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Auf ein Leben lang – Fairness in der Rente

Der zentrale Begriff der Leistungsgerechtigkeit im deutschen Rentensystem ist die sogenannte Beitragsäquivalenz: Die spätere Rente soll für alle im gleichen und fairen Verhältnis zum früheren Einkommen stehen. Abgesehen davon, dass das am Markt erzielte Einkommen womöglich nicht all das widerspiegelt, was die Gesellschaft gerne im Ruhestand belohnen würde, ist die Beitragsäquivalenz einer weiteren großen Einschränkung unterworfen: Sie setzt die über viele Jahre angesparten Beiträge in das Verhältnis zu einer monatlichen Rente. Um die Fairness des Gesamtpakets zu betrachten, muss man aber die Ein- und Auszahlungen auf die gesamte Lebenszeit in den Blick nehmen. Dann stellt man fest, dass das Rentensystem momentan vor allem Versprechen an langlebige Gutverdienerinnen und Gutverdiener finanziert. Um dieses Problem zu lösen, sollte man im Kern des Rentensystems auf Beitragsäquivalenz verzichten und im Sinne einer suffizientaristischen Gerechtigkeitskonzeption eine einheitliche Grundrente für alle schaffen. Institutionell getrennt kann es aber einen leistungsgerechten Aufbau geben, um den Verdienstgedanken weiterhin zu würdigen.

Die Lebensdauer ist nicht gleichmäßig oder zufällig verteilt, sondern korreliert deutlich mit dem sozioökonomischen Status, was als »differenzielle Sterblichkeit« bezeichnet wird. Nach einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung von 2015 unterscheidet sich die verbleibende Lebenserwartung 40‑jähriger Männer je nach Bildungsgrad um sechs Jahre, je nach Einkommen um sieben Jahre und je nach Beschäftigungsart um rund zehn Jahre, selbst wenn man besonders kurzlebige Gruppen wie Bergleute ausschließt. Sogar der (Land-)Kreis, in dem man lebt, verändert die statistische Lebenserwartung in Deutschland bei der Geburt für Frauen um bis zu 3,9 und für Männer um bis zu 4,5 Jahre.

Dadurch, dass die Altersgrenzen der Rentenversicherung für alle gleich sind, hängt das zu erwartende Lebensrenteneinkommen nicht nur von den geleisteten Beiträgen, sondern auch von der individuellen Lebenserwartung ab. Wer bei gleichem Einkommen länger lebt, hat eine bessere Rendite auf seine oder ihre früheren Einzahlungen. Wer nicht lang genug lebt, kann nicht einmal die eigenen Rentenbeiträge »rausholen«. Anders als bei anderen Versicherungen gibt es bei der Rentenversicherung keinen persönlichen Risikoauf- oder ‑abschlag, wenn das Eintreten des Versicherungsfalls bei einem Individuum statistisch wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher ist. Somit werden Menschen mit hoher Lebenserwartung, welche meist gleichzeitig wohlhabend und gesund sind, vom System zusätzlich subventioniert, während Menschen mit geringer Lebenserwartung eine implizite Steuer auf ihre Beiträge zahlen. Wer früh stirbt, hat nicht nur ein kurzes Leben, sondern auch einen schlechten Deal in der Rente.

Aufgrund der Fokussierung auf monatliche Beitragsäquivalenz gibt es im Rentensystem eine implizite Umverteilung von kurzlebig zu langlebig und damit von krank zu gesund, von mittlerer zu höherer Bildung und von arm zu reich. Geringverdiener und -verdienerinnen in Deutschland zahlen eine implizite Steuer von rund 10 % auf ihre Rentenbeiträge: Durch ihre durchschnittlich geringere Lebensdauer erhalten sie auf ihre Lebenszeit gesehen ein Zehntel weniger Rente, als sie es bei einer über die Gesellschaft gleichmäßig verteilten Lebenserwartung tun würden. In einem wegweisenden OECD-Artikel heißt es pointiert: Das Rentenversprechen ist für einen reichen Menschen wertvoller als für einen armen. Zwar wurde dieses Problem lange Zeit durch allgemein relativ hohe Renten überdeckt. Doch das Zusammenspiel aus sinkendem Rentenniveau und höheren Renteneintrittsaltern lässt dieses fundamentale Gerechtigkeitsdefizit von Jahrgang zu Jahrgang immer stärker zutage treten.

Zwar könnte man die Sozialversicherung als Ganzes betrachten: Geringverdiener und -verdienerinnen profitieren von anderen Leistungen wie der Arbeitslosenversicherung vielleicht in erhöhtem Maße, sodass das System in der Summe fair ist. Doch selbst wenn das stimmt, löst dies nicht das Problem mangelnder Fairness in der Rentenversicherung selbst. Um dort der differenziellen Sterblichkeit zu begegnen, könnte man die Rentenleistungen an die Lebenserwartung von Gruppen oder Individuen anpassen. Mit Blick auf das Einkommen kann die Besteuerung von Rentenbeiträgen oder -auszahlungen diese Funktion erfüllen. Sie müsste aber deutlich stärker ausfallen als jetzt: Allein die differenzielle Sterblichkeit hebelt bisher alle Umverteilung innerhalb der Rente aus. Eine etwaige politisch gewollte Stärkung von Geringverdienenden kommt gar nicht erst an. Außerdem kann man das gleiche Einkommen bei unterschiedlicher Bildung, unterschiedlichem Wohnort oder unterschiedlichem Geschlecht und entsprechend unverschuldet unterschiedlicher Lebenserwartung haben. Wollte man dies konsequent fortführen, müssten beispielsweise Menschen mit Universitätsabschluss wegen ihrer höheren durchschnittlichen Lebenserwartung proportional mehr einzahlen. Ebenso müssten aber auch Frauen – wenn sie denn das gleiche Einkommen bekommen – höhere Beiträge zahlen, weil sie statistisch länger leben. Damit wird das Problem nur verlagert, weil auch innerhalb der Akademikergruppe oder der Frauen enorme Unterschiede in der Lebenserwartung vorliegen. Eine komplexe intersektionale Betrachtung jedes Individuums wäre nötig, da ein Mensch immer verschiedenen Gruppen angehört. Am Ende würde es auf eine individuelle Risikoprüfung und Lebenserwartung hinauslaufen. Doch diese lehnen wir in der staatlichen Altersvorsorge anders als in der privaten gerade deswegen ab, weil wir Menschen nicht für Dinge bestrafen wollen, für die sie nichts können. Die monatliche Rente soll nicht deswegen niedriger sein, weil jemand das »Pech« hat, in eine besonders langlebige Familie geboren zu sein oder das »falsche« Geschlecht hat. Wir wollen Menschen nicht zu Gefangenen ihrer äußeren Merkmale und Umstände machen, auch wenn es rechnerisch geboten wäre. Außerdem könnte eine Koppelung an die individuelle Lebenserwartung ungewollte Anreize setzen. Raucher müssten wegen der geringeren Lebenserwartung einen Rabatt erhalten, Menschen mit gesunder Lebensführung hingegen mehr einzahlen. Mit anderen Worten: Die Idee der Leistungsgerechtigkeit oder Beitragsäquivalenz, also Tauschgerechtigkeit im Rentensystem, ist für viele Menschen zentral, aber wenn man sie konsequent ausbuchstabiert, wird sie häufig vom Ideal der Gleichheit, also der Verteilungsgerechtigkeit, abgelöst.

Bei genauer Betrachtung liegt die Ursache vieler Probleme darin, dass das deutsche Rentensystem diese beiden teilweise gegenläufigen Gerechtigkeitsprinzipien gleichzeitig zu erfüllen versucht. So wird das im Sozialgesetzbuch festgelegte Ziel der Rentenversicherung – die wirtschaftliche Sicherung im Alter – mal als Schutz vor absoluter Armut und mal als Schutz vor relativem Statusverlust interpretiert. Im ersten Fall handelt es sich um eine Forderung der Verteilungsgerechtigkeit, genauer gesagt des Suffizientarismus, nach der unabhängig vom früheren Einkommen niemand unter ein gewisses einheitliches Niveau fallen soll. Ziel ist keine individuelle Leistungs- oder Tauschgerechtigkeit, sondern, dass alle genug haben und damit nicht an Mangel leiden. Menschen sollen also besser behandelt werden, als ihnen nach einer strengen Auslegung der Beitragsäquivalenz zustehen würde. Im zweiten Fall ist es eine Forderung der Tauschgerechtigkeit, nach der die Rentenauszahlungen möglichst genau den persönlichen Einzahlungen, welche als Indikator für die Lebensleistung gelten, entsprechen und den individuellen erworbenen Status sichern sollen. Bei Renten in geringer Höhe kollidieren die beiden Ziele: Soll die Beitragsäquivalenz beibehalten werden, was tauschgerecht wäre, aber Menschen in Armut entlässt? Oder soll die Beitragsäquivalenz ignoriert werden, was Armut verhindert, aber Tausch- oder Leistungsgerechtigkeit aushebelt?

Häufig wird versucht, die Armutsbekämpfung in die Leistungsbelohnung zu integrieren: die Sicherung eines Mindestniveaus wird an gewisse Bedingungen geknüpft. So entwickelt sich das deutsche Rentensystem zwar durch Reformen wie die »Grundrente« bereits jetzt von einer »Leistungsbelohnungsrente« hin zu einer faktischen »Armutsverhinderungsrente«. Doch die Grundrente sichert nur für diejenigen ein Mindestniveau, die sich durch entsprechende Leistung in Form einer gewissen Anzahl von Beitragsjahren dafür qualifizieren. Dadurch schlägt die differenzielle Sterblichkeit weiterhin durch: Wer die physischen und psychischen Voraussetzungen besitzt, um 35 Jahre Beiträge zu zahlen, hat meist eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung. Auch die Ausweitung des Rentensystems auf beitragsfremde Leistungen ohne unmittelbare finanzielle Würdigung, zum Beispiel Ausbildungs-, Erziehungs- oder Pflegezeiten, ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Sie reagiert auf sich wandelnde Definitionen dessen, was als Leistung anerkannt wird. Doch auch von einer Anerkennung der Ausbildungszeiten profitieren Menschen mit hoher Lebenserwartung, also gutverdienende und langlebige Akademikerinnen und Akademiker tendenziell mehr als andere. Diese Entwicklungen und Änderungen passen also den Begriff der Leistung an, wagen sich aber nicht an das grundsätzliche Problem heran: dass Leistungsbelohnung und Armutsverhinderung nicht gleichzeitig widerspruchsfrei umzusetzen sind.

Fairer und praktikabler wäre es, im Kern des Rentensystems auf Leistungsbelohnung zu verzichten und sich stattdessen auf eine konsistente suffizientaristische Gerechtigkeitskonzeption zu konzentrieren. Diese besagt, dass Verteilungsunterschiede zweitrangig oder je nach Lesart irrelevant sind, solange alle Menschen die sogenannte Suffizienzschwelle erreichen, also das Niveau, welches als »genug« definiert wird. Praktisch angewandt wird dieses Prinzip zum Beispiel im staatlichen Gesundheitssektor, in welchem alle Menschen eine ausreichend gute Behandlung bekommen sollen. Solange das gesichert ist, ist es kein moralisches Problem, wenn manche Menschen durch private Zuzahlungen auch luxuriöse, d. h. per Definition nicht notwendige Therapien erhalten. Eine suffizientaristische Kern- oder Grundrente entspricht daher einem uniformen und leistungsunabhängigen Rentenniveau für alle, welches beispielsweise an den Mindestlohn gekoppelt werden könnte. Haben auf diesem Wege alle Individuen ein ausreichend hohes Rentenniveau, ist Verteilungsgerechtigkeit hergestellt und damit die Kernaufgabe der suffizientaristisch geprägten staatlichen Rente erfüllt. Dabei ist es gleich, ob manche Menschen länger oder weniger lang genug haben. Die individuelle Lebensdauer ist folglich kein moralisches Problem mehr.

Die für unsere moralischen Intuitionen so bedeutende Tausch- oder Leistungsgerechtigkeit kann ebenfalls Bestandteil des Rentensystems bleiben, würde aber nicht mehr in dessen Zentrum stehen. Denkbar wäre zusätzlich zu einer ersten suffizientaristischen Stufe des Rentensystems eine zweite Stufe, welche beitragsäquivalente Rentenleistungen bietet und damit Tauschgerechtigkeit ermöglicht. Diese wird auch nicht auf die Kernrente angerechnet. Denn um altbekannte Vermischungen und Anreizkonflikte zu vermeiden, müssen die beiden Stufen institutionell getrennt und unabhängig sein. Die Probleme der differenziellen Sterblichkeit werden sich zwar womöglich innerhalb dieser Stufe reproduzieren. Doch für ein Rentensystem, das auf dem Suffizientarismus beruht, sind Gerechtigkeitsprobleme jenseits der durch die erste Stufe garantierten Suffizienz nachrangig. Faktisch werden die Konsequenzen differenzieller Sterblichkeit sogar gedämpft, weil die Lebenszeiteinkommen armer (kurzlebiger) Menschen gegenüber reichen (langlebigen) Menschen aufgewertet werden, da auch höhere Beitragszahlungen in der ersten Säule nur zu einem einheitlichen Niveau führen.

Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit, Leistungsbelohnung und Armutsverhinderung sind häufig gegenläufige Prinzipien. Die differenzielle Sterblichkeit macht deutlich, welche Gerechtigkeitsprobleme entstehen, wenn Leistung im Zentrum steht und mit Armutsverhinderung vermischt wird. Die beiden müssen getrennt und in der Reihenfolge getauscht werden. Nur mit einer suffizientaristischen Basis und einem leistungsgerechten Aufbau kann das Rentensystem unsere moralischen Intuitionen widerspruchsfrei und fair widerspiegeln: Alle haben genug und Leistung lohnt sich.

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