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Bücher zum deutschen Kolonialismus Auf Kosten anderer

Angeblich lange verdrängt, erfreut sich die deutsche Kolonialgeschichte heute großer publizistischer Aufmerksamkeit, landet dabei freilich oft in der Rubrik »Wahre Verbrechen«: »Wie ein Sadist zum ›Reichskommissar‹ in Deutsch-Ostafrika wurde«, titelte die Onlineausgabe des Spiegel, der 2021 auch ein Sonderheft über »die verdrängten Verbrechen in Afrika, China und im Pazifik« produzierte. Das erschrockene Staunen darüber, dass solche Dinge damals möglich waren, verrät freilich neben kärglicher historischer Kenntnis auch ein erstaunlich idyllisches Bild der Geschichte.

Selbstherrliche Psychopathen wie der Pastorensohn Carl Peters, genannt »Hänge-Peters«, in Ostafrika und skrupellose Offiziere wie Lothar von Trotha in Deutsch-Südwest, der den Massenmord an den Herero kommandierte, waren Kinder ihrer Zeit, Amok laufende Biedermänner, die ihre Führungsansprüche umso gnadenloser vertraten je fragwürdiger sie wurden. Wenn der langjährige Afrika-Korrespondent der Zeit, Bartholomäus Grill, in seinem Buch Wir Herrenmenschen den berüchtigten Peters verlauten lässt, das Ziel seiner Kolonialgesellschaft sei »die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer, schwächerer Völker Kosten«, so enthüllt dies vor allem dessen aggressiven Wahn. Er war nur denkbar vor dem Hintergrund einer Zeit, in der der Kolonialismus in den Ländern, die ihn betrieben, nur selten auf Zweifel oder Widerstand stieß.

Wer sich entschlossen und dauerhaft an den Kolonien bereichern wollte, kam um eine gewisse Rücksicht nicht herum, denn je größer diese Länder waren, desto mehr war man auf einheimische Kollaborateure angewiesen. Kolonien mussten nicht nur beherrscht, sondern auch verwaltet und entwickelt werden, und zwar mit knappem Personal. Winfried Speitkamps kompakte und gerade aktualisierte Deutsche Kolonialgeschichte liefert zu Themen wie »Kooperation und Herrschaftsbeteiligung« neben differenzierten Analysen auch detaillierte Hintergrundinformationen und bietet insgesamt einen ausgezeichneten Überblick. Auf der Insel Samoa wie in Deutsch-Südwestafrika hätten deutsche Gouverneure versucht, sich »an die Spitze vorgefundener Hierarchien« zu stellen. Was auf Samoa aber gelungen sei, sei im von der Konkurrenz zwischen Herero und Nama geprägten Südwestafrika gescheitert. Gouverneur Theodor Leutwein habe unterschätzt, »dass seine Verhandlungspartner nicht primär an der Stabilisierung der Kolonie, sondern am Ausbau ihrer eigenen Autorität interessiert sein mussten«.

Besonders fatal wirkten Bemühungen, auf vorhandene Machtstrukturen zurückzugreifen, wo es solche noch gar nicht gab. Die deutschen Kolonialherren hätten lokale Autoritäten kleinteilig-»akephaler« (herrschaftsloser) Gesellschaften als »Häuptlinge« missverstanden und ihnen Funktionen zugeschrieben, die sie, wie Speitkamp ausführt, gar nicht besaßen: »Strukturen wurden festgeschrieben, denen die traditionelle Legitimität abging. Personen wurden gestärkt, die nun der Kolonialmacht bedurften, um Amt und Einfluss zu bewahren.« Dazu zählten vor allem auch Dolmetscher und Vermittler: »Tippu Tipp, der Araber und Sklavenhändler, und Hermann von Wissmann, der Deutsche und vermeintliche Bekämpfer des Sklavenhandels, standen in engerem Kontakt, als es die deutsche Öffentlichkeit wahrhaben wollte«; so bleibe es im Zwielicht, »wer eigentlich mit wem kollaborierte«.

Legendär wurden einheimische afrikanische Kolonialsoldaten wie die »treuen und aufopferungswilligen« Askaris, von denen sich ein Veteran Bartholomäus Grill als stolzer Untertan Kaiser Wilhelms präsentierte, dank der einst genossenen attraktiven Besoldung und einschlägiger Privilegien. Nur am Rande erwähnt Grill den im Nachhinein fatalsten Fall einer Kollaboration, die enge Zusammenarbeit mit der »Aristokratie der Tutsi« als Grundlage für jenen Konflikt mit den Hutu, der 1994 »im furchtbarsten Völkermord der afrikanischen Geschichte« eskaliert sei.

Die kolonial verspätete Nation

Während dabei in Burundi die Hauptverantwortung bei den belgischen und französischen Nachfolgern der deutschen Kolonialherren lag, konzentriert sich das, was Speitkamp die Diskussion um den »genozidalen Charakter der deutschen Kolonialkriege in Afrika« nennt, meist auf den Feldzug der deutschen Schutztruppe gegen die Herero, wozu Grills Buch einige provokante Thesen liefert.

In Sachen Kolonialismus waren die Deutschen verspätete, aber dafür umso ehrgeizigere Schüler ihrer Nachbarn, die mit aller Gewalt und ungeniert binnen kurzer Zeit erobern wollten, was sich die anderen über Jahrhunderte hinweg angeeignet hatten. Wie man fremde Schiffe raubt, ganze Inseln verwüstet und entvölkert, hatten etwa die niederländischen Kompanien schon im 17. Jahrhundert vorgeführt und sich dabei von ihren protestantischen Seelsorgern bescheinigen lassen, dass dies gottgefällig sei.

Der deutsche Kolonialismus dagegen begann nach der Reichsgründung, als die militärische Asymmetrie zwischen »zivilisierten« und »unzivilisierten« Ländern ins Groteske ausgeufert war. Selbst eine mit 19 Geschützen, Segeln und Hilfsmotor eher bescheiden ausgestattete Holzkorvette wie die SMS Elisabeth hätte, wie damalige Strafaktionen gegen rebellische Eingeborene zeigten, ausgereicht, um ganze Inseln zu entvölkern. Indem sie wehrlose Menschen erschossen oder zu Tode hetzten, Dörfer, Boote und Gärten zerstörten, »bestraften« deutsche Marinesoldaten Delikte, die sich aus der gewaltsamen Umwandlung kleinteiliger und nachhaltiger Naturalwirtschaften in Plantagen ergeben hatten.

Um überleben zu dürfen, mussten diese Menschen Lektionen nachholen, die man den heimischen Völkerschaften längst eingetrichtert hatte. Grill zitiert dazu eine Broschüre, die der vaterländische Prediger und Missionar Friedrich Fabri 1879 der Frage »Bedarf Deutschland der Colonien?« widmete. Angeblich bedurfte es ihrer dringend, da die Massenauswanderung verarmter Proletarier in Siedlerkolonien lediglich »eine Art Sicherheitsventil« sei, um »die rasche, mächtige Ausbreitung der Social-Demokratie« einzudämmen.

Ausgerechnet im heutigen Namibia, das dem Bild einer deutschen Siedlerkolonie noch am nächsten kam, fügten die einheimischen Herero dem Kommandeur der deutschen Schutztruppe beinahe eine schmähliche Niederlage zu. An den auf die Schlacht am Waterberg folgenden Ereignissen scheiden sich die Geister. Grill äußert Zweifel, »dass hier der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts« begonnen habe, als von Trotha befahl, Männer, Frauen und Kinder in die Wüste Omaheke zu treiben und dort verdursten zu lassen. Er bezweifelt zum einen, dass dies der relativ kleinen, geschwächten und mit dem Gelände unvertrauten Truppe möglich gewesen wäre, während wahrscheinlich viele der dort seit Generationen ansässigen Herero die Omaheke »problemlos durchwandert« hätten. Zum anderen interpretiert er von Trothas berüchtigten Schießbefehl auch gegen »Weiber und Kinder« nicht als Ausdruck realen Vernichtungswillens, sondern als »Eingeständnis des Scheiterns einer militärischen Mission, das Trotha durch eine mörderische Drohung kaschierte«.

Schließlich hatte ein von Trotha seine Erziehung, militärische Ausbildung und Prägung nicht in Afrika, sondern in Europa erhalten. Hier gab es Kontinuitäten, die weiter zurückreichten als die deutsche Kolonialpolitik. Wenn es für Offiziere wie ihn einen Horror gab, dann den vor ungeordneten und unberechenbaren »Banden« von Zivilisten, die aus dem Hinterhalt angriffen und die offene Feldschlacht verweigerten. John Hornes und Alan Kramers Studie über »Deutsche Kriegsgreuel 1914« behandelte schon 2001 die Entstehung und das hartnäckig lange Fortwirken der »Franktireur«-Ängste in den Reihen deutscher Militärs. Sie ging auf die Konfrontation mit bewaffneten Zivilisten und Heckenschützen (francs-tireurs = französische Freicorps) im deutsch-französischen Krieg 1870/71 zurück und lässt sich über die Kolonialzeit bis in den Ersten und Zweiten Weltkrieg verfolgen. So habe der Reichstagsabgeordnete Wilhelm von Kardorff das brutale Vorgehen der deutschen Kolonialtruppen gegen die Herero mit den Erschießungen französischer Zivilisten verglichen, die mit Franktireurs kollaboriert hätten.

Wer von Europa in die Kolonien reiste, trug das Herz der Finsternis also schon mit sich. Wenn »Eingeborene« wie unmündige Kinder behandelt, gedemütigt, zur Arbeit geprügelt und bei Unbotmäßigkeit ausgepeitscht, eingesperrt, gehängt oder niederkartätscht wurden, erging es ihnen nicht anders als rebellischen Bauern, Landarbeitern, vermeintlichen Hexen, Mägden, Lehrjungen, Zöglingen, unverheirateten Müttern, Landstreichern, meuternden Rekruten oder Matrosen auf den Ländereien, in den Betrieben, Erziehungshäusern, auf den Kasernenhöfen und Schiffen des alten Europas. Nur gab es in den Kolonien weniger brave Bürger, die dabei wegschauen mussten.

Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler, München 2019, 304 S., 24 €. – Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte. Reclam, Ditzingen 2021, 212 S., 6,80 €.

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