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© picture alliance / imageBROKER | Stephan Laude

Zwischenruf Auf der Suche nach Fortschritt

Das Dorf, in dem ich aufwuchs, zählt 1.306 Seelen. Ich kenne sie fast alle. Nicht wenige von ihnen sind Bauern und leben von der Landwirtschaft. Andere sind in der Gastronomie tätig, stehen doch zahlreiche Hotels in der Gegend. Ein bis zwei Anwältinnen müssten zudem dort auch wohnen, wenn mich nicht alles täuscht. Leute, die eine erfolgreiche App entwickelt haben oder ihr Einkommen durch smarte Investments in Kryptowährungen sichern, sind mir allerdings nicht bekannt. Und tatsächlich werden letztere Geschäftsmodelle hier einigermaßen skeptisch betrachtet, was wahrscheinlich der Grund für junge Internetbegabte ist, das Dorf eher zu verlassen.

Mit 19 zog ich zuerst nach San Francisco, Kalifornien, dann nach Berlin. Ich war auf der Suche nach Fortschritt, hatte auch ich das Gefühl aus einer stagnierenden Gegend zu kommen. Auf jene – nennen wir sie einfachheitshalber provinzielle – Mentalität bin ich dann auch weder in der einen noch in der anderen Stadt gestoßen. Vielmehr hatten meine neuen Bekanntschaften fast ausnahmslos studiert. Die meisten verdienten ihr Geld am Laptop. Und eine gute Hälfte davon konnte nicht einmal erklären, womit genau sie ihre Werktage füllten. Ihrer Meinung nach wäre es schlicht zu kompliziert gewesen, es einem Laien zu erklären. Das hörte sich zunächst fortschrittlich an. Doch einmal war unsere WG-Spülmaschine verstopft und als ich nach einem Werkzeugkasten fragte, blickte ich auf schmunzelnde Gesichter. Für 150 Euro wurde dann ein Klempner geholt, der das Problem in dreieinhalb Minuten behob. Ob das nun Fortschritt war, kann ich nicht sagen.

Inzwischen, das heißt fünf Jahre später, fällt es mir jedenfalls schwer, alles Junge, Urbane und Technologische pauschal mit Fortschritt gleichzusetzen. Zweifelsohne sind Matthias und Paul mit ihrer CO 2 -neutralen Carsharing-App darum bemüht, technologischen Fortschritt für die Herausforderungen von morgen zu basteln. Doch wenn ich sie treffe und sie mir von ihren Visionen erzählen, scheinen ihnen die Gewinnmargen doch wichtiger zu sein als die CO2 -Neutralität, eine gute Entlohnung ihrer Fahrer*Innen oder gar eine Alternative zum Pkw in Innenstädten zu finden. Dennoch sind sie ihrer Rhetorik nach davon überzeugt, im Dienste des Klimas zu handeln. Das hört sich für mich eher nach Greenwashing – eine geschickte Marketingstrategie der letzten Jahre – an. Unternehmen präsentieren ihre Produkte als 100 Prozent klimafreundlich, obwohl sie das nicht sind, um den Umsatz zu steigern.

Ich nehme aber mit: Für Technophile bedeutet Fortschritt, die Probleme einer bereits existierenden Technologie mit neuer Technologie zu lösen. Wiederkäuer verspüren beim Verdauen wohl auch einen Fortschritt. Bleibt nur die Frage, wie die Vollendung dieses Fortschritts wohl aussehen mag.

Laura und Emma sind gute Freundinnen von mir. Seit drei Jahren sind sie ein Paar. Ich kann mich noch gut an ihr Coming-out erinnern. Seitdem ist in ihrem Leben sowie in Deutschland viel passiert, sagen sie. Vor allem sei es den sozialen Netzwerken zu verdanken, dass wir als Gesellschaft plötzlich wesentlich größere Schritte nach vorne machen, als es noch vor zehn Jahren der Fall war. Vor allem in Bezug auf LGBTQIA+-Sachen seien TikTok, Instagram und Co Plattformen, auf welchen diskriminierte Minderheiten eine Stimme bekämen, um ein Bewusstsein für ihre Realitäten zu schaffen. Es sei schließlich den von Diskriminierung betroffenen Minderheiten überlassen, einen Fortschritt in der Gleichberechtigung festzustellen. Diese These erinnert mich an John Rawls Differenzprinzip: Die Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheit ist nur dann auch fortschrittlich, wenn die am schlechtesten Gestellten einen Vorteil daraus ziehen.

Außerdem erzählen mir meine Freundinnen mit leuchtenden Augen von den Glücksgefühlen, die sie auf dem Christopher Street Day 2022 durchdrungen hätten und zeigen mir Fotos ihrer schillernden Outfits. Ich schreibe auf: Fortschritt hat eine ästhetische Komponente an sich und muss vor allen Dingen Spaß machen. So fühle ich mich durchaus ein bisschen altmodisch als ich gefragt werde, ob ich meine Nägel lackiert oder das Gesicht geschminkt haben möchte, bevor wir in die Bar gehen – und ich dankend ablehne.

Immer wenn mich das dynamische, schnelle und fortschrittliche Berlin überwältigt, fahre ich zurück ins Dorf. Dort, so meine Überzeugung, gibt es ja nur wenig Fortschritt. Doch als ich mit der Fortschrittsfrage im Hinterkopf alte Freund*Innen treffe, werde ich eines Besseren belehrt.

Fortschritt braucht Zeit

Mein Jugendfreund Simon, der in der Jugendarbeit tätig ist, präsentiert mir bei einem Bier die Projekte, die er und die Dorfjugendlichen gemeinsam in letzter Zeit vorangebracht haben. Mir fällt das Foto einer Sitzung besonders auf. An der Leinwand ist eine Mindmap zu erkennen. Titel, zentriert und in Großbuchstaben: »Zukunft im Dorf«. Erfreut von meiner Neugierde, lädt er mich zur darauffolgenden Sitzung ein. Rund ein Dutzend Jugendliche, zwischen 14 und 18 Jahre alt, treffen sich einmal im Monat, um ihre Anliegen an die Gemeindepolitik zu formulieren. Sie haben glasklare Vorstellungen davon, in welche Richtung das Dorf fortschreiten soll: Zunächst soll ein Jugendbeirat gewählt werden, durch welchen die politische Partizipation gefördert werden soll. Dadurch erhoffen sie sich, finanzielle Fördermittel für ihre weiteren Pläne, etwa das Kulturangebot zu erweitern, Design- und Programmierworkshops zu organisieren sowie Pläne für ein autofreies Dorfzentrum zu entwickeln, zu ergattern. Verglichen mit meiner Jugend in demselben Dorf ist der Fortschritt in den Gestaltungsmöglichkeiten nicht zu leugnen.

Ein paar Tage später treffe ich Martin, der vor wenigen Jahren den Bauernhof seines Vaters übernahm. Der diesjährige Herbst soll der erste sein, in dem die gesamte Ernte ausschließlich aus Bioprodukten bestehen wird. »Ich habe lange und hart auf diese Saison hingearbeitet«, sagt er gerührt, als wir gemeinsam durch seinen Weinacker stapfen. Die letzten drei Saisons musste er sich mit geringen Gewinnen zufriedengeben, da er zuerst alle alten Bäume rausnahm, dann die Böden auflockerte, um schließlich neue Bäume zu pflanzen, die von da an noch mindestens zwei Jahre brauchen, um befriedigende Äpfel abzugeben. Ich merke mir: Fortschritt ist eine Frage der Geduld. Er braucht Zeit, bevor er seine Früchte trägt.

Bevor ich wieder in die Großstadt zurückkehre, bin ich mit Valentina auf einen Kaffee verabredet. Seit einigen Jahren unterrichtet sie in der Grundschule, auf die wir einst zusammen gingen. Ich stelle ihr die F-Frage. Und ich höre nun endlich auch eine kritische Betrachtung des Fortschrittsverständnisses. Ihrer Erfahrung nach hätte Digitalisierung in Schulen langfristig mehr Nachteile als Vorteile. Die Benutzung von Smartphones, Tablets und Rechnern im Unterricht behindere die Lernfähigkeit von Kindern und Jugendlichen anscheinend massiv. Sie müsse immer wieder feststellen, dass die Aufmerksamkeitsspanne zunehmend kürzer wird, sich (fein)motorische Fähigkeiten verschlechtern und nicht zuletzt die Aufnahmefähigkeit der Schüler*innen generell oberflächlicher geworden wäre.

Für Langzeitstudien zum Thema wäre es noch zu früh, weshalb ihre These bis dato nur eine These bleibt. Zusammengefasst heißt das jedoch trotzdem: Um den bestmöglichen Fortschritt zu fördern, sollte der Einsatz neuer Ressourcen immer von Vorsichtsmaßnahmen begleitet werden, um ungewollte Nebenwirkungen später zu vermeiden.

Im Bordrestaurant des ICE nach Berlin bestelle ich eine Currywurst. Doch das Kartenlesegerät funktioniert nicht. Bargeld trage ich schon seit einer Weile nicht mehr bei mir, kann ich hierzulande doch das meiste mit dem Handy bezahlen. Dass meine Bank dadurch weiß, wann ich in welchem ICE Currywurst bestelle, ist mir bewusst. Jedenfalls erkennt die Frau hinter mir meine hungrige Verzweiflung und spendiert mir mit einem 20-Euro-Schein die Currywurst. Ich denke: Rückschritt ist in Wirklichkeit doch nur des Fortschritts andere Seite.

Insgesamt scheint Fortschritt nur schwer messbar, definierbar oder gar begreifbar zu sein. Offensichtlich ist er gleichermaßen auf individueller, technischer, sozialer und politischer Ebene zu finden. Was ihn also genau ausmacht, ist umso schwieriger festzustellen.

Schlägt man den Begriff auf Wikipedia nach, wird er als »positive Veränderung eines Zustandes« definiert. Was damit gemeint ist, bleibt mir allerdings ein Rätsel: Die Bedeutung einer positiven Bilanz unterscheidet sich grundlegend von einem positiven HIV-, und dieser wiederum von einem positiven Schwangerschaftstest. Vor allem aber ist Positivität im Zusammenhang mit Fortschritt häufig eine zutiefst subjektive Bewertung. Und da Individuen bekanntlich das Resultat ihrer Sozialisierung sind beziehungsweise von ihrem soziokulturellen Umfeld beeinflusst werden, muss Fortschritt letztlich immer als wertebedingt verstanden werden. Eine letzte Frage bleibt offen: Wenn Fortschritt tatsächlich omnipräsent ist, wo ist er dann wirklich?

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