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Aufstieg und Fall des Corbynismus

Bei den britischen Unterhauswahlen 2017 gewann die Labour Party mit ihrem Vorsitzenden Jeremy Corbyn 40 % der Stimmen, zehn Prozentpunkte mehr als bei der Wahl 2015 und nur drei Punkte weniger als bei Tony Blairs erstem Wahlsieg 1997, dem größten Erfolg der Partei in der Nachkriegsgeschichte. Gut zwei Wochen später betrat der 68-jährige Corbyn die Hauptbühne von Glastonbury, dem jährlichen Höhepunkt im Kalender der Popfestivals. Zehntausende zumeist junger Musikfans, von denen viele T-Shirts mit seinem Bild trugen, jubelten ihm zu wie einem Popstar. Nach seiner kurzen Ansprache fing die Menge an zu singen: »Oh, Jeremy Corbyn!« Ähnliche Szenen wiederholten sich in den kommenden Monaten im ganzen Land: Kurz nach Mitternacht wechselte in den Nachtklubs die Musik, und die auf der Tanzfläche versammelten jugendlichen Nachtschwärmer sangen für einige Minuten »Oh, Jeremy Corbyn!« Der in Ehren ergraute Parteiveteran war zu diesem Zeitpunkt weit mehr als der Führer einer Oppositionspartei: Er war eine gegenkulturelle Symbolfigur, ein sozialistischer Politiker, dem breite Massen der britischen Wählerschaft zutrauten, auf die doppelte Krise Großbritanniens – der kapitalistischen Wirtschaft und der von Blair bis zur neoliberalen Unkenntlichkeit verwässerten Sozialdemokratie – eine Antwort zu finden.

All das war nicht abzusehen, als Corbyn im Juni 2015 ankündigte, seinen Hut für die Nachfolge des glücklosen, nach einer verlorenen Wahl zurückgetretenen Ed Miliband in den Ring zu werfen. In den Massenmedien war Corbyn völlig unbekannt, nachdem er mehr als drei Jahrzehnte als Hinterbänkler im Parlament verbracht hatte. Nun gibt es gleich zwei Bücher, die Aufstieg und Niedergang Corbyns und seines »Projektes« analysieren: den Versuch, eine dezidiert sozialistische Labour Party an die Macht zu bringen. Gabriel Pogrund und Patrick Maguire sind zwei Journalisten der zum Medienimperium von Rupert Murdoch gehörenden Times. Dementsprechend überwiegt ein denunziatorischer Grundton, richtet sich der Blick vor allem auf Intrigen und Skandale in der Parteizentrale. Dennoch fällt das abschließende Urteil über Corbyn überraschend wohlwollend aus, und zwar nicht nur über seine persönliche Integrität, die in der Partei selbst von kaum jemandem bestritten wird. Auch Owen Jones ist Journalist, der eine Kolumne für den Guardian schreibt. Seine Perspektive ist die eines Insiders: Nach seinem Studium arbeitete Jones für einige Zeit im Abgeordnetenbüro von John McDonnell, dem engen Vertrauten Corbyns und eigentlichen Architekten des »Projekts«. Seine gute Kenntnis der Personen und Hintergründe hindert Jones aber nicht daran, neben den Licht- auch die Schattenseiten zu behandeln.

So gelingt es Jones zu erklären, wie Corbyn überhaupt Labour-Vorsitzender werden konnte. Technisch gesehen lag es an den neuen Regeln, die Miliband eingeführt hatte. Demnach wählten nicht mehr zu gleichen Teilen die Fraktion, die Mitglieder und angegliederte Gewerkschaften den Vorsitzenden, sondern nur noch die Mitglieder, darunter auch solche, die sich erst kurzfristig als Unterstützer eingeschrieben hatten. Mit Ach und Krach war es Corbyn gelungen, die Unterstützung von 35 Labour-Abgeordneten zu gewinnen, ohne die er nicht ins Rennen gehen konnte. Dann aber kam die tiefe Verwurzelung von Corbyn und McDonnell in den linken sozialen Bewegungen ins Spiel. Nicht erst als Abgeordneter hatte sich McDonnell z. B. rastlos für die Belange der Gewerkschaften eingesetzt und Basisarbeit für gerechte Löhne und bessere Arbeitsbedingungen betrieben. Corbyn wiederum war nicht nur bei Solidaritätsgruppen im ganzen Land bekannt, die sich wie er für die Rechte der Kurden und Palästinenser einsetzten. Sein Engagement für die »Stop the War«-Bewegung gegen den Irak-Krieg 2003 hatte ihm bei den zahlreichen Aktivisten der Friedensbewegung Respekt verschafft. In ihrer Fraktion dagegen waren Corbyn und McDonnell Außenseiter. Bei den vielen Labour-Linken an der Basis, die unter Blair und Gordon Brown systematisch an den Rand gedrängt wurden, galten sie als von der neoliberalen Politik Blairs unbelastete Hoffnungsträger.

Jones vertieft dieses Argument bei einem Blick auf die Gegenfront innerhalb der Fraktion, die Corbyn gleich nach seiner Wahl wieder stürzen wollte. Zum einen brachte der Rückzug der alten Riege der »Blairites« neue Gesichter auf die vorderste Oppositionsbank des Schattenkabinetts. Unter ihnen waren neben Nachfahren von Migranten und Menschen mit mixed-race auffallend viele Frauen. Zu ihnen zählt etwa Angela Rayner, die mit 16 Jahren ohne Abschluss von der Schule abging, über einen Job im Pflegedienst zur Gewerkschaft fand und zu den ersten Unterstützern Corbyns in der Fraktion gehörte. Mit ihrem starken nordenglischen Akzent und ihrem ungekünstelten Auftreten ist noch heute jede ihrer Parlamentsreden eine Provokation in einem Land, in dem die Färbung der Sprache fast mehr noch als Reichtum das wichtigste Zeichen der sozialen Distinktion ist. Zum anderen erwiesen sich die Gegner Corbyns als kompromittiert. Owen Smith, der bei einer neuerlichen, von Corbyns Gegnern 2016 durchgesetzten Wahl zum Parteivorsitzenden als Gegenkandidat fungierte, verlor an Glaubwürdigkeit, als seine frühere Arbeit als Lobbyist für den Pharmakonzern Pfizer zur Sprache kam. Genüsslich zählt Owen Jones die Namen anderer Corbyn-Gegner auf, die nach ihrem raschen Rückzug aus der Politik als Lobbyisten für multinationale Firmen oder Sportwettenanbieter ihr Geld verdienten, für ihn ein Symbol der Prinzipienlosigkeit der von Blair repräsentierten Generation von Labour-Politikern.

Schließlich geht es bei Owen Jones auch um die soziale Bewegung, die nach Corbyns Bestätigung als Labour-Vorsitzender den Wahlerfolg des Jahres 2017 überhaupt erst möglich machte. »Momentum« wurde 2015 gegründet, um seine Kandidatur zu unterstützen. Die Gruppe entwickelte sich rasch zu einer Massenbewegung mit etwa 20.000 bis 40.000 Aktivisten im ganzen Land. Mitglieder von »Momentum« klopften in traditioneller Manier an Haustüren, verteilten Flugblätter und sorgten für einen massenhaften Zulauf. Aber die eigentlich innovative Seite von »Momentum« war die digitale Kampagne: gestammelte Antworten der oft hilflos wirkenden Premierministerin Theresa May wurden umgehend in kurzen Youtube-Clips parodiert. »Momentum« produzierte, oft in Zusammenarbeit mit anderen Kampagnen, Videos und Blogs für Facebook und andere soziale Medien. Insgesamt erreichten die Unterstützer Corbyns so Millionen von Wählern, ohne dass Labour selbst dafür einen Pfennig bezahlen musste.

Die Anziehungskraft von Corbyns Politik lag in seiner transformativen sozialistischen Agenda: »for the many – not the few«, mit höheren Steuern für Besserverdienende und Großkonzerne, gerechten Löhnen für die Arbeiter, Abschaffung der – von Tony Blair eingeführten – Studiengebühren und einem Ende der von »New Labour« wie Tories vorangetriebenen Aushöhlung des Sozialstaates. Beide Bücher beleuchten auch die Probleme der neuen Politik. Corbyn selbst war mit seiner neuen Rolle nach Jahrzehnten als Hinterbänkler oft überfordert. Nicht als Redner – seine oft trockene und etwas holprige, aber stets engagierte und authentische Art des Sprechens verfehlte ihre Wirkung nicht –, wohl aber als Parteichef, der eine desolat organisierte Parteizentrale kontrollieren, längerfristige Strategien entwickeln und vor allem kritische Entscheidungen treffen musste. An seiner Stelle sprang oft der ebenso pragmatische wie effiziente John McDonnell ein, aber auch er war vom engsten Führungszirkel am Ende isoliert. Hinzu kam die von den rechten britischen Massenmedien umgehend schamlos aufgebauschte Affäre um den in der Labour Party angeblich weit verbreiteten Antisemitismus. Auch hier zeigte sich, dass Corbyn jegliche Eignung zum Krisenmanagement fehlte. Er verstand zudem nicht, dass sein jahrzehntelanger Einsatz für die Sache der Palästinenser in diesem Zusammenhang nicht als positiver Beleg für seinen anti-racism gelten würde – diesen schwammigen und dem Problem nicht angemessenen Begriff benutzt leider auch Jones. Auch viele jüdische Mitglieder der Labour Party teilten deshalb die Wahrnehmung, dass Corbyns legitime Kritik am Staat Israel sich bei ihm mit antisemitischen Vorurteilen mischte.

Doch der mit Abstand wichtigste Faktor im Niedergang Corbyns war der Brexit. Politik organisiert sich um cleavages herum, die zentralen soziokulturellen Spannungslinien, welche die Wählerschaft eines Landes spalten. Corbyn startete einen überaus erfolgreichen Versuch die soziale Spaltung der Gesellschaft zum neuerlichen Motor einer progressiven populistischen Politik zu machen. Nach dem Brexit-Referendum gab es in der britischen Politik aber nur noch eine Spannungslinie: die zwischen leave und remain. In einer differenzierten Analyse zeigt Jones auf, was hier schiefging. Corbyns gut gemeinter und im Ansatz plausibler, aber in der Durchführung zunehmend stümperhafter Versuch, das Referendum anzuerkennen, ein zweites Votum zu fordern, aber seine Partei gleichzeitig zur Neutralität zu verpflichten, war zum Scheitern verurteilt. Die Quittung dafür bekam er im Dezember 2019 von den Wählern, die diesen Kurs nicht verstanden und ihm erst recht nicht folgen wollten, vor allem solchen aus dem alten Labour-Kernland im Norden Englands.

Owen Jones: This Land. The Story of a Movement. Allen Lane, London 2020, 336 S., £ 20. – Gabriel Pogrund/Patrick Maguire: Left Out: The Inside Story of Labour Under Corbyn. Bodley Head, London 2020, 376 S., £ 18.99.

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