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Aufstehen?

Mit seiner Position einer »Ideologie der offenen Grenzen« repräsentiert Colin Crouch den größten Teil der organisierten Linken. Dazu ist Folgendes zu sagen: Bislang ist keine Sozialstaatlichkeit jenseits der demokratischen Nationalstaaten in Sicht, die EU hat spätestens mit dem Eintritt Großbritanniens das Projekt einer europäisch organisierten Sozialstaatlichkeit nachhaltig aufgegeben, so nachhaltig, dass jetzt, trotz des zu erwartenden Austritts Großbritanniens nicht zu erwarten ist, dass dieses Projekt revitalisiert wird. Allerdings sind die sozialstaatlichen Regime innerhalb der Europäischen Union so unterschiedlich, dass allenfalls eine komplementäre europäisch organisierte Solidarität, etwa in Gestalt der Garantie einer Lohnersatzleistung bei Langzeitarbeitslosigkeit, denkbar wäre.

Das auffällige empirische Phänomen, dass Staaten, die über lange Zeit hinweg von umfangreicher Einwanderung geprägt waren oder noch sind, eine nur schwach entwickelte Sozialstaatlichkeit aufweisen, wird nicht nur von Crouch, sondern auch von den organisierten Kräften links der Mitte hartnäckig ignoriert. Zudem ist die Einwanderung von Fachkräften zwar angesichts des demografischen Wandels erforderlich, darf aber nicht zulasten der Herkunftsländer gehen, die schließlich in die Ausbildung dieser Fachkräfte investiert haben.

Vor allem aber muss Einwanderung sozial- und kulturverträglich in den Aufnahmegesellschaften sein. Es ist durchaus legitim, wenn ein großer Teil der italienischen Gesellschaft es ablehnt, dass junge Männer aus den Mittelschichten des subsaharischen Afrikas die Bahnhöfe und Straßen der süditalienischen Städte zu Zigtausenden bevölkern, ohne jede Aussicht auf eine Integration in einen Arbeitsmarkt, der jedenfalls im Süden schon heute prekär ist und nur etwa der Hälfte der Jugend, die auf der Suche nach einem Job ist, Angebote machen kann. Der Erfolg der ursprünglich lediglich norditalienischen Separatistenpartei Lega in Gestalt des Vizepremiers und Innenministers Matteo Salvini, der in Umfragen unterdessen bei über 30 % liegt, obwohl die Partei in den vorletzten Wahlen noch der kleine Juniorpartner von Silvio Berlusconis Forza Italia war, ist dafür ein beredtes Beispiel. Salvini kann die Regierungspolitik in Italien und die öffentliche Meinung fast beliebig mit täglichen Tweets, teilweise abstoßend rassistischen Inhalts, beherrschen, nicht etwa deswegen, weil auf einmal ein Großteil der italienischen Bevölkerung rassistisch geworden ist, sondern weil diese erwartet, dass eine politische Lösung gefunden wird, um die Einwanderung aus dem subsaharischen Afrika wenn nicht zu stoppen, so wenigstens nachhaltig zu kontrollieren. Dabei sind es nicht die reinen aktuellen Zahlen, diese sind deutlich kleiner geworden, es sind die Erwartungen, die berechtigte Sorgen auslösen, wenn etwa Bevölkerungsexperten darauf hinweisen, dass sich bis zur Mitte dieses Jahrhunderts die Einwohnerzahl Afrikas auf 2,5 Milliarden mehr als verdoppeln wird und das schon von daher nicht zu erwarten ist, dass die Einwanderung aus Afrika nach Europa gestoppt werden kann.

Ich habe versucht, der Migrationsdebatte in Gestalt von sieben ethischen Prinzipien Orientierung zu geben und diese 2017 in einem Buch veröffentlicht (Über Grenzen denken). Ich brauche hier die wichtigsten Argumente nicht zu wiederholen, zumal sie durch Stellungnahmen und Reden von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht, auch durch vereinzelte Stimmen aus der SPD und der CSU Unterstützung erhalten haben (meist nur implizit, im Falle von Oskar Lafontaine auch explizit).

Die europäische Linke, einschließlich der Sozialdemokratie, befindet sich gegenwärtig in der Tat in einer historischen Falle, aus der sie nicht mehr herauskommen wird, wenn sie sich nicht von der Ideologie der open borders löst. Zugleich ist diese Ideologie zu einem Art Erkennungszeichen des linksliberalen Kosmopolitismus geworden, der von den Grünen über weite Teile der Sozialdemokratie bis zur liberalen CDU und dem linken Flügel der Linkspartei reicht. Ein ähnliches Spektrum zeigt sich in anderen europäischen Staaten. Ein Kurswechsel beinhaltet daher die Gefahr, zwar auf der einen Seite dem Rechtspopulismus diejenigen zu entziehen, die weder rassistisch noch nationalistisch denken, die aber die Sorge um die Migrationsentwicklung umtreibt, auf der anderen Seite aber die wohlmeinenden, oft politisch wenig informierten, aber in anerkennenswerter Weise Engagierten aus den Mittelschichten zu verlieren.

Die sich jetzt formierende politische Bewegung »Aufstehen«, die von Wagenknecht und Lafontaine initiiert wurde, verfolgt zwei, durchaus vernünftige Ziele: zum einen den aufgrund der Migrationsthematik Verunsicherten und Besorgten eine politische Alternative zur AfD anzubieten, darunter sind auch zahlreiche enttäuschte, ehemalige sozialdemokratische Wählerinnen und Wähler; zum zweiten geht es ihr um politische Gestaltungskraft, die der Linkspartei in ihrer gegenwärtigen Verfassung, außer in dem ein oder anderen ostdeutschen Bundesland, versagt ist. Wolfgang Streeck etwa, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, verbindet diese Zielsetzung mit dem alt-linken Projekt, wieder in die Verschuldung zu gehen, und durch deficit spending das Außenhandelsbilanzgleichgewicht wiederherzustellen, was allerdings von geringem ökonomischen Sachverstand zeugt. Warum sollte sich Deutschland wieder auf den Verschuldungspfad begeben und damit in Abhängigkeit von den Weltfinanzmärkten, bei insgesamt guter Konjunktur und vor allem durch die Agenda-Reformen dramatisch reduzierter und weiter nachlassender Arbeitslosigkeit? Viel vernünftiger ist es, das historisch hohe Steueraufkommen für Investitionen in Infrastruktur, Sozial- und Bildungseinrichtungen einzusetzen und den Überschuss in der Außenhandelsbilanz durch kräftige Lohnzuwächse und Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns abzuschmelzen. Dies allerdings wäre nur bei nachhaltig kontrollierter Einwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt möglich.

Eine linke Bewegung wie »Aufstehen« sollte sich zudem zur steuernden Funktion von Steuern bekennen, also dieses System insgesamt so gestalten, dass es eine ökologische und nachhaltige Entwicklung fördert. Hier liegen die Spielräume zusätzlicher staatlicher Einnahmen, nicht in erhöhter Staatsverschuldung.

Wie soll aber die angestrebte politische Gestaltungskraft der neuen Bewegung hergestellt werden? Wir leben nicht in Frankeich mit seinem Präsidialsystem, wo eine zentristische, sozialliberale Bewegung, angeführt von Emmanuel Macron, einer charismatischen und strategisch hochintelligenten Person, mit gerade einmal einem Viertel der Wählerschaft das Präsidentenamt und am Ende aufgrund des romanischen Mehrheitswahlrechts auch die absolute Mehrheit der Parlamentarier erreichen kann. In Deutschland werden, aus guten historischen Gründen, charismatische Personen durch die Macht der Parteien domestiziert. Es gibt keine Direktwahl des Regierungschefs oder der Regierungschefin und selbst in den einzelnen Wahlkreisen wirken sich die persönliche Leistung und die Sympathie, die eine Kandidatin oder ein Kandidat erworben hat, allenfalls in der für die Zusammensetzung des Parlaments irrelevanten Erststimme aus.

Nehmen wir einmal an, es gelänge der neuen Bewegung »Aufstehen« mit einer von Sahra Wagenknecht angeführten Wahlliste beide Ziele zu erreichen: die Dezimierung der Wählerschaft der AfD um – sehr optimistisch geschätzt – die Hälfte, und die Gewinnung vormaliger und aktueller sozialdemokratischer Wählerinnen und Wähler in der Größenordnung von 10 % der Gesamtwählerschaft, zudem ein Aderlass der Linkspartei von wieder großzügig geschätzten 40 %. In der Summe könnte man dann auf ein Wahlergebnis von um die 20 % hoffen, die Linkspartei läge dann nur noch knapp über der Fünfprozenthürde, die AfD bei 7 %; das wäre zweifellos ein beachtlicher – und unwahrscheinlicher – Erfolg.

Und dann? Ein Bündnis mit der dann weiter geschrumpften SPD würde für eine Mehrheit nicht ausreichen, zudem würde die Auseinandersetzung zwischen den dann drei linken Kräften schon dafür sorgen, dass eine Koalition in diesem Lager ausgeschlossen ist. Völlig undenkbar wäre eine Koalition mit der CDU, etwa in einer Dreierkonstellation mit SPD oder Grünen. Wie man es dreht und wendet, zu Ende gedacht sehe ich keine halbwegs plausiblen strategischen Optionen für eine dritte linke Kraft zwischen Linkspartei und Sozialdemokratie in Deutschland.

Auch das italienische Beispiel der weiteren Zersplitterung des linken Spektrums mit dem Ergebnis, dass am Ende die Abspaltungen trotz prominenter Repräsentanten nur marginale Wahlerfolge erzielen, und die sozialdemokratische Restpartei Partito Democratico die nationalen Wahlen verliert, obwohl ihre Regierungsbilanz nicht schlecht ausgefallen ist (das gilt auch für die Migrationsthematik und das Wirken des italienischen Innenministers Marco Minniti) weckt keine Hoffnung.

Vielleicht sollte man also aus der fernen historischen Erfahrung der Weimarer Republik und den gegenwärtigen Entwicklungen in europäischen Nachbarländern, herausgefordert von dem in der Tat demokratiegefährdenden Rechtspopulismus in Europa, einen anderen, vernünftigeren Weg wählen, nämlich alles, was an der Idee einer politischen Gestaltung der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung festhält und sich an Prinzipien der gleichen Freiheit, der sozialen Teilhabe und Gerechtigkeit orientiert, in einer politischen Kraft zusammenzuführen. Der Streit um die Agenda-Reform, der die nachhaltige Spaltung in Deutschland zwischen Linkspartei und SPD erst ermöglichte, die mit dem Wechsel von Lafontaine vom Parteivorsitz der Sozialdemokratie zum führenden Kopf der Linkspartei verstetigt wurde, ist zwar inhaltlich nicht beigelegt, aber 15 Jahre danach so oder so ausgefochten. Vielleicht kann die neue Bewegung »Aufstehen« die Gräben überbrücken und in der Migrationspolitik für einen klaren Kurs sorgen, der die pragmatischen Teile der Linkspartei in eine wieder erstarkte sozialdemokratische Kraft integriert. Auch die heutige, mit dem Rücken zur Wand stehende SPD wird sich inhaltlich öffnen müssen, in der Sozialpolitik nach links, in der Migrationspolitik nach rechts.

Diese neue, inklusive Sozialdemokratie würde weder auf den Globalismus à la TTIP und WTO setzen, noch auf denjenigen eines nivellierten, am amerikanischen Vorbild orientierten Bildungssystems. Es würde die berufliche Bildung und die Facharbeiterschaft stärken, ein solidarisches und finanzierbares Rentensystem der Zukunft konzipieren, die Steuereinnahmen auf hohem Niveau festschreiben, aber auch die Errungenschaften der Agenda-Reform aus ökonomischer Vernunft anerkennen. Sie würde nicht den Ausbau von Transferleistungen in den Mittelpunkt stellen, sondern kollektive Güter und deren allgemeine Zugänglichkeit: öffentliche Daseinsvorsorge in den Städten und Gemeinden, ein kostenloser öffentlicher Personennahverkehr, ein politisch kontrollierter Mietwohnungsmarkt, verlässliche und effiziente soziale und medizinische Dienstleistungen verbunden mit einem moderaten Ausbau des öffentlichen Dienstes. Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung, Innovationskraft durch staatliche Investitionen in Forschung und Entwicklung, politische Gestaltung der digitalen Infrastruktur und Eindämmung der globalen Marktmacht der amerikanischen und chinesischen Internetgiganten und eine Entspannungspolitik, die rechtzeitig verhindert, dass das aktuelle gestalterische Vakuum internationaler Politik in einen neuen Kalten Krieg umkippt. Willy Brandt, Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre Regierungschef einer europäischen, nur halb-souveränen Mittelmacht auf der Suche nach ihrer weltpolitischen Rolle, hat vorgemacht, wie das geht.

Eine geeinte linke, pragmatische Kraft, die ökonomische Vernunft mit sozialem Ausgleich verbindet und die die ideologischen Eierschalen des Marxismus und Linkslibertarismus (open borders) abgelegt hat? Ja, aber nicht in Gestalt einer weiteren Spaltung links der Mitte, sondern als wiedererstarkte, inhaltlich erneuerte deutsche und europäische Sozialdemokratie. Dass es dazu kommt, ist höchst unwahrscheinlich, aber wünschenswert. In Deutschland gäbe es dann wieder zwei große Volksparteien, eine links und eine rechts der Mitte, die um die Eroberung des Kanzleramtes konkurrieren und untereinander in aller Regel keine Bündnisse einzugehen gezwungen sind, weil sie stark genug sind, mit einem kleinen Partner oder gar allein zu regieren. Das Wechselspiel von Opposition und Regierung würde wieder funktionieren, die Rechts- und Linkspopulismen wären dezimiert. Die Demokratie wäre wieder handlungsfähig. Der Schulz-Hype Anfang 2017 war ein Hinweis darauf, dass eine solche Entwicklung in Deutschland Chancen hätte.

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