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Bernd Roeck erkundet die europäische Renaissance Auf den Schultern von Riesen

Bernd Roecks Buch ist das Zeugnis eines grundgelehrten und intellektuell beschwingten Post-Eurozentrismus in der jüngeren Historiografie. Gänzlich vorüber scheinen die Zeiten der Nationalgeschichtsschreibung, etwa die Entgegensetzung von Mittelalter und Renaissance, wie sie von Jacob Burckhardt vertreten wurde. Dieses neue Riesenwerk von rund 1.300 Seiten über die europäische Renaissance ist auf weiträumige und mutige Grenzüberschreitungen angelegt. Roeck zeigt in aller Detailfülle und mit bewundernswerter Sachkenntnis, dass ohne Austausch mit und ohne das Lernen von anderen Kulturen die europäische Renaissance, dieser einzigartige und doch tief in der Weltgeschichte verankerte Aufbruch, niemals zustande gekommen wäre und sich so wirkungsvoll hatte entfalten können.

Natürlich ist auch die Frage unvermeidlich, warum die Gelehrsamkeit im zuvor so einflussreichen arabischen Raum stagnierte, während es in Europa ab 1200 zu einer veritablen Explosion von Wissenschaft und Kunst kam. Finsteres Mittelalter versus sonnenbestrahlte Renaissance – einen solchen Epochenbruch kann Roeck nicht gelten lassen. Freilich geht es dem Autor vor allem um die noch erkennbaren Leuchtspuren des europäischen Aufklärungsgeistes, um die Genealogie seiner großen Denker und Dichter, der Erfinder und Tüftler, der Entrepreneure und Mäzene. Die dunkle Seite der Geschichte, die Historie von Gewalt und Unterdrückung, von Verfolgungs- und Verketzerungswahn und die zuweilen blutigen Triumphe des »Anderen« über die Vernunft, treten in den Hintergrund, ohne dass der Autor die Gräuel jener »Schädelstätte der Menschheit« verkennt. Er fragt sich zurück zu den »Zentralfeuern« der »Denker für Jahrtausende«, um sein Forschungsproblem mit Blick auf die schmale, digital flackernde Zeitschicht des 21. Jahrhunderts ausmessen zu können.

Schon im Mittelalter hat Europa unter dem Eindruck von weit ausstrahlenden kulturellen, geistigen und technischen Innovationen gestanden. Dennoch sollte es Jahrhunderte dauern, bis die Hauptelemente der Moderne und ihrer Informationsgesellschaft beisammen waren: die Schrift, das Alphabet, das Lateinische als Bildungssprache, das Mysterium der Zahlenwelt, Papier und Buchdruck. Auf den Schultern von Riesen haben die späteren Europäer immer schon gestanden. Dass dieser Erdteil zu einem dynamischen zivilisatorischen »Möglichkeitsraum« befeuert werden konnte, dazu haben welthistorische Funkenflüge entscheidend beigetragen. Roeck umreißt die Entwicklung mit den Worten: »(D)er Grieche, der seinerseits reiche Hinterlassenschaften des Orients bewahrte und Europa einen noch für dessen moderne Wissenschaft unverzichtbaren Denkstil näherbrachte. Es folgte der Römer mit seinem Recht, seiner Ingenieurskunst, seinem rationalen Zugriff auf die Welt und seiner Staatsklugheit. Daneben standen der Byzantiner mit seiner Theologie, seinen Ikonen und seinen Regalen voll alter Manuskripte; schließlich der Araber mit seiner Philosophie, seiner titanischen Übersetzungsleistung, seinem medizinischen, mathematischen und astronomischen Wissen. Selbst der Inder mit seinem Zahlenwerk und der Chinese mit der Jahrtausenderfindung Papier traten hinzu, nicht zu vergessen die großen Meister des Mittelalters mit ihren Überlieferungsdiensten, ihrer messerscharfen Logik, ihren ersten Schritten hin zu neuer Naturwissenschaft und der Erfindung einer mechanisierten Welt, die sie wagten«.

In filigranen Einzelstudien und mit immer wieder erstaunlichem Bildungsgepäck spürt Roeck den vielfach verzweigten Quellen nach, die im »Taufbecken unserer Moderne« zu jener »theoretischen Neugier« des sich verjüngenden europäischen Geistes zusammengeflossen sind. Das Ergebnis dieser Prozesse erscheint als eine unvergleichliche »Diskursrevolution«, deren Akteure sich seit dem europäischen Hochmittelalter mit Verve über die Vermächtnisse der »uralten Riesen« des orientalisch-griechisch-römischen Geistes hermachten, um aus deren Dialogangeboten jene selbstbewusste und selbstkritische Reflexionsdynamik zu gewinnen, die das moderne Europa auszeichnen sollte: »Fest steht, dass sich der Möglichkeitsraum Europa während der Renaissance zum Wahrscheinlichkeitsraum, der Neuerungen eine Überfülle an Chancen bot, wandelte. Selbst demokratische Ideen fanden Einlass.« Auf höchst komplizierte Weise konnte das Erbe des Humanismus für die Zukunft Europas und der Welt fruchtbar gemacht werden. Bis weit in die Neuzeit hinein sollte die Antike eine bewunderte Herausforderung und Innovationsquelle für die intellektuellen und wissenschaftlichen, die künstlerischen und sogar technologischen Potenzen Europas bleiben. Diese Kontinuitäten reichen, so betont Roeck, vom orientalisch inspirierten Erbe der Griechen, Römer und Byzantiner, über die »Wissenschaftslust, die Antikenbegeisterung und Weltlichkeit des 12. Jahrhunderts bis ins aufgeklärte, klassizistische 18. Jahrhundert, in dem auch das von Hobbes 1651 beerdigte Renaissance-Konzept bürgerlicher Freiheit Auferstehung feierte. Der pädagogische Eros des Humanismus überlebte, ja wurde mit dem im 19. Jahrhundert mächtiger denn je.«

Papier, Brille, Schraube

Warum ist dieser einzigartige Zivilisationsschub gerade in »Lateineuropa« möglich geworden? Für Roeck hat dieser Aufbruch insbesondere mit der politischen Fragmentierung des Kontinents zu tun. Er sei die Leistung einer besonderen Form von Staatlichkeit, mit differenzierten Institutionen, etwa einer spezialisierten, gebildeten Bürokratie, und mit kodifizierten Rechtsordnungen. In Europa entstanden schon im Mittelalter zahllose gouvernementale Gebilde, aber auch einflussreiche »Horizontalen der Macht«, bürgerliche Mittelschichten mitsamt vielfältigen, geldregulierten Marktökonomien. Dergleichen funktional differenzierte Gesellschaften, stets abhängig von hoher sozialer Innovationskraft und Mobilität, mussten konsequenterweise auch in die kulturelle Konkurrenz miteinander geraten. Hinzu kamen die Bevölkerungsvermehrung des Kontinents infolge der verbesserten Ernährungslage, die Verdichtung von Geldwirtschaft und Verstädterung sowie die zivilisatorischen Verdienste von Klöstern und Schreibstuben. Nicht zuletzt war dies alles verbunden mit dem Siegeszug des Papiers, der seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts über Spanien und Italien erfolgte. Papier sollte entscheidend werden für die Diskurs- und Medienrevolution der Renaissance, ohne Papier und Buchdruck hätte es sie nicht gegeben.

Kaum weniger bedeutsam war aber die Herstellung von Brillen. Mit Brillen konnten mehr Leute besser und länger lesen, was eine wichtige Voraussetzung dafür war, dass der Buchmarkt sich vergrößerte und durch den Erfolg von Johannes Gutenbergs Erfindung rapide expandierte. Ohne Brille auch kein Fernrohr, ohne Fernrohr keine oder nur eine stark verzögerte kopernikanische Wende. Ähnliches gilt für die Schraube. Ihr genauer Ursprung, schreibt Roeck, liege im Dunkeln. Die Chinesen hätten die Schraube gar nicht gekannt, die Araber und Inder hätten Kenntnis von ihr gehabt, ohne dass sich dieses Wissen bei ihnen verbreitete. Ohne Schrauben jedoch hätten komplizierte technische Geräte wie Lokomotiven niemals gebaut werden können. Auch die Kenntnis der Schraube und ihrer Weiterentwicklungen habe sich erst über den explodierenden Buchdruck verbreitet.

Bleibt die wichtige Frage nach der historischen Einordnung der europäischen Renaissance. In einer allseits »fließenden Welt« kann und will Roeck keine streng und statisch festgelegten Epochenlinien gelten lassen, und vermutlich werden seine Leser ihm gern darin folgen. Er fasst sie in eine bewusst unscharfe Klammer, die von der länderübergreifenden »Diskursrevolution« des Hochmittelalters mit seiner Geburt des innerweltlichen, selbstverantwortlichen Individuums, bis zur Epochenscheide des 17. Jahrhunderts reicht. Und doch fragt sich der Autor dieses monumentalen Buches, ob die in die Aufklärung übergehende Renaissance nicht zugleich ein neues Morgenrot der Modernisierung herbeigeführt hat – den Durchbruch der heutigen globalen Kommunikationsrevolution. Mit Bernd Roeck darf man hoffen, dass sich die »arroganteste aller Zivilisationen« auch weiterhin der »radikalen Selbstkritik« hingibt. Die Erbschaft des zweifelnden, selbstreflexiven Denkens, des klugen Erfahrungsgewinns und der guten Lebensordnung ist schließlich noch nicht außer Kraft gesetzt.

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, C.H.Beck, München 2018, 4. Aufl., 1.304 S., 44 €.

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