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Rumänische Literatur in Zeiten des Protestes Auflehnung als ästhetisches Gemeinschaftsphänomen

Als im März 2016 feststand, dass Rumänien Gastland der Leipziger Buchmesse 2018 sein würde, ahnte noch keiner, welche gesellschaftlichen Veränderungen die bevorstehende Parlamentswahl für das Land und einen Teil seiner Literatur mit sich bringen würde. Bei einer Wahlbeteiligung von knapp 40 % kürten die rumänischen Bürger/innen am 11. Dezember 2016 die Schwesterpartei der SPD, die PSD (Partidul Social Democrat), zur klaren Siegerin. Für den Senat und die Abgeordnetenkammer bekam sie etwa 45 % der Stimmen, die liberal-konservative PNL (Partidul Național Liberal), die Partei des Präsidenten Klaus Iohannis hingegen nur rund 20 %. Mit der Allianz der Liberalen und Demokraten ALDE (Alianța Liberalilor și Democraților), die in beiden Kammern knapp über die Fünfprozenthürde kam, gelang schließlich die Regierungsbildung unter dem Ministerpräsidenten Sorin Grindeanu (PSD). Am 21. Juni 2017 aber wurde der in der eigenen Partei in Ungnade Gefallene durch ein Misstrauensvotum schon wieder gestürzt. Bereits etwa sieben Monate später ereilte auch seinen Nachfolger Mihai Tudose (PSD) ein ähnliches Schicksal. Seit Ende Januar 2018 darf sich nun die vormalige EU-Parlamentarierin Viorica Dăncilă als Ministerpräsidentin versuchen.

Dass es bei den innerparteilichen Querelen der PSD eigentlich um den Parteivorsitzenden Liviu Dragnea geht, steht für die meisten Beobachter im In- und Ausland fest. Weil Dragnea wegen Wahlmanipulation vorbestraft ist und den Posten des Ministerpräsidenten nicht bekleiden darf, versuche er, so der Vorwurf, die Regierung von der Parteispitze aus zu lenken. So sah eine der ersten Handlungen der Regierung unter dem »Schattenpremier« Dragnea eine Änderung des Strafgesetzbuches vor, Amtsmissbrauch künftig nur noch dann zu ahnden, wenn der Schaden 200.000 Lei (etwa 44.000 Euro) übersteigt. Dass sich Dragnea dabei selbst wegen Amtsmissbrauchs vor Gericht zu verantworten hatte, entging keinem. Hierbei ging es um rund 100.000 Lei (etwa 22.000 Euro). Neben den Vorhaben, etwa 2.500 Kriminelle, darunter auch Politiker, zu begnadigen, und der angestrebten Bagatellisierung von Amtsmissbrauch, die unter anderem mit den überfüllten Gefängnissen und mit der Stärkung der Unschuldsvermutung begründet wurden, stieß auch die Art und Weise, in der es zu den Änderungen des Strafgesetzbuches kommen sollte, auf Kritik: mit Eilverordnungen und unter Umgehung der üblichen Parlamentsverfahren.

Vor allem diese Entwicklungen sowie Versuche, die auch gegen Dragnea ermittelnde Nationale Antikorruptionsbehörde DNA (Direcția Națională Anticorupție) politisch unterzuordnen, lassen Rumänien in der Bewertung im In- und Ausland in die Nähe von Polen und Ungarn rücken. Positiv sind allerdings die teilweise massiven Proteste und Demonstrationen, von denen diese Entwicklungen von Anfang an landesweit begleitet wurden. Sie halten seit Januar 2017 an. Am 5. Februar des letzten Jahres gingen in Bukarest schätzungsweise über 500.000 Menschen auf die Straße. Neben den Massenprotesten, welche 1989 zum Sturz Nicolae Ceaușescus geführt hatten, gehören sie zu den größten in der Geschichte Rumäniens.

Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich daneben auch auf die rumänische Literatur, deren gesellschaftliche Relevanz immer größer wird. Mithilfe von Facebook & Co. kann man heutzutage den Verlauf solcher Massenproteste in Echtzeit überall auf der Welt mitverfolgen. Bei den unzähligen Live-Übertragungen ging man im Geiste mit den Demonstranten, und wenn man nicht mitging, so konnte man zumindest sehen und hören, wie sich die eigenen Freunde oder die, die man aus Büchern kennt oder über die man schon geschrieben, welche man schon interviewt oder ins Deutsche übertragen hat, dazu verhielten. Man fieberte mit den bedeutendsten zeitgenössischen rumänischen Intellektuellen wie Mircea Cărtărescu oder Ana Blandiana. Keine/r, ob jung oder alt, schien sich zu schade zu sein, mit Banner oder Plakat bei Kälte und Schneeregen für die in diesem Fall eindeutig richtige Sache einzutreten und sich mit den übrigen Demonstrierenden zu solidarisieren. Das meistverwendete Wort in diesen Tagen lautet: rezist (Widerstand leisten). Es begegnet einem im analogen wie im digitalen Leben, auf Facebook, bei Twitter oder Instagram.

Die spektakulären Bilder aus Bukarest vom Abend und aus der Nacht des

5. Februar und den folgenden Tagen werden in Erinnerung bleiben: die mit Handytaschenlampen beleuchteten Massen und die allgegenwärtige Trikolore in Blau, Gelb und Rot. Dieser typische rumänische Nationalstolz wirkt in Deutschland, inzwischen selbst in den Augen eines rumänischen Emigranten etwas befremdlich. Diese Skepsis ist aber unangebracht, denn die Demonstrationen richteten sich ja nicht nur gegen die Korruption im Land und sorgten dafür, dass die Regierung bei ihrem eiligen Versuch, die Korruptionsgesetze zu lockern, zurückrudern musste. Die Teilnehmenden sind mehrheitlich jung und proeuropäisch.

Es erscheint nur konsequent, dass aus der intensiven Anfangsphase dieser Massenproteste unmittelbar, schon Ende Mai 2017, eine Lyrikanthologie mit dem Titel #Rezist! Poezia hervorging, ausgewählt und herausgegeben von dem 1982 geborenen Lyriker, Romancier und Essayisten Cosmin Perța. Darin versammelt er 47 Lyrikerinnen und Lyriker mit je einem Gedicht: gelb der Hintergrund des Covers; zentriert und untereinander darauf die Namen der Autor/innen; im unteren Drittel ein Bildausschnitt, der vermutlich eine Versammlung zeigen soll, transparent überlagert von der rumänischen Trikolore; ganz unten erst der Titel.

Nicht um »Homogenität«, sondern, im Gegenteil, um »Eklektizismus« sei es ihm bei der Zusammenstellung dieser »frischen« Texte gegangen, verrät der Heraus-

geber in einem Interview: »Letztendlich müsste diese Anthologie, in kleinem Maßstab, das Bild des Marktes (gemeint ist der Siegesplatz in Bukarest, Piața Victoriei), den Tumult, das Getöse, die Uneinigkeit, den Kontrapunkt wiedergeben.« Verbunden seien diese Texte in der »Idee der Revolte, des Schreckens, der Ohnmacht, der Verachtung« und darin, dass sie nicht nur die #rezist-Bewegung repräsentieren, sondern jeden einzelnen Autor mit seinem individuellen poetischen Standpunkt. Ihm sei an einem »soziogesellschaftlichen Jazzstück« gelegen gewesen, bei dem nicht die Politik im Mittelpunkt zu stehen gehabt habe, sondern vielmehr die Auflehnung als ästhetisches Gemeinschaftsphänomen. In der kurzen Notiz des Herausgebers, welche die Anthologie begleitet, wird deren Ziel schließlich als das textuelle Exponieren der poetischen »Gefühlsausbrüche und Reaktionen« im Vorfeld von Nüchternheit und Ernüchterung formuliert. Was Perța also in seiner Anthologie versammelt, sind »während der Proteste entstandene Gedichte über Proteste«.

Das Gedicht von Magda Cârneci (Jahrgang 1955) ist eines von mehreren, welche aus den 47 herausstechen. »Ați reușit, ne-ați unit« (Ihr habt es geschafft, habt uns zusammengebracht) betitelt sie den Text und macht anschließend deutlich, dass

die Voraussetzung von Protesten, bei aller Verschiedenheit und konkurrierenden Interessen der Demonstranten, die Verständigung darüber ist, dass es an der Zeit ist, »die Stimme gegen die Lüge zu erheben«. Daraus abstrahiert sie sogar eine Existenzform für Ich und Wir: »#rezist, deci exist« und »#rezistăm, deci existăm« – »ich halte durch, also bin ich« und »wir halten durch, also sind wir«.

Einer der 47 ist Radu Vancu (Jahrgang 1978), der an anderer Stelle, nämlich in der kürzlich erschienenen Rumänien-Ausgabe der vom Literarischen Colloquium Berlin betreuten Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter als Herausgeber fungiert. Wie es scheint, knüpft er bei der Auswahl der Lyrikerinnen und Lyriker (»8x8 Gedichte«) ebenfalls an die Proteste an. Das Vorwort zu seiner Auswahl nennt er »Acht DNA-Sequenzen«, sodass er die bereits erwähnte andere DNA aufgreift: Direcția Națională Anticorupție, die Nationale Antikorruptionsbehörde. Als wolle er sagen: »Schaut her! Literatur ist nicht korrumpierbar! Im Folgenden acht Beweise dafür!« In der Tat ist die Auswahl auch in diesem Sinne repräsentativ.

So heißt es im »Bericht« von Svetlana Cârstean (geboren 1969): »Im Sommer des Jahres 1989 haben die Mädchen aus dem Literaturstudium den Eid / abgelegt und die Majorinnen haben ihnen die Gewehre / mit Nelken geschmückt. / Im Sommer des Jahres 1989 habe ich zum ersten Mal mit einem Gewehr geschossen, / die größte Angst hatte ich vor dem Rückstoß. / Im Sommer des Jahres 1989 habe ich mich auf dem Schlachtfeld gesonnt, / zwischen Stiefelrand und khakifarbenem Hosensaum / hatte ich ein dauerndes Tattoo aus Bronze. / Im Winter des Jahres 1989 bin ich verreist, zwischen 16. und / 28. Dezember habe ich die Bücher Auch gestern wird ein neuer Tag sein / von Mircea Nedelciu und Der Traum von Mircea Cărtărescu gelesen. / Im Winter des Jahres 1990, am 18. Februar, wurde ich auf dem Siegesplatz / 21 Jahre alt, verfasste meine erste Reportage für die Zeitschrift / Caţavencu. Die Reportage wurde nie veröffentlicht. / Zwischen 18. Februar 1990 und 2. November 2015 habe ich / mehr als 20-mal auf dem Siegesplatz demonstriert. / Zwischen 20. Mai 1990 und 16. November 2014 habe ich / mehr als 10-mal gewählt. (…).« Ein Gedicht, welches – in seiner Erinnerung an die relativ friedliche Nelkenrevolution und an die Ereignisse in Rumänien 1989 und 1990 – repräsentativ für einen Großteil der rumänischen und rumäniendeutschen Literatur steht.

Deren historisches Bewusstsein ist Fluch und Segen zugleich. Fluch insofern, als das historische Bewusstsein so etwas wie einen »poetischen Instinkt«, welcher nicht schon von der Geschichte konditioniert wäre, wie ihn Perța für sein Anthologie #rezist in Anspruch nimmt, verunmöglicht. Wie etwa bei Cârstean ist der rumänischen Literatur immer ein Datum »eingebrannt«, von dem sie sich entwickelt: »Den Töchtern der alten Revolutionen (…) / hat sich in die Haut ihrer Brust / nur das Schlachtbild eingebrannt.«

Segen insofern, als das Verhältnis zur Geschichte der eigentliche Ort von Literatur, d. h. von Nachhaltigkeit bzw. anhaltendem Widerstand ist, wie in einem weiteren Gedicht von Cârstean ersichtlich ist: »jedes Fehlen in unserem Leben / ist ein Fehlen im Wörterbuch«. Gerade im Falle der Proteste hat sich für dieses Fehlen ein Begriff gefunden: #rezist.

Eines wird deutlich: Der Großteil der jüngeren rumänischen Schriftstellergeneration lehnt das lähmende »Selbstgespräch der Geschichte«, von dem der rumäniendeutsche Schriftsteller Werner Söllner (Jahrgang 1951), sicher auch aufgrund seiner bewegten Biografie, in seinem neuen Gedichtband Knochenmusik spricht, ab. Auch sie kennt zwar Phasen der Machtlosigkeit, aber sie würde niemals so weit gehen, zu behaupten, es sei ausgeschlossen, durch bewusstes Handeln und Schreiben Veränderungen herbeizuführen.

Und während die Zeitschrift Sinn und Form in der kommenden Ausgabe (2/2018) einige kurz nach der Wende (1993) entstandene Gedichte des eher unbekannten, 1963 geborenen Marius Daniel Popescu aus der Versenkung holt, wird sich die rumänische Regierung vielleicht fragen, wie lange sie dem Widerstand noch widerstehen kann und ob sie vor dem Dammbruch nicht doch lieber einlenkt: »Liebe Hörer / und nun die Wasserstände der Donau: / Cernavodă zweihundertzwanzig Zentimeter / Galați hundertfünfundachtzig Zentimeter / Sulina siebenundneunzig Zentimeter / Bechet hundertdreiundvierzig Zentimeter / Tulcea zweihundertvierzehn Zentimeter / Turnu Severin hundertneunundvierzig / Zentimeter.«

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