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Ulrike Guérot streitet für die Demokratisierung der EU Auf dem Weg zur europäischen Nation

Demokratie und Sozialstaatlichkeit in der EU? Für die engagierte Politologin Ulrike Guérot kommt beides einem politischen Brachfeld gleich. Aus perspektivischem Regierungshandeln sei pure Governance geworden, aus strukturierten Sozialinstitutionen habe sich eine amorphe Zivilgesellschaft entwickelt, und die Öffentlichkeit in der EU sei zu Filterblasen heruntergekommen: »There is no such thing as society«, hatte schon Margaret Thatcher verfügt. Damit aber sei das Politische aus der Gemeinschaft schlechthin verbannt worden, heute habe man es nur noch mit finanzpolitischem und ökonomischem Wettbewerbsverhalten zu tun, mit wechselseitigen Vorteilsnahmen und dem Streit um Organisations- und Versorgungsprobleme.

Doch scheitere das kontinentale Projekt keineswegs an seinen Bürgern, stellt die Autorin fest, auch nicht an der populistischen und nationalistischen Bedrohung, sondern daran, dass man die große europäische Tradition der Republik und des Gemeinwohls preisgegeben habe. Es sei nicht gelungen, »das europäische Einigungsprojekt an dieses Erbe zu binden«. Ihre Schlussfolgerung lautet: »Nicht der Liberalismus und schon gar nicht die Nation ist die Grundlage europäischen Denkens. Sondern die Republik mit allem, wofür sie steht: mündige Bürgerinnen und Bürger, Selbstbestimmung, soziale Teilhabe, Unveräußerlichkeit, Souveränität, Gemeinwohl und Herrschaft des Rechts.«

Doch eben davon, von innerer Demokratisierung und verfassungsmäßig gesicherter Rechts- und Sozialstaatlichkeit, könne im derzeitigen Europa nicht die Rede sein. Die EU-Administratoren dächten ihr Projekt immer nur vom Binnenmarkt und von innerer Freizügigkeit her. So würden die Europäer vor allem als agile Unternehmer, Konsumenten und Arbeitskräfte wahrgenommen, nicht aber als Bürger, »ausgestattet mit jenem ›Heiligtum‹, der Triade von sozialen, bürgerlichen und politischen Rechten: Die Bundesrepublik Deutschland – wie alle europäischen Staaten – ist hingegen ein Rechts- und ein Sozialstaat. (…) Die Entkoppelung von Rechts- und Sozialstaatlichkeit aber ist das strukturelle Problem der EU und das politische Problem Europas«.

Für Ulrike Guérot ist es nicht weiter verwunderlich, dass man es auf dem gesamten Kontinent mit Gelbwesten, Pegida und AfD, mit Lega und Brexit zu tun habe. Sie zögert nicht, dergleichen Entwicklungen auf das Wegbrechen eines gerechten sozialen Gefüges in Europa zurückzuführen: »Wo die soziale Gemeinschaft nicht mehr verfügbar ist, wird die nationale gerne genommen.« Wobei die nationale politische Erzählung allerdings von konservativen Eliten, also »von oben« konstruiert werde, um den Minderprivilegierten einen Ersatz für die Solidarnation zu bieten. Droht das demokratische Europa also am Infarkt seiner inneren Demokratisierung und Sozialstaatlichkeit zu scheitern?

Europa als Republik

Um das europäische Dilemma ins rechte Licht zu rücken, präsentiert Guérot einen brillanten historischen Exkurs über den Begriff der Nation bzw. über den Zusammenhang von Nationalem und Sozialem. Sie zitiert den französischen Soziologen Marcel Mauss mit dem Satz: »Nation ist, wo das soziale Gefüge funktioniert. Mit Identität hat das erst einmal wenig zu tun.« Anomal sei die heutige Hysterie um das Nationale schon deshalb, weil es eine vorpolitische völkische Eigenart, so etwas wie Sprach- und Kulturidentität niemals gegeben habe und auch nicht geben könne. Europa war bis ins 16. Jahrhundert hinein ein durch Feudalherrschaft strukturierter, vornehmlich christlich geprägter Kulturraum, der erst im Zuge komplexer Staatsgründungs-, Rechts- und Verwaltungsprozesse zum öffentlichen Selbstverständnis einer »Nation« habe gelangen können. Erst eine sozioökomisch strukturierte, rechtsverfasste Zivilgemeinschaft könne sich zur »imagined nation« herausbilden: »Nationalität wird nicht qua vorgängiger Identität oder gar Ethnie vorgegeben, sondern entsteht durch die Erfahrung, ein gemeinsamer sozialer Körper zu sein. (…) Da wo die Rechte unteilbar geworden sind, entsteht Nationalität.«

Befindet sich das heutige Europa nicht in einer historisch vergleichbaren Selbstbegründungssituation, fragt Ulrike Guérot. Wenn erst eine verfassungsmäßige Institutionalisierung der Solidargemeinschaft aus sich heraus die Nation schaffen kann, dann bildet die EU noch immer keine Nation auf der Basis gleicher sozialer und bürgerlicher Rechte. Dennoch könne und müsse sie eine solche werden, mahnt Ulrike Guérot immer wieder an. Erst wenn die Ungleichheitsdynamiken in und zwischen den einzelnen EU-Ländern, die heute rückhaltlos ins Nationalistische durchschlagen, aufgefangen würden, wenn demokratische Beteiligungsrechte in den europäischen Institutionen der politischen Willensbildung verwirklicht wären, könnte Europa wieder Anschluss gewinnen an die große Tradition des Republikanismus.

Dabei gibt es für die Autorin längst eine vielfach vernetzte und kooperierende europäische Gesellschaft mit eigener Erinnerungskultur, ihr fehle nur noch das schützende demokratische Dach. Bei aller verbreiteten Skepsis sei eine deutliche Mehrheit der Menschen auf dem Kontinent (86 %) »irgendwie für Europa«, nur erwarte sie von der Gemeinschaft, dass sie »dringend einen souveränen europäischen Staat hervortreiben sollte«. Der könne dann verwirklichen, woran es den Menschen am meisten fehlt – eine europäische Sozialversicherung, die Harmonisierung der verschiedenen Arbeitslosen-, Gesundheits- und Rentensysteme, eine gemeinsame Verfassung, transnationale Parteien, Parteienstatute und Wahlkreiszuschnitte, ein Parlament mit Legislativrecht, ein gemeinsames Stiftungsrecht u. ä. Dergleichen staatlich gesicherte Rechte und Ansprüche würden die Nation Europa endgültig begründen.

Oder ist das alles nur illusorisch? Können die Europäer angesichts der globalen Moderne in den nächsten Jahren nur noch dem Verfall ihres hoffnungsvollen Projekts zusehen? Droht nicht der »Überwachungskapitalismus« aus den Bürgern willenlose Konsumenten zu machen? Das Projekt Europa steht potenziell vor seiner historischen Verwirklichung, doch es fehlt am gemeinsamen politischen Willen der Eliten, ihm im Sinne einer verjüngten »europäischen Paulskirche« noch einmal den Geist des Republikanismus einzuhauchen. Die Autorin wünscht sich die Einberufung eines europäischen Konvents durch den Europarat, um die politische Union neu zu begründen, was der Rechtslage gemäß durchaus denkbar erscheint. Was aber kann und will jemand wie Ursula von der Leyen für die »europäische Nation in der Latenz« überhaupt tun? Vielleicht sollte sie sich von der so klarsichtigen wie zweifelgeplagten Ulrike Guérot beraten lassen.

Ulrike Guérot: Was ist die Nation? Steidl, Göttingen 2019, 224 S., 16 €.

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