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Der Fotograf Luigi Toscano und sein Porträt-Projekt »Gegen das Vergessen« Augen-Blicke mit Shoah-Überlebenden

Die Shoah als negativer Bezugspunkt menschlicher Zivilisation bestimmt das Selbstverständnis unserer freien Gesellschaft, sie ist Grundstein unserer Verfassung. Doch je weiter sich der Holocaust historisch entfernt, umso größer wird die Herausforderung, die Erinnerung wach zu halten. Sie aus elitären Routinen zu befreien, wird daher nicht erst seit den Attentaten in Halle und Hanau diskutiert. Regelmäßig wird der Auschwitz-Gedenktag zum Anlass genommen, dringende Reformen und die Demokratisierung von Erinnerungsritualen zu diskutieren. Dass (laut Körber-Stiftung) mittlerweile vier von zehn Schülern nicht mehr wissen, was hinter dem Begriff »Auschwitz« steckt, spricht für sich. Antisemitische Ressentiments werden wieder salonfähig. Aktuell klingen sie in Protesten von Corona-Leugnern und sogenannten Querdenkern besonders laut.

Der italienische Fotograf Luigi Toscano, der in Deutschland lebt und geboren wurde, porträtiert seit 2014 Überlebende des Holocaust. Für sein Foto- und Film-Projekt »Gegen das Vergessen«, mit dem er die Erinnerung an den Holocaust nicht nur aus den Mauern der Gedenkstätten löst, sondern zugleich versucht, demokratischer und lebendiger zu gestalten, wurde er im März 2021 zum UNESCO-Botschafter »Artist for Peace« ernannt. Mittlerweile haben Toscanos Fotos mehr als eine halbe Million Menschen gesehen.

Kopf, Hals, Schultern, immer im selben Ausschnitt, vor einem schwarzen Hintergrund. Der Blick des Betrachters wird von den Augen des Porträtierten in den Bann gezogen. Gerahmt von Falten, die sich wie tiefe Notenlinien über die Stirn ziehen, Schicksalsmelodien vermuten lassen, in feinen Verästelungen Lippenkonturen aufbrechen, auf Wangen Reliefs zeichnen. Die Größe in den Fotos Holocaust-Überlebender von Luigi Toscano entsteht nicht nur durch ihr überlebensgroßes Format, vielmehr ist es der direkte Blick, der dem Betrachter kein Ausweichen ermöglicht, ihm folgt, sich an ihm festsetzt.

Jede Pore, jeder Leberfleck in diesen Gesichtern erzählt Geschichte, zugleich sind sie Zeugnis der Gegenwart, mehr noch, ein Ausblick in die Zukunft. Toscano selbst hält sich mit Interpretationen zurück, lieber überlässt er sie den Betrachtern. Wenn er allerdings hört, wie sehr das Leid in den Augen der Porträtierten sichtbar sei, lächelt er. »Ist das so? Könnten wir ohne Hintergrundwissen erkennen, wer den Holocaust erlebt hat, wer nicht?«

In Toscanos Ludwigshafener Werkstatt, einer alten Lagerhalle direkt am Rhein, lehnen die Exponate, die vor wenigen Wochen noch in Paris vor dem Hauptsitz der UNESCO zu sehen waren. Mit 200 Fotos war es die bislang größte Ausstellung seines Projekts. Die Porträts sind auf einen wetterbeständigen Fahnenstoff gedruckt. Wenn sie frisch aus einer polnischen Druckerei kommen, sei das jedes Mal ein emotionsgeladenes Wiedersehen, sagt Toscano. Aus den ursprünglich 70 geplanten Porträts zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sind mittlerweile über 400 geworden. Und das Lager am Rhein hat zwei Ableger bekommen – in Kiew und in Philadelphia.

Was hat ihn dazu bewogen, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen? Toscano atmet durch, zündet sich eine Zigarette an. Er erzählt von einer schwierigen Kindheit, von Eltern, die Alkoholiker sind, Jahren im Heim, Gewalt, Drogen. Über den Holocaust erfährt er nur »die paar Standardsätze« aus der Schule, die Szenen aus Schindlers Liste greifen da mehr, lassen ihn nicht mehr los. Doch das Wenige nagt an ihm. Er jobbt als Dachdecker, Maler, Zimmermann, Türsteher. Zur Fotografie kommt er zufällig, er belegt einen Kurs an der Volkshochschule, die wichtigsten Techniken eignet er sich autodidaktisch an. Mit seiner Kamera erkundet er urbanen Raum, für die Menschen beginnt er sich zu interessieren, als er einen syrischen Flüchtling kennenlernt, der ihm von den unhaltbaren Zuständen in seiner Asylunterkunft erzählt. Das ist 2014. Toscanos erste Porträtserie entsteht, er stellt sie an der Alten Feuerwache in Mannheim aus. Über jedes Fenster des Backsteinbaus hängt er das großformatige Porträt eines Geflüchteten. »Ich wollte diejenigen sichtbar machen, die von unserer ›Willkommenskultur‹ so im Stich gelassen wurden, ihnen ein Stück Würde zurückgeben – mit meinen Mitteln ein Zeichen setzen gegen Fremdenhass und Rassismus.«

Über den Mannheimer Verein »HeimatAsyl« entsteht anschließend der erste Kontakt zu Holocaust-Opfern. Toscano möchte mit seinem Engagement weitere Menschen erreichen. Beim ersten Treffen mit fünf Überlebenden des KZ Mannheim schlägt Toscano Skepsis entgegen. Spontan zeigt er ihnen seine Fotos an der Alten Feuerwache. »Wie die ehemaligen Zwangsarbeiter vor den Bildern der Geflüchteten standen, ganz still, und plötzlich begriffen, um was es mir geht, werde ich nie vergessen«, sagt Toscano. Ein unmittelbares Gefühl von Solidarität habe sich da ausgebreitet. Eine Bestätigung für die Relevanz seines Projekts.

Unzählige Opferverbände, Vereine, Gedenkstätten hat Toscano seitdem kontaktiert. Zu Beginn öffneten sich Türen nur schwer, auch weil er in seinem Projekt alle Opfergruppen abbilden möchte: Juden, Sinti und Roma, Zwangsarbeiter, Homosexuelle, Menschen, die als »Asoziale« interniert wurden. Dass gerade unter Opferverbänden eine große Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Geld herrsche, habe er unterschätzt.

Doch das Interesse an seiner Arbeit wächst, mittlerweile rufen ihn Überlebende persönlich an. Toscano zeigt mir das Foto eines Mannes mit grauem Schnauzbart und introvertierten Augen unter der zerfurchten Stirn. Horst Sommerfeld sei der erste Auschwitz-Überlebende gewesen, den er fotografieren durfte, sagt er. Er erinnert sich, wie er am Telefon stammelte, als Sommerfeld unvermittelt sagte: »Meine komplette Familie wurde in Auschwitz ermordet, kann ich bei ihrem Projekt mitmachen?« Und wie ungeduldig er Toscanos Stammeln unterbrach: »Ja oder Nein?« »Ich hatte kein Handbuch, um über den Holocaust zu sprechen« sagt Toscano, »aber eine riesige Angst ins Fettnäpfchen zu treten«.

Toscanos erste internationale Ausstellung findet 2016 in Kiew statt – anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Massakers von Babyn Jar. Am 29. und 30. September 1941 wurden dort mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet. Toscanos kleine Tochter spielt am Abhang der Schlucht, wo die Erschießungen stattfanden, das jüngste Opfer sei nur zwei Tage alt gewesen, erinnert Toscano. An solchen Bildern hat er lange zu schlucken. Auch an Begegnungen wie die mit Amira, die in einem Kibbuz nahe Haifa lebte und von ihrem unmenschlichen Hunger im Lager erzählte, der sie in ein Tier verwandelte – vom Brot, das ihr die Mutter zusteckte und das dieser am Ende zum Überleben fehlte. Oder von Ralph, den er im Holocaust Center in Chicago traf: »Er begrüßte mich, als ob wir alte Freunde sind. Und während er es sich bequem machte, erzählte er unvermittelt, dass er das Krematorium in Auschwitz mauern musste, in welchem seine ganze Familie verbrannt wurde.«

Mit jeder neuen Begegnung wachse die Dringlichkeit, gegen das Vergessen zu arbeiten, sagt Toscano. Ein Wettlauf gegen die Zeit.

Diejenigen, die systematisch aus dem kollektiven Bewusstsein verschwinden sollten, stellt Toscano überlebensgroß in den öffentlichen Raum. Aber anstatt auf Passanten herabzublicken, Distanz herzustellen, eröffnen sie den Dialog.

Zuhören sei der Kern seiner Arbeit. Er besucht die Überlebenden in ihren Wohnungen, manchmal trifft er sie in Gemeindehäusern oder Bibliotheken. Immer hat er ein Mitbringsel dabei – Brot, Käse, Butter, manchmal Blumen. »Gerade in Osteuropa leben die meisten von ihnen unterhalb der Armutsgrenze«, sagt Toscano. Die Geschichten, die sie erzählen, dokumentiert er. »Die zehn bis 15 Fotos, die ich am Ende von ihnen mache, geraten beinahe zur Nebensache.«

Inzwischen sind Toscanos Bilder weit gereist – und mit ihnen ihre Erzählungen. Von Mannheim nach Kiew, über Washington, wo Toscano als erster Künstler überhaupt am Lincoln Memorial ausstellen darf, bis nach New York. In San Francisco fand zeitgleich zu seiner Ausstellung eine Demonstration von Rechten statt – die damalige Senatorin Kamala Harris veranlasste daraufhin, Toscanos Bilder durch einen Zaun zu schützen. In Wien wurden Fotos seiner Ausstellung von Neonazis zerstört, als Reaktion formierten sich spontane Mahnwachen, der österreichische Präsident Alexander Van der Bellen übernahm die Schutzherrschaft.

Dass Toscano die Erinnerung an den Holocaust in flexiblen Pop-up-Ausstellungen präsentiert, beschert ihm nicht nur Wohlwollen. »Neid und Missgunst kommen gerade auch aus etablierten Gedenkstätten«, sagt Toscano, dessen Konzept mehrfach kopiert wurde. Am auffälligsten lässt sich Toscanos Handschrift in der Ausstellung, die Starfotograf Martin Schöller zum 75. Jahrestag der Befreiung mit dem Axel-Springer-Verlag auf die Beine stellte, nachweisen. Seine 75 Porträts waren ebenso großformatig wie die Toscanos, zeigten denselben Fokus auf Gesicht und Augen. Teilweise waren es dieselben Menschen, die bereits Toscano fotografiert hatte. Das fiel sogar Fachleuten auf, die nachfragten, Monopol veröffentlichte einen ausführlichen Artikel.

Toscano selbst reagiert gelassen. »Das Thema Holocaust ist zu groß für mich alleine. Und letztlich geht es mir auch nicht um Kontrolle, sondern um die Sache an sich.«

Wie erinnern wir uns – angemessen?

Erinnerung, Gedenken sei so unterschiedlich wie die Menschen, die den Holocaust durchmachen mussten, sagt Toscano – der alle Porträtierten ins selbe Licht rückt, ihnen dasselbe Format, denselben Blickwinkel aus seiner Kamera leiht.

Dabei hat er nicht nur die Erinnerung an den Holocaust im Blick, sondern sieht die Missstände im Hier und Jetzt. Wo er ihnen begegnet, versucht er etwas ins Positive zu wenden. »Ohne erhobenen Zeigefinger, sondern pragmatisch«, sagt er. »In Kansas City half mir ein junger Thai, der eine Fußfessel tragen und dafür selbst monatlich Miete bezahlen musste!« Schulbegleitende Programme sind Toscano besonders wichtig, »damit Kinder und Jugendliche erfahren, wie es ist, tatsächlich jemanden zu treffen, der auf ›Schindlers Liste‹ stand«.

Mit seinem Projekt »Gegen das Vergessen« hebt Luigi Toscano die Holocaust-Überlebenden aus ihrer Zeit heraus, lässt sie einen Dialog mit ihren Betrachtern beginnen. In einem Fall haben die Bilder sogar zueinander gesprochen. Bei einer Ausstellung in Berlin 2018 stellte Toscano zwei Fotos nebeneinander, nicht wissend, dass die darauf Porträtierten als Kinder befreundet waren. Horst Sommerfeld, der seine komplette Familie in Auschwitz verlor und Walter Frankenstein, dessen Familie überlebt hatte. »Die beiden haben sich zwar nie mehr wiedergesehen, aber seitdem öfter miteinander telefoniert«, sagt Toscano.

GEGEN DAS VERGESSEN wird vom 17.6.-7.7.2021 im Hospitalhofviertel Stuttgart gezeigt, weitere Ausstellungstermine unter: www.luigi-toscano.com

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