Der Ortsname Bad Godesberg ist nicht nur für die deutsche Sozialdemokratie, sondern nahezu überall auf der Welt, wo Menschen sich für soziale Demokratie engagieren, zu einem herausragenden Symbol geworden. Er steht für einen Paradigmenwechsel, für ein neues, modernes Verständnis des »demokratischen Sozialismus«, das mittlerweile mit kleinen Variationen zur Grundlage des politischen Denkens der internationalen Sozialdemokratie geworden ist. Geändert hat sich für die deutschen Sozialdemokraten eigentlich nur der Leitbegriff des Programms, zudem gab es Ergänzungen und Erweiterungen infolge des Wandels in der Welt seither. Der »demokratische Sozialismus« wurde wegen der gewachsenen Verwechslungs- und Diffamierungsrisiken durch die präzisere »Soziale Demokratie« ersetzt, ohne am politischen Projekt, für das beide aus der Tradition der demokratischen Arbeiterbewegung stammenden Begriffe stehen, irgendwelche Abstriche vorzunehmen. Zwar galt es in den nachfolgenden Jahrzehnten mehrfach, das Bild von der Gesellschaft und der Welt in der wir leben zu aktualisieren – aber das Godesberger Paradigma selbst hat seine Kraft behalten.
Nachdem sich die Erben der SED, für die der »demokratische Sozialismus« eine Todsünde gewesen war, so lange sie in der DDR an der Macht war, nach der Wende plötzlich zu dessen Speerspitze erklärt hatten, bedurfte es der öffentlich wirksamen Abgrenzung durch die Aufwertung des Begriffs der »Sozialen Demokratie« zum öffentlichen Leitbegriff, der seit Karl Marx und Hermann Heller für die politische Substanz, um die es ging und geht, immer schon ebenbürtig im Gebrauch war. Willy Brandt ist nie müde geworden, den Kern des politischen Wollens der Sozialdemokratie, für den der Name Godesberg steht, klar zu definieren. Es geht darum, den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität für alle Menschen und Lebensbereiche reale, lebenswirkliche Geltung zu verschaffen, indem die Demokratie im Staat vollendet und schrittweise auf Wirtschaft und Gesellschaft ausgeweitet wird. Das schließt ein Bildungssystem der gleichen Chancen und einen flächendeckenden Sozialstaat für alle sozialen Risiken ein, der die gesicherte Teilhabe aller am gesellschaftlichen Leben garantiert.
Um dieses bleibende Ziel unter veränderten Umständen zu erreichen, zogen die Autoren des Programms aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts fünf historische Schlussfolgerungen, die das Neue zur Geltung bringen sollten, ohne dass die lebendige Verbindung zum Kern der sozialistischen Tradition geschwächt wird. Was wenige wissen: Das Ergebnis der fast fünfjährigen Arbeit (1954–59) der politisch und wissenschaftlich hochkarätig besetzten Kommission unter der Leitung des ethischen Sozialisten Willy Eichler bestand nicht in dem sehr knappen, feierlichen Poem, das in der Stadthalle Bad Godesberg am 15. November 1959 verabschiedet wurde und heute in vielen Sprachen weltweit im Umlauf ist. Das eigentliche Produkt ihrer gründlichen Analyse der seinerzeitigen Welt und der Suche nach politischen Strategien zu ihrer zielgerechten Veränderung war vielmehr ein langer, inhaltsreicher Text mit einer ausführlichen Gesellschaftsanalyse und genaueren Begründungen für die gewählten politischen Strategien, der »Stuttgarter Entwurf« von 1958. In dessen Zentrum stehen neben den Gefahren einer voranschreitenden Bürokratisierung vor allem die Quellen und Formen wirtschaftlicher Macht und Wege ihrer Kontrolle in all ihren Erscheinungsformen, seien diese nun privater oder staatlicher Natur.
Erst die einhellige Auffassung der Godesberger Delegierten, dass die Partei mit einem so anspruchsvollen Text in der Öffentlichkeit wenig Gehör fände, führte zu der Idee, die dann verabschiedete Kurzfassung von einem Journalisten, Fritz Sänger, erstellen zu lassen. Das schuf jedoch ein folgenreiches Dilemma zwischen Gehalt und Lesbarkeit, das die radikalisierten Jungsozialsten Ende der 60er Jahre zu dem Urteil veranlasste, die SPD habe mit Godesberg ihre orthodoxen marxistischen Auffassungen nicht reflektierend überwunden, sondern zugunsten einer theorielosen Flucht in inhaltsleere »Grundwerte« eigentlich nur entsorgt. Auch aus diesem Grund sind die nachfolgenden Grundsatzprogramme dann alle recht lang geworden.
Sechs Säulen tragen das Godesberger Paradigma:
Erstens, die eindrucksvolle Erfahrung aus den Begegnungen in Exil, Widerstand und Konzentrationslagern, dass sozialistisches Engagement sehr unterschiedliche geistige Wurzeln haben kann: vor allem, wie das Programm resümiert, »christliche Ethik, Humanismus und klassische Philosophie«. Angesichts dessen und der Erfahrung mit den Folgen der Zersplitterung der Kräfte am Ende der Weimarer Republik formulierten die Verfasser von Godesberg einen neuen moralisch-politischen Imperativ. Alle Gleichgesinnten im Spektrum der Sozialdemokratie sollten ungeachtet ihrer weltanschaulichen Differenzen zur politischen Zusammenarbeit bereit sein, sofern sie in den Grundwerten und dem Projekt des demokratischen Sozialismus übereinstimmen. Das kann der Durchsetzung ihrer gemeinsamen Ziele nur dienen.
Zweitens, auf diese neue Maxime gestützt, trat schon während der Entstehung des Programms eine Kultur des Dialogs mit den Kirchen an die Stelle der jahrzehntelangen Konfrontation. Sie führte zu einer wechselseitigen Anerkennung, sodass treuen Kirchenmitgliedern beider Konfessionen der Weg in die SPD und ihre Stimmabgabe für die Partei erleichtert wurden. Nach Godesberg entschieden sich vor allem viele der gläubigen Katholiken unter den Arbeitern erstmals für eine Stimmabgabe zugunsten der SPD. Symbolisches Zeichen dieser Entspannung war die Einbeziehung des Jesuitenpaters Oswald von Nell-Breuning in die Beratung des Programms.
Drittens, auch diese kulturelle Öffnung trug dazu bei, dass die SPD mit Godesberg offen den Anspruch erhob, Volkspartei zu sein, was sie bloß faktisch und nicht selbstbewusst schon lange gewesen war. Das Ziel ist freilich keine profillose »Allerweltspartei«, vielmehr gelten die sozialdemokratischen Grundwerte und das Projekt der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Demokratisierung als der gemeinsame Nenner des politischen Bündnisses zwischen dem »aufgeklärten Bürgertum und der Arbeiterklasse« (Willy Brandt). Entscheidend dabei ist, dass im sozialdemokratischen Verständnis die Grundwerte eine eindeutig »linke« Bedeutung haben, denn Freiheit umfasst hier außer der rechtsstaatlich-liberalen auch die materielle Dimension der sozialen Grundrechte, und Gerechtigkeit bedeutet die Gleichheit der so verstandenen Freiheit.
Viertens, für die politische Identitätsbildung innerhalb des linken Spektrums war die auf Karl Kautsky zurückgehende klare Unterscheidung zwischen den »unbedingt« geltenden eigentlichen Grundwerten und Zielen des demokratischen Sozialismus und den jeweils kontextbezogenen, aber erfahrungsoffenen Mitteln ihrer Verwirklichung von zentraler Bedeutung. Daher kann die »Sozialisierung der Produktionsmittel« im Sinne ihrer Enteignung kein Selbstzweck sein, schon gar nicht das Wesen des Sozialismus definieren. Der eigentliche Zweck ergibt sich aus den Grundwerten der Freiheit und Gerechtigkeit, es ist die demokratische Begrenzung wirtschaftlicher Macht. Falsche »Sozialisierung« (Verstaatlichung) kann wirtschaftliche Macht zementieren (wie in der Sowjetunion), andere Mittel wie paritätische Mitbestimmung, Tarifautonomie und staatliche Regulierung können ihre Kontrolle hingegen wirksam und flexibel machen. Als letztes Mittel bleiben aber geeignete Formen der »Vergesellschaftung« für gefährdete Teilbereiche der Wirtschaft immer eine Option.
Fünftens, die Schlussfolgerung aus alldem war die Selbstbeschreibung der SPD als eine Reformpartei, deren politische Strategie darin besteht, den Grundwerten in kleinen oder großen Schritten im Rahmen der rechtsstaatlichen Demokratie zunehmend Geltung zu verschaffen. Das schließt die Bereitschaft ein, bei den Entscheidungen über die Wege der Verwirklichung immer »auf der Höhe der Zeit« (Willy Brandt) zu bleiben, neue Herausforderungen anzunehmen und eigene Irrwege zu korrigieren. »Demokratischer Sozialismus« im Sinne des Godesberger Paradigma ist daher ein Prozess als »dauernde Aufgabe«.
Sechstens, auf die beginnende atomare Aufrüstung in dieser Zeit antwortete das Programm mit der Forderung der »Einbeziehung ganz Deutschlands in eine europäische Zone der Entspannung und der Rüstungsbegrenzung«. Es übernahm damit eine europäische Pionierrolle.
Mit dem Godesberger Programm gelangen der Partei alsbald bedeutende Wahlerfolge und mit Willy Brandt als Bundeskanzler nach einem Jahrzehnt die Übernahme der Regierungsmacht in der Bundesrepublik. In dieser Zeit unternahm die Sozialdemokratie historische Schritte auf dem Weg zu ihren wichtigsten Zielen: der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, der sozialen Gerechtigkeit und der Entspannung in Europa. Die Ideen von Godesberg bildeten die Grundlage für die zeitbedingten weitgehenden Neuerungen der beiden nachfolgenden Grundsatzprogramme: der Synthese des ökologischen Denkens mit wirtschaftlichen und sozialen Imperativen im Berliner Programm von 1989 und der Hinwendung zur Annahme der Herausforderungen durch die Globalisierung im Hamburger Programm von 2007.
Kein Zweifel, in dem Maße, wie die Sozialdemokratie den Geist und die reichhaltigen konkreten Handlungsempfehlungen dieser Programme beherzigt, kann sie auch heute noch auf der Höhe der Zeit bleiben oder den Anschluss an sie zurückgewinnen.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!