Was Industriepolitik eigentlich ist und machen »darf«, ist umstritten. Gerade in Deutschland sehen liberale Ökonom*innen darin unzulässige Eingriffe in den Markt, eine Bevorzugung der »Verlierer« und ein Einfallstor für Lobbyismus. Zugleich diagnostiziert die internationale ökonomische Forschung einen (in der Sache durchaus erfolgreichen) Bedeutungszuwachs der Industriepolitik. Industrieverbände fordern wie jüngst der BDI eine »neue industriepolitische Agenda«. Auch der kürzlich erschienene »Draghi-Report« im Auftrag der Europäischen Kommission mahnt industriepolitisches Handeln an.
Industriepolitik – aber welche?
Um sich von der »klassischen« strukturerhaltenden Industriepolitik abzugrenzen, wurden ihr seit geraumer Zeit immer neue Adjektive vorangestellt; die Rede war von einer ökologischen, nachhaltigen, strategischen oder modernen Industriepolitik. Heute muss man wohl von einer »missionsorientierten Industriepolitik« sprechen, die sich in ein umfassendes Politikdesign einfügt, um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden.
Diese lassen sich grob umschreiben mit den Begriffen Dekarbonisierung, De-Risking, Demografie und Digitalisierung. Es geht um den klimaneutralen Umbau der Produktion, vor allem in den Sektoren Industrie, Energie, Wohnen und Mobilität. Angesichts geopolitischer und geoökonomischer Spannungen ist nicht ein vollständiges De-Coupling die Antwort, dennoch müssen Abhängigkeiten von wichtigen Elementen der Wertschöpfungsketten (wie Rohstoffe und Computerchips) reduziert und zugleich faire Handelsbeziehungen vereinbart werden.
In einer alternden Gesellschaft kann der Mangel an Fachkräften zu einem Engpass für Produktivität und Wachstum werden. Der Einsatz von digitalen Technologien ist ein wesentlicher Treiber für mehr Produktivität, zugleich werden auch Produkte und Dienstleistungen zunehmend »digitaler«. Es geht demnach nicht nur um einzelne Technologien oder Branchen, sondern um eine umfassende Transformation, also um »tiefgreifende Änderungen von Infrastrukturen, Produktionsprozessen, Regulierungssystemen und Lebensstilen sowie ein [neues] Zusammenspiel von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft«, so der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen in einem Gutachten 2011.
»Wichtig sind ein nicht bürokratisch behindernder Staat sowie das Vorhandensein wichtiger Produktionsfaktoren.«
Unterschieden wird zwischen horizontaler und vertikaler Industriepolitik. In der horizontalen Dimension geht es um ein wettbewerbsfähiges Innovationssystem, dessen Stärken und Schwächen in diversen Studien und Berichten dokumentiert sind. Wichtig sind zudem ein ermöglichender und nicht bürokratisch behindernder Staat sowie das Vorhandensein wichtiger Produktionsfaktoren, zum Beispiel eine günstige, sichere und nachhaltige Energieversorgung. Neben Infrastrukturen, Arbeit, Energie und Kapital werden Daten zu einem immer wichtigeren Produktionsfaktor, nicht zuletzt, um Anwendungen der Künstlichen Intelligenz zu befördern.
Spannungsfelder der vertikalen Dimension
Während diese horizontalen Maßnahmen (zumindest im Grundsatz) weniger umstritten sind, treten in der vertikalen (auf einzelne Branchen bezogenen) Dimension deutlicher politische Differenzen und Spannungsfelder zutage, nicht zuletzt im Prozess der Dekarbonisierung.
Erstens muss sich die Europäische Union im Wettbewerb mit den USA und China als Ganzes behaupten und trägt diesem Umstand unter anderem mit dem Green Deal oder den Important Projects of Common European Interest (IPCEI) Rechnung. Doch in der aktuellen Diskussion über Zölle für PKW gegenüber China wird deutlich, dass auch in der EU keine einheitlichen Wirtschaftsmodelle und nicht nur gemeinsame industriepolitische Interessen existieren.
»Es stellt sich die Frage, welche Finanzierungsverantwortung der Staat trägt.«
Zweitens kostet Transformation Geld. Infrastrukturen müssen modernisiert werden, die Industrie muss massiv investieren. Die bereits erwähnte Studie des BDI beziffert den privaten und öffentlichen Investitionsbedarf auf 1,4 Billionen Euro bis 2030. Vor allem hinsichtlich der Übergangs- und Transformationskosten stellt sich die Frage, welche Finanzierungsverantwortung der Staat trägt – auch im Sinne einer Vorleistung für Infrastrukturen und den Markthochlauf neuer Technologien. Zum einen werden erhebliche Anforderungen seitens der Wirtschaft an den Staat formuliert, die nicht alle gerechtfertigt sind. Zum anderen ist der Staat in seinen Möglichkeiten limitiert, solange vermeintlich wirtschaftsnahe Parteien eine auch industriepolitisch gut begründete Ausweitung der fiskalischen Spielräume blockieren.
Drittens erfordert Transformation einen klaren Blick für Prioritäten und Schrittabfolgen. So kann ein zu hohes Ambitionsniveau der Dekarbonisierung zur Konsequenz haben, dass die Umstellung der industriellen Produktion nicht stattfindet beziehungsweise Produktion verlagert wird (Carbon Leakage), auch weil die entsprechenden infrastrukturellen Voraussetzungen (etwa Wasserstoffnetze, Ladesäulen) noch nicht gegeben sind.
Viertens bedeutet Transformation, neue technologisch-marktliche Pfade zu beschreiten. Wenn sich alle Marktakteure auf einen neuen Pfad einlassen sollen, ist Planungssicherheit erforderlich. Auch hier kann ein allzu enges ideologisches Beharren auf Technologieoffenheit zu Verunsicherung und somit zu Attentismus sowohl auf der Angebotsseite als auch der Nachfrageseite führen.
»Transformation erfordert ›mentale Pfadwechsel‹ und gesellschaftliche Akzeptanz.«
Und so wichtig Infrastrukturen und industrielle Investitionen auch sind, bedeutet Transformation auch, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Bürgerinnen und Bürgern etwas abverlangt wird. Transformation findet auch auf der Nachfrageseite statt und erfordert »mentale Pfadwechsel« und gesellschaftliche Akzeptanz. Inwieweit die Dekarbonisierung eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie darstellt, kann hier im Detail nicht nachgezeichnet werden. Vieles spricht dafür, dass dem so ist. Konflikte um das »Heizungsgesetz«, Radwege in den Städten oder um höhere Netzentgelte in Windenergieregionen stehen beispielhaft dafür.
Aus der Perspektive einer missionsorientierten Industriepolitik ist auch auf der Nachfrageseite ein kluges Politikdesign erforderlich, das Verantwortung nicht individualisiert (wie marktliberale Konzepte, die Verhaltensänderungen vorrangig durch Bepreisung durchsetzen wollen) oder moralisiert (wie Teile der Klimabewegung), sondern den sozialen Ausgleich in den Blick nimmt und reale und bezahlbare Alternativen fördert und bereitstellt (Vgl. Bundeskanzleramt [im Erscheinen]: Zwischen Zumutung und Zuversicht. Gesellschaftliche Gelingensbedingungen der Transformation).
Missionen als neues Modell?
Was bedeutet nun »missionsorientiert«? Als Blaupause für ein konzeptionell schlüssiges und ökonomisch sowie »narrativ« mobilisierendes Politikdesign wird in der Innovationsforschung und -politik seit einiger Zeit das Konzept der Missionsorientierung als Modell propagiert (Mariana Mazzucato). Der Missionsansatz hebt den Unterschied zwischen horizontaler und vertikaler Industriepolitik auf und strebt an, alle relevanten Politikfelder und Instrumente auf die Erreichung einer strategischen Mission auszurichten. Im Zentrum von Missionen – so wie Mariana Mazzucato sie definiert – steht der öffentliche Zweck, die Schaffung von gesellschaftlichem Mehrwert.
»Missionsorientierte Politik setzt auf die bewusste Gestaltung und Schaffung von Märkten.«
Eine missionsorientierte Politik ist nicht nur Reaktion auf Marktversagen oder die Bewältigung von Externalitäten, sondern setzt auf die bewusste Gestaltung und Schaffung von Märkten. Der Staat muss hier als Pionier beziehungsweise Investor der ersten Instanz in Vorleistung gehen und technologische Richtungsentscheidungen treffen oder Wetten eingehen, ohne dabei den Markt als Entdeckungsverfahren außer Kraft zu setzen. Ziel ist es, in der ganzen Gesellschaft Innovationsprozesse beziehungsweise katalytische Reaktionen in Gang zu setzen. Die Erfolgsmessung sollte dementsprechend nicht nur das BIP betrachten, sondern die eigentlichen Ziele der jeweiligen Mission.
Auch in der deutschen Diskussion und Praxis findet dieser Ansatz inzwischen Berücksichtigung, sei es in der Wissenschaft mit Vorschlägen, etwa eine »Missionsagentur« zu gründen, sei es in der Einrichtung von ressortübergreifenden »Missionsteams« auf Fachebene, koordiniert durch das Forschungsministerium. Damit allein wird aber die wesentliche Herausforderung nicht gemeistert – die strategische und interdisziplinäre Abstimmung aller wesentlichen Politikfelder und Instrumente auf eine Mission.
»Die Silologik des Ressortprinzips (und entsprechender parteipolitischer Färbungen) muss institutionell und praktisch überwunden werden.«
Ein solcher whole-of-government-Anspruch kann und wird nur gelingen, wenn es eine politische Verständigung gibt, die Silologik des Ressortprinzips (und entsprechender parteipolitischer Färbungen) institutionell und praktisch zu überwinden. Denkbar wäre es, Missionen von vornherein in Koalitionsverträgen zu verabreden und womöglich auch die Aufstellung von Haushalten so zu organisieren, dass Mittel priorisiert und zielgenau eingesetzt werden. In Ansätzen geschieht dies bereits im aktuellen Regierungshandeln mit dem Klima- und Transformationsfonds.
Sowohl in der horizontalen als auch der vertikalen Dimension arbeitet die SPD-geführte Koalition daran, den erheblichen Modernisierungsstau aufzulösen – von Maßnahmen zur Planungsbeschleunigung über den Ausbau von Netzen und gezielte strategische Ansiedlungen bis zu einer liberalen Regelung für die Einwanderung von Fachkräften. Auch weil vieles erst mit Verzögerung »sichtbar« wird, vieles gleichzeitig passiert, die Spielräume durch das Haushaltsurteil des Verfassungsgerichtes enger wurden und manches auch koalitionsintern nicht immer im Konsens nach außen vermittelt wird, ist ein mobilisierender Aufbruch noch nicht da. Sinnvoll wäre zudem eine Art »nationaler Industriepakt« zwischen den demokratischen Parteien gemeinsam mit Gewerkschaften und der Wirtschaft sowie zwischen Bund und Ländern (und dies alles im Rahmen der EU-Politik) mit klaren Missionen einschließlich neuer fiskalischer Spielräume.
Der sozialdemokratische Ansatz
Die Rolle der deutschen Sozialdemokratie bestünde selbstredend nicht darin, in einem solchen Konsens aufzugehen oder lediglich zwischen den politischen Lagern und Akteuren zu moderieren. Ihre Alleinstellungsmerkmale sind dreierlei. Erstens in der Sphäre der Investition eine »sozialdemokratische Angebotspolitik«, der ein Verständnis eines aktiven Staates zugrunde liegt und die wirtschaftliche Förderung primär »missionsorientiert« dort einsetzt, wo sie nachhaltigem Wachstum, der Steigerung von Innovation und Produktivität und letztlich dem Gemeinwohl dient und somit bloße Gießkannen- und Mitnahmeeffekte (wie allgemeine Steuersenkungen) vermeidet.
Zweitens stehen in der Sphäre der Produktion qualifizierte Arbeitsplätze und gute Löhne im Zentrum. Eine wirtschaftliche Transformationsstrategie muss »Verluste« durch Struktur- und Arbeitsmarktpolitik ausgleichen. Die geplante Bindung öffentlicher Vergaben des Bundes an Tariftreue formuliert eine Logik, die noch weiter ausgebaut werden könnte: Öffentliches Geld der Steuerzahlenden (auch Fördermittel) wird stärker an die Bedingung sozialpartnerschaftlicher Arrangements geknüpft, ob Tarifbindung oder Standortzusagen. Zugleich geht es bei der betrieblichen Transformation immer auch um Mitbestimmung.
Schließlich geht es drittens in der Sphäre der Nachfrage um die Lebenswirklichkeit der »normalen Leute«. Sozialdemokratische Politik will keine Verhaltensänderungen über bloßen ökonomischen Druck (Bepreisung) oder paternalistische Belehrung vermeintlich aufgeklärter Milieus. Sie ist sich bewusst, dass Staat und Wirtschaft in Vorleistung gehen müssen, um real verfügbare und bezahlbare klimafreundliche Alternativen bereitzustellen.
(Der Text gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.)
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