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© picture alliance/Ulrich Baumgarten

Osteuropa vor der Europawahl – das Beispiel Ungarn Aufstand der Mitte

Von Dezember 2018 bis in den Januar 2019 hinein protestierten in Ungarn parlamentarische und außerparlamentarische oppositionelle Kräfte von rechts bis links in einer bunten Allianz gegen Viktor Orbán und seine Regierung. Viele Studenten, die wegen der Verdrängung der vom ungarnstämmigen Milliardär und Philanthropen George Soros gegründeten Zentraleuropäischen Universität (CEU) aus Budapest wütend und frustriert waren, schlossen sich an. Teile der Gewerkschaften, deren Streikrechte nach 2010 stark beschnitten worden waren, die sich aber nicht mehr eingeschüchtert zurückziehen wollten, kamen hinzu.

Diese Vielfalt unter den Beteiligten der Kundgebungen gegen das Orbán-Regime war neu. Noch vor wenigen Monaten schien es unvorstellbar, dass die jüngeren oppositionellen Parteien (die Ökopartei LMP, die liberale Momentum oder die ungarische Spaßpartei MKKP) gemeinsam mit der Partei Demokratikus Koalícío (DK) des Ex-Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány auf die Straßen gehen. Es schien ebenso unmöglich, dass Politiker des Mitte-links-Spektrums (»die demokratische Opposition«) mit Politikern der einst rechtsextremen, seit einiger Zeit jedoch auf einen moderaten Mitte- bzw. Mitte-rechts-Kurs eingeschwenkten Jobbik auf derselben Bühne auftreten.

Auslöser der Proteste war ein neues Arbeitszeitgesetz, das den Arbeitgebern mehr Flexibilität bei der Verrechnung von Überstunden gibt. Orbán konnte nicht glaubhaft machen, dass seine Regierung mit dieser Entscheidung nur den »hart arbeitenden Menschen« helfen wollte, wie er es sonst immer behauptet, und nicht den (deutschen) Konzernen, die sich wegen des Arbeitskräftemangels längere und flexiblere Arbeitszeiten wünschen. Die Oppositionsparteien hatten ein zentrales Thema gefunden, das bis Mitte Februar die politische Tagesordnung bestimmen konnte. Der Kreis der Protestierenden dehnte sich aus: Nicht nur eine kleine, ideologisch homogene Gruppe von Menschen mittleren Alters und Rentnern aus Budapest nahmen teil. Die Protestmärsche waren vielmehr überall ziemlich bunt und es gab sie nicht nur in der Hauptstadt, sondern in vielen Teilen Ungarns.

Die Proteste lenkten das öffentliche Interesse auf die Situation der arbeitenden Bevölkerung in Ungarn und darauf, was Gewerkschaftsarbeit erreichen kann. Nach dem erfolgreichen Streik bei Audi Ungarn, der zu einer Lohnerhöhung von 18 % führte, begannen Tarifverhandlungen an vielen Orten und in zahlreichen Betrieben. Es gab eine Reihe von Warnstreiks für höhere Löhne, in der Industrie und im Öffentlichen Dienst, in den meisten Fällen mit Erfolg. Die Zahl der organisierten Arbeiter wuchs in den letzten Monaten deutlich. Die Intensität der Proteste und die Streikwelle überraschte die Regierung. Auch viele international agierende Konzerne kündigten an, das Überstundengesetz nicht anzuwenden.

Mitte März war zwar die Luft bei den Demos raus, die Bereitschaft der oppositionellen Parteien, enger zusammenzuarbeiten, blieb aber bestehen. Wie soll es aber nach den Protesten weitergehen? Wie kann die Opposition den Druck aufrecht erhalten, Charakter und Führungsstärke zeigen? Welche Bündnisse können die Oppositionsparteien schmieden, um die landesweite Dominanz des Fidesz bei der Europawahl und bei den Kommunalwahlen zumindest teilweise aufzubrechen?

Überraschenderweise kam der Druck nicht von der ungarischen Opposition, sondern von der Europäischen Volkspartei (EVP), also der eigenen Parteienfamilie des Fidesz, die sehr lange Orbán den Rücken gestärkt hat. Orbán ist mit einer sogenannten »Informationskampagne« gegen Brüssel und einem Angriff gegen den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zu weit gegangen. Die Aussetzung der Mitgliedschaft vom Fidesz in der EVP befreit den Europawahlkampf vom langen Schatten Orbáns, dafür kann der ungarische Ministerpräsident zu Hause einen Wahlkampf nach eigenem Willen führen. Während die Zentristen gemeinsame Werte und politische Mindeststandards mit seiner Isolierung demonstrieren, mobilisiert Orbán seine Anhänger damit, Ungarn sei wegen seiner aufrichtigen Migrationspolitik angegriffen worden. Wenn wir Orbáns Verstöße gegen den Rechtsstaat betrachten, passt seine Partei schon lange nicht mehr in die EVP. Die meisten politischen Freunde, teils Bewunderer von Orbán, befinden sich außerhalb der größten Parteienfamilie im Europäischen Parlament. Die Botschaft ist klar: Europas Mitte will die EU regieren und die Radikalen von rechts und links (»die Destruktiven«) nicht ans Steuer lassen. In Ungarn muss man sich in Erinnerung rufen, dass man die europäischen Gesellschaften und die Europäische Union nur von der Mitte heraus zusammenhalten kann. Polen, die Slowakei und Tschechien aus dem Bündnis der Visegrád-Länder scheinen es besser zu verstehen. Wenn die ungarische Regierung nicht einlenkt, wird das Land isoliert und an die Peripherie gedrängt.

Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass sich der Widerstand gegen populistische Regierungen auch in Polen und in der Slowakei formiert: Von der hasserfüllten Politik erschöpft und erschüttert von den tödlichen Anschlägen auf Paweł Adamowicz, den Bürgermeister von Danzig, und den Investigativjournalisten Ján Kuciak und seine Lebensgefährtin gewinnt die neue Mitte an Popularität. In Polen haben sich mehrere – rechte, linke und grüne – Oppositionsparteien unter dem Namen »Europäische Koalition« zu einem Bündnis vor der Europawahl zusammengeschlossen, um die regierende nationalkonservative und EU-kritische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu schlagen. In der Slowakei ist die liberale Bürgeranwältin Zuzana Čaputová, die erst nach der Ermordung von Kuciak in die Politik einstieg und Kandidatin der im Parlament nicht vertretenen Progressiven Slowakischen Partei wurde, zum Staatsoberhaupt gewählt worden. Dies hat den politischen Umbruch verdeutlicht, der sich in den Regional- und Kommunalwahlen vor einem halben Jahr angedeutet hatte, als in den meisten Städten Kandidaten gewannen, die entweder unabhängig waren oder von breiten Bündnissen aus mehreren kleineren Parteien unterstützt wurden. Čaputová ist eine Hoffnungsträgerin der Generation in den 40ern, eine Integrationsfigur, die Zweidrittel- und Vierfünftelmehrheiten auch in solchen Gebieten holte, in denen vorrangig ethnische Ungarn leben.

In Ungarn finden in diesem Jahr – neben der Europawahl im Mai – auch Kommunalwahlen statt. Die Gesellschaft ist der politischen Spaltung des Landes überdrüssig. Sie will glaubwürdige Politiker, die diese Spaltung der Gesellschaft überwinden und die Zusammenarbeit vor individuelle Interessen stellen. In Ungarn wäre es mehr als vernünftig, dem slowakischen Beispiel zu folgen: zuerst also lokale Bündnisse zu schließen und bei den Kommunalwahlen den besten Kandidaten oder die beste Kandidatin für das Bürgermeisteramt zu finden, der oder die vor Ort anerkannt und gut vernetzt ist. Genauso wie sich Péter Márki-Zay in Hódmezővásárhely (Neumarkt an der Theiß), einer Kleinstadt und eigentlich eine Hochburg des Fidesz, als ein gemäßigter Konservativer, Vater von fünf Kindern und vollkommener Neuling in der Politik das Bürgemeisteramt bei einer Stichwahl im letzten Jahr mit Unterstützung der gesamten Opposition von Jobbik bis MSZP sichern konnte. Márki-Zay spricht bereits über das »Hódmezővásárhely-Modell«: Am besten sollten im Oktober lokale Zivilvereine ihre Kandidaten ins Rennen schicken, hinter denen sich die Parteien versammeln können. Dafür hat Márki-Zay eine überparteiliche Initiative gegründet: die Bewegung »Ungarn gehört einem jeden« (Mindenki Magyarországa Mozgalom). Sie soll zur Koordinierung der Parteien, insbesondere in der Provinz, beitragen. Die Vorbereitungen auf kommunaler Ebene laufen bereits auf Hochtouren.

In Budapest sollte ein breites Bündnis der oppositionellen Parteien von MSZP bis Jobbik einen gemeinsamen Oberbürgermeister-Kandidaten gegen den regierenden OB István Tarlós stellen. Um dies zu erreichen, hielt ein Teil der Linken interne Vorwahlen ab, während die grüne LMP und Jobbik mit einem eigenen Kandidaten, dem umstrittenen Medienkritiker und Publizisten Róbert Puzsér Stimmen vom Zentrum gewinnen will. Bis Ende Juni soll die zweite Runde der internen Vorwahl eine Entscheidung herbeiführen, ob Puzsér oder der Bürgermeister des 14. Stadtbezirks (Zugló), der gemeinsame Kandidat von MSZP und der kleinen grünen Partei Dialog, Gergely Karácsony, den Oberbürgermeister herausfordern wird.

Das erste Ziel ist, in Budapest und einigen großen und mittelgroßen Städten die Kommunalwahlen zu gewinnen. Darüber hinaus soll die politische Landschaft von der Mitte aus (also von Mitte-rechts bis Mitte-links) verändert und das neudefinierte politische Zentrum, die breite Mitte bis zu den Parlamentswahlen 2022 wettbewerbsfähig gemacht werden. Die Mitte versteht sich hier nicht soziologisch, sondern politisch: Alle Wählerinnen und Wähler sollen angesprochen werden, die mit der politischen Spaltung der Gesellschaft und dem Angriff auf die Medien, die Wissenschaft, die Justiz und generell mit dem politischen Radikalismus von Orbán, der auch die Rechtsstaatlichkeit untergräbt, nicht einverstanden sind. Die Mitte wünscht sich statt einem permanenten ideologischen Krieg eine sachliche, konsens- und lösungsorientierte politische Kultur.

Obwohl sich die meisten Ungarn nach sozialem Frieden sehnen, sind sie hinsichtlich der Kompetenz, der Regierungsfähigkeit und insgesamt der Aussichten der Opposition unsicher. Fidesz versteht es sehr gut, Themen zu setzen, die über ihre Wählerschaft hinaus bei der Mehrheit der Gesellschaft positiv aufgenommen werden. Für eine überzeugende politische Strategie ist nicht nur eine gute Erzählung wichtig, sondern auch ein klares politisches Programm mit attraktivem Angebot für die Mehrheitsgesellschaft. Ein Besipiel: Orbán hat den Schwerpunkt seiner Politik auf die demografischen Probleme des Landes gelegt und zahlreiche Maßnahmen angekündigt, die die Familienplanung unterstützen sollen. Für die Ungarn ist die Familie zwar von zentraler Bedeutung – aber die Maßnahmen der Regierung sind nicht nur selektiv, sondern sie werden nach Einschätzung von Experten auch nur beschränkt effektiv sein. Die Opposition kann dies kritisieren und/oder noch mehr versprechen, aber die Geburtenraten sind für die demografische Entwicklung nicht allein ausschlaggebend. Eine progressive Politik soll sich auch dafür einsetzen, dass die Ungarn länger und gesünder leben können. Da hätte die neue Mitte mit innovativen und gezielten Programmen gute Ansatzpunkte, da das ungarische Gesundheitswesen sehr schlecht organisiert und unterfinanziert ist.

Für Orbán sprechen ohne Zweifel die jahrzehntelange politische Erfahrung, der breite Zugang zu Ressourcen, ein loyaler staatlicher Machtapparat, treue Medien und ein fein gesponnenes Netz aus Fidesz-Oligarchen und Anhängern. Trotzdem sichert er seine politische Mehrheit vor allem mit erfolgreich gestalteten Regierungsmaßnahmen. Die Opposition kämpft, was die Ressourcen anbelangt, im übertragenen Sinn mit Holzschwertern gegen Kanonen. Sie muss daher künftig vor allem ein Angebot vorweisen, das überzeugend und glaubwürdig genug ist, um von den Wähler/innen unterstützt zu werden.

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