seinem Jahrgang 1957 riefen die Werkhefte katholischer Laien, eine zwischen 1947 und 1961 in München erscheinende linkskatholische Zeitschrift, in mehreren Artikeln zur Wahl der SPD auf. Das blieb zwar eine einmalige Aktion, führte aber mit dazu, die Zeitschrift junger kritischer Katholiken zur Aufgabe zu zwingen.

Ähnlich erging es dann der 1968 von der Bischofskonferenz ins Leben gerufenen Wochenzeitschrift Publik. Zum Eklat kam es, als sich 1969 Peter Lengsfeld, katholischer Theologieprofessor in Münster, in einer Anzeige in Publik als SPD-Wähler outete. Die Zeitung hatte zehn ganzseitige Wahlanzeigen der CDU abgedruckt, aber lediglich drei halbseitige der SPD, davon die dritte als Anzeige der sozialdemokratischen Wählerinitiative Münsteraner Bürger mit dem Votum Peter Lengsfelds. Jedenfalls haftete Publik jetzt der Vorwurf an, links zu sein und 1969 Willy Brandt zum Wahlsieg verholfen zu haben. 1972 wurde die Zeitung von den Bischöfen eingestellt.

Seit 1966 existierte der »Bensberger Kreis« als Zusammenschluss reformorientierter katholischer Intellektueller. Mit seinen Memoranden zur Aussöhnung mit Polen, zum Vietnam-Krieg, zur Demokratisierung der Kirche und zur Reform des Paragrafen 218 griff er zwischen 1968 und 1973 SPD-Themen auf. Mehrere Mitglieder des »Bensberger Kreises« finden sich auch auf den Listen des katholischen Arbeitskreises der Sozialdemokratischen Wählerinitiative wieder. Allerdings gilt im Allgemeinen, dass diese und andere Kreise des »alternativen« oder »offenen« Katholizismus – zum Beispiel auch der Leserkreis der angesehenen Frankfurter Hefte oder die Initiative »Kritischer Katholizismus« – keine Sozialdemokraten wurden, sondern bestenfalls nach einem politischen Pluralismus in der Kirche verlangten. In dem Memorandum des Bensberger Kreises »Anti-Sozialismus aus Tradition?« von 1976 etwa schwingt der Vorwurf mit, dass die Führung der SPD lediglich mit der Kirchenführung Gespräche führe, nicht aber mit Vertretern des Reformkatholizismus. Deshalb seien auch keine Koalitionen mit dieser Partei möglich.

Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie lange es dauerte, einen Schlüssel für die Tür zur Verständigung zwischen der SPD und der katholischen Kirche zu finden. Rund um die Erarbeitung des Godesberger Programms kam es zu eindrucksvollen Begegnungen zwischen katholischen Theologen und den SPD-Programmatikern. Erstmals auf dem Katholikentag in Mönchengladbach 1974 traf sich am Rande eine kleine Gesprächsrunde von Sozialdemokraten. Das war allerdings auch der Katholikentag, auf dem der sozialdemokratische NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn ausgebuht wurde. Zu diesem Zeitpunkt gehörte Georg Leber bereits dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an, denn man wollte einen amtierenden Bundesminister in seinen Reihen haben und der Katholik Hans-Jochen Vogel gehörte zu den von der Kirche meist kritisierten Politikern, weil er als Justizminister für die Reform des Paragrafen 218 sowie des Ehe- und Familienrechts verantwortlich gemacht wurde. Erstmals 1978 in Freiburg trat im offiziellen Programm des Katholikentages mit dem Bundestagsabgeordneten Hermann Schmitt-Vockenhausen ein Sozialdemokrat auf.

Kehren wir noch einmal zurück zu den Wahlen von Willy Brandt 1969 und 1972 sowie auf die damals deutlich ansteigende Anzahl katholischer SPD-Wähler. Es soll hier noch an einige Personen erinnert werden, die in diesen Jahren immensen Angriffen ausgesetzt waren. Der Name von Peter Lengsfeld ist bereits gefallen. Der Theologieprofessor aus Münster gehörte 1969 und 1972 zu der katholischen Wählerinitiative für die SPD. Herbert Vorgrimler aus Freiburg und Theologieprofessor in Luzern soll noch genannt werden. Der Alt-Nazi Kurt Kiesinger war 1969 Kandidat der CDU. Dem SPD-Kandidaten Willy Brandt wurde jedoch seine Zeit im Exil, seine uneheliche Geburt und sein Namenswechsel vorgeworfen. Als dann auch noch einige bedeutende katholische Theologieprofessoren aus Freiburg Anzeigen für die CDU veröffentlichten, wollte auch Herbert Vorgrimler seine Zurückhaltung aufgeben. In seiner Anzeige kann man lesen: »Darum unterschreibe ich den Satz meines Kollegen Professor Dr. Peter Lengsfeld in Münster: ›Ich hoffe auf einen Wahlsieg der SPD‹.« Vorgrimler berichtete von einem Erdrutschsieg der SPD in Freiburg, für den ihm Willy Brandt dankte. Er berichtete aber auch von einem öffentlichen Kesseltreiben gegen ihn, das ihn letztlich dazu bewog, von Luzern nach Münster zu wechseln.

An Norbert Greinacher sei noch erinnert, weil er als letzter Mitinitiator der Wählerinitiative vor Kurzem – im März 2022 mit 90 Jahren – verstorben ist. Greinacher, er war in Tübingen Theologieprofessor, wirkte am längsten aktiv mit. Nach der so erfolgreichen Wahl von 1972 analysierte er die politischen Aufrufe des offiziellen Katholizismus dieses Jahres als Klerikalismus. Der läge nämlich dann vor, wenn man über die Kirchenmitglieder hinweg parteipolitisch Stellung beziehe und dabei insbesondere den Status quo in Gesellschaft und Staat festschreiben wolle. Es gäbe allerdings auch die Gefahr eines linken Neoklerikalismus, wenn man die SPD als die einzige christliche Lösung aller politischen Probleme hinstellte.

Auf dem Bundesparteitag der SPD in Hannover 1973 wurde Norbert Greinacher die Ehre zuteil, für die Katholiken in der Wählerinitiative sprechen zu dürfen. Hans-Jochen Vogel hielt übrigens 1996 zum 65. Geburtstag Greinachers eine grundsätzliche Laudatio zum Thema »Die katholische Kirche und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands«. Darin dankte der Parteivorsitzende ihm ausdrücklich für seinen Einsatz als Sozialdemokrat.

Eine Folge des Engagements von katholischen Theologen für die SPD im Wahlkampf 1972 war die »Erklärung zur parteipolitischen Tätigkeit der Priester« der Deutschen Bischofskonferenz ein Jahr später. Die Bischöfe führten darin aus, dass die große Mehrheit der Priester eine parteipolitische Tätigkeit ablehnten, weil sie ihre ganze Gemeinde im Blick behalten müssten. Interessanterweise werden aber nicht mit der kleinsten Bemerkung jene Pfarrer angesprochen, die in Bayern für die CSU in den Räten und Parlamenten saßen, oder die zu diesem Zeitpunkt bereits seit 20 Jahren übliche Praxis von Wahlhirtenbriefen zugunsten der Unionsparteien. Das war das, was Norbert Greinacher als Klerikalismus kritisierte.

Günter Grass kommentierte damals: »Proben aus Bayern und dem Münsterland: der älteste Mief ist der religiöse. Eine Verdichtung aus Weihrauch, Gipsstaub, Dummheit und Armsünderschweiß.« Aus diesem Milieu richteten sich auch die Vorwürfe gegen Willy Brandt, christliches Ideengut und christliche Symbolik in einer säkularisierten Verdünnung zu verwenden. Zu sehen sei das an seinem Kniefall in Warschau 1971 oder an Wortwendungen in seiner Regierungserklärung 1972: »Not des Nächsten«, »Bereitschaft zum Mitleiden«, »nicht vom Brot allein lebt der Mensch«, »tätige Barmherzigkeit«!

Rückschritte

Es muss noch einmal auf die Bundestagswahl von 1980 eingegangen werden, weil dieser bisherige Tiefpunkt der bischöflichen Einmischung in eine Wahlentscheidung als Nachwirkung des überzeugenden Wahlergebnisses von 1972 gewertet werden kann. Die traditionell CDU-orientierten Führungsetagen des Katholizismus schlossen in den 70er Jahren ihre Reihen und gingen zu einem Frontalangriff auf die Reformpolitik der Sozialdemokraten über. In den katholischen Akademien und Bistumszeitungen wurde die Grundwertedebatte geführt. Im Kern stellte sich die Frage, ob der Staat verpflichtet sei, sich nach den Wertvorstellungen eines christlichen Sittengesetzes zu richten.

Die sozialdemokratische Position dazu lautete: Der Staat kann nur jene Wertvorstellungen zur Geltung bringen, die sich im gesellschaftlichen Konsens gebildet haben. Die Kirchen sind wichtige wertprägende Instanzen, ihnen obliegt die Pflege des Grundwertekonsenses im Besonderen. Somit wies der in katholischen Kreisen beklagte Verfall der Grundwerte auf die abnehmende Prägekraft der Kirchen hin. Das wollte man dort jedoch nicht wahrhaben, sondern unterstellte den Sozialdemokraten eine staatliche Förderung des Werteverfalls im Staate, so etwa in dem Wahlhirtenbrief von 1976 nachzulesen.

Vier Jahre später gelangte der Hirtenbrief der deutschen Bischöfe zur Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980 vorzeitig in die Öffentlichkeit und wurde dort äußerst kontrovers als Unterstützung für den Kanzlerkandidaten Franz-Josef Strauß diskutiert. Bundesweit gab es Pfarrer, die in ihren Kirchen die kritische Stellungnahme führender Theologen zu diesem Wahlhirtenbrief auslegten. Besonders getroffen hat die Bischöfe aber wohl die Zurechtweisung von Ernst-Wolfgang Böckenförde und anderen, die jedoch erst nach der von Strauß verlorenen Wahl an die Öffentlichkeit gelangte.

Nicht unerwähnt bleiben soll aus der SPD die profunde Stimme des damaligen Bundesjustizministers und bekennenden Katholiken Hans-Jochen Vogel. Es gibt Grenzen zwischen Kirche und Staat, die beide Seiten beachten sollten, betonte er, um dann fortzufahren: »Die Sozialdemokraten achten diese Grenzen. Sie schweigen als Partei zum Fall Küng ebenso wie zu den innerkirchlichen Auseinandersetzungen über die Empfängnisverhütung, über den Zölibat oder über die Seelsorge für Geschiedene. Der Wahlhirtenbrief läßt diese Grenzen außer acht.«

Und dann zählte er die Themen auf, die die Sozialdemokraten in ihrer Regierungsverantwortung beschäftigen und zu denen man gern die Meinung der Bischöfe gehört hätte: Entspannungspolitik, Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung, Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Ausländerfeindlichkeit oder die Gewissensprüfung bei der Kriegsdienstverweigerung. In dieser Stellungnahme von Hans-Jochen Vogel wurde deutlich, was auch bei Willy Brandt und Helmut Schmidt sowie in der gesamten sozialdemokratischen Programmarbeit Tenor war: Politik und Kirche sind öffentliche Partner zum Wohl der Menschen. Aber sie sind selbstständig und nicht Befehlsempfänger der jeweils anderen Seite.

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