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Auf der Suche nach den verlorenen Reformen

Das Existenzielle der Lage ist bekannt: Die SPD hat seit den 80er Jahren mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Sie fiel bei der Europawahl 2019 auf 15,8 %, bei den Erstwählern gar auf 7 %. Ihr Wiederaufstieg, wenigstens zu einer kleinen Volkspartei, ist nicht mehr sicher. Nur noch 7 % der Befragten meinen, die SPD habe die besten Antworten auf die Fragen der Zukunft, nur noch 6 % glauben, dass es mit der SPD wieder aufwärts gehe. Der Blick in den Abgrund, in dem Sozialdemokratien einiger europäischer Länder so gut wie verschwunden sind, bleibt. Nach dem Sturz von Andrea Nahles kann es weniger denn je so weitergehen wie bisher – wenigstens das ist erkannt.

Erklärende Analysen folgen meist zwei Grundmustern. Entweder es sei der historische Wandel, der zum Niedergang der Volksparteien, besonders der SPD, führe – also die gesellschaftlichen Umbrüche des postindustriellen Zeitalters und der Postmoderne, die Auflösung sozialer Milieus, die Individualisierung, die neuen Konfliktlinien (Ökologie/Ökonomie, Ost/West, nationalstaatsorientierter Kommunitarismus/weltoffener Kosmopolitismus), sowie der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Wähler seien volantiler geworden und digitale Emotions- und Echokammern, aktuell zur Klimakatastrophe oder zu den »Ängsten« vor Geflüchteten, drängen die deliberative Demokratie, den rationalen Diskurs und die Kompromissfähigkeit zurück.

Oder es liege selbstverschuldet an falschen Inhalten: Zu wenig seien die »kleinen Leute«, die Zukurzgekommenen, die prekär Lebenden vor Globalisierung und europäischer Marktdominanz geschützt worden, neoliberale Irrwege und diffuse »Mittigkeit« der Großen Koalition habe verunklart, wofür die SPD stehe. Einerseits habe eine kulturlinke Identitätspolitik akademischer Mittelschichten die eigentlich linken ökonomischen Verteilungs- und Zukunftsfragen verdrängt. Andererseits habe die SPD das Umweltthema nicht mehr ernst genommen, obwohl im Hamburger Grundsatzprogramm klar steht, »die heutige Lebensweise unserer industriellen Gesellschaften überfordert die ökologische Belastbarkeit der Erde. (…) Den Klimawandel zu begrenzen und aufzuhalten, ist (…) eine der zentralen Herausforderungen im 21. Jahrhundert«.

Jetzt lenkt Klaus Wettig auf der Basis seiner langjährigen Insidererfahrungen den Fokus auf etwas Drittes, auf die seit Gründung der Bundesrepublik im Grunde unveränderte Organisationsstruktur: »Die SPD muss sich zwar programmatisch neu aufstellen, dringender aber ist die Generalüberholung ihrer Organisation«. Hier besitzt das aktuelle Projekt »SPDerneuern« zahlreiche Vorgänger seit den 70er Jahren, deren Reformvorschläge aber, so die Bilanz von Klaus Wettig, durchweg scheiterten. »Es ist also Zeit für einen großen Ratschlag, der erinnert, was seit den 1970er Jahren Schritt für Schritt, Vorstand für Vorstand zwar analysiert und diskutiert, dann aber ins Parteiarchiv wanderte. Der Erkenntnisgewinn nach einer verlorenen Wahl war stets vorhanden, aber die Bereitschaft zum Handeln schwand mit Abstand zum Wahltag. Aus dieser Handlungsschwäche muss die SPD ausbrechen.«

Vielleicht wird der Band nicht allen Mühen der Ebene gerecht: Meines Erachtens wurde von den Parteireformen eines Peter Glotz ziemlich viel umgesetzt; nach meinem Dafürhalten wäre auch die Bedeutung des Modernisierungspapiers »SPD 2000« von 1993 noch mehr herauszuheben, nachfolgende Reformkommissionen schrieben vergleichsweise wenig Neues auf; auch bleibt manche Umsetzungsbemühung leider unerwähnt, z. B. waren die Bundeskulturpolitik und die Kulturstiftung des Bundes wesentliche Erfolge des Kulturforums, organisierte das Kulturforum 20 Jahre lang breite Kulturunterstützung und professionelle Kulturwahlkämpfe. Und es wurden zwar nicht – wie vom Autor gefordert – 100, doch immerhin 35 regionale Kulturforen auf den Weg gebracht.

Es ist zweifellos das Verdienst von Klaus Wettig, die Finger in die Wunde entscheidender, oft beschwiegener Organisationsprobleme gelegt zu haben: die innere Parteiführung ständigem Wechsel unterworfen, »zerrüttet«, mit unklarer Arbeitsteilung; die Wahlkämpfe, besonders 2017, höchst fehlerhaft; die Parteizentrale wenig kampagnenfähig; die Ortsvereine vernachlässigt und alleingelassen, schrumpfend und mit größerem demografischen Problem als die Rentenversicherung; zunehmende Repräsentations- und Qualifikationsmängel der Funktionsträger; Glaubwürdigkeitsdefizite und defizitäre Verkörperung (»Stil«) bei manchen Repräsentanten; unklare Rollen von Kommissionen und Ausschüssen u. v. a. m.

Natürlich hat auch Klaus Wettig nicht überall überzeugende Detaillösungen auf Lager, doch die Richtung stimmt: Direktdemokratische Elemente, wie Mitgliederbefragungen oder Urwahlen sind kein Allheilmittel und gehen schon aus finanziellen Gründen nicht inflationär; klarere Strukturhilfen für die Ortsvereine vonseiten der Bezirke, des Landes und des Willy-Brandt-Hauses sind notwendig; Reaktivierung sozialdemokratischer Wählerinitiativen; das besondere Kümmern um »weiße Flecken« in Süd- und Ostdeutschland; bessere Vermittlung (dafür weniger Neuerfindung) sozialdemokratischer Programmtradition; bessere Abstimmung des sozialdemokratischen Handelns mit den eigenen Ansprüchen etc.

Überraschend, wie Klaus Wettig den 1975 (!) unter Peter von Oertzen erarbeiteten »Orientierungsrahmen '85« aus der historischen Mottenkiste hervorgeholt hat. Darin finden sich dazu, wie gesellschaftliche Debatten in der SPD aufgenommen werden sollen und wie die Partei ihre politischen Vorstellungen, die über die Widerspiegelung gesellschaftlicher Strömungen und Forderungen hinausreichen, in die Gesellschaft vermitteln kann, längst vergessene Analysen und Forderungen, die immer noch Bestand haben. Etwa das, was dort als die fünf Aufgaben von »Vertrauensarbeit« bezeichnet wurde: die wirklichen Probleme und Bedürfnisse der Bevölkerung zu ermitteln und ernst zu nehmen; eine längerfristige Grundorientierung der sozialen Demokratie (damals: des Demokratischen Sozialismus) anzubieten und zu verkörpern; Hindernisse, grundsätzliche Gegner und entgegengesetzte (vor allem wirtschaftliche) Interessen sozialdemokratischer Reformpolitik aufzuzeigen; die Fähigkeit der Bürger zur selbstverantwortlichen Lösung gesellschaftlicher Probleme zu verbessern, also die Förderung und Mobilisierung der Zivilgesellschaft – die Jusos nannten das sich ergänzende Engagement in Institutionen und Bewegungen damals »Doppelstrategie«; schließlich politische Entscheidungen sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung vor den Bürgern stets überzeugend und wertorientiert zu begründen.

Der von Klaus Wettig angemahnte mehrjährige Prozess des Neuaufbaus auf allen Ebenen der Partei ist ein guter Ratschlag. Er gewinnt jetzt durch die Demokratisierung der Suche einer neuen Parteispitze an Fahrt. Doch stellen sich dieser darüber hinaus zwei weitere existenzielle Zukunftsfragen: Inwieweit hat die geschrumpfte Partei eigentlich noch die Kraft und das Geld alles das organisatorisch zu richten, was notwendig wäre? Können wir den Strukturen der demokratischen Mitgliederpartei einfach neues Leben einhauchen oder muss man sich nicht konzentrieren und manches ganz neu denken und anders angehen? Und inwieweit heißt heute politische Kommunikation weltweit, ob es uns passt oder nicht, digital first? Wie kann man mit abnehmenden Mitteln Strukturen von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen stärken – und gleichzeitig im Internet mit einer zunehmend fragmentierten Öffentlichkeit und Influencern mitspielen, einer Welt, in der Rechtspopulisten überall erfolgreicher agieren als linke Demokraten?

Klaus Wettig: Reformen wagen. Kommentare zum Wiederaufstieg der SPD. Schüren, Marburg 2019, 120 S., 14,90 €.

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