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Die Eruption des Ethnischen in der Politik Aus der Tiefe ans Licht

Wie weit sich rechtsextreme Einstellungen, Xenophobie bis hin zu Pogromstimmung, die Geringschätzung des demokratischen Systems und Autoritätsorientierung in Deutschland »vom Rand zur Mitte« bewegt haben, hat nicht nur die Studie gleichen Titels von Oliver Decker und Elmar Brähler von 2006 gezeigt. Der aktuelle (Wahl-)Erfolg der AfD bestätigt diese These eindrucksvoll. Gemeint ist aber offensichtlich keine Verlagerung oder Verschiebung eines begrenzten Meinungsspektrums, sondern die Verbreitung dieser Positionen in der Gesellschaft und deren immer selbstverständlichere Anerkennung. Die jüngste der in zweijährigem Rhythmus publizierten Studien Die enthemmte Mitte (2016) erkennt zwar keine Zunahme rechtsextremer Einstellungen, aber ein hohes Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit: Rechtsextreme finden in der AfD eine Heimat.

Überall in Europa und weltweit drängen Ethnizität und Ethnopolitik an die Oberfläche, in manchen Regionen verbunden mit massiven Konflikten, die zu den wesentlichen Fluchtursachen gezählt werden müssen, und der wachsenden Attraktion populistischer, einfacher Lösungen. In der Konsequenz stellen völkisch-nationalistische, xenophobe und rassistische Positionen immer das Konzept liberaler, offener und demokratischer Gesellschaften grundsätzlich infrage. »Der Einsatz ethnischer Stereotypen und die Nutzung von Angst vor Fremden sind Elemente aus dem faschistischen Kochbuch«, konstatiert der Faschismusforscher Robert Paxton in diesem Zusammenhang. Wenn Frauke Petry in einem Interview von wachsender »ethnischer Gewalt« spricht, und damit auf Brennpunkte wie Neukölln oder Marxloh anspielt, gießt sie damit nur Öl ins Feuer.

Dass soziale Gruppen, Gesellschaften, Ethnien/Völker und Nationen sich ihrer Identität wesentlich in ihrer Abgrenzung von den jeweils anderen versichern, ist eine verbreitete sozialwissenschaftliche Kernposition. Es sind Stereotype, zugeschriebene Merkmale, die das Eigene und das Andere definieren und Grenzen markieren.

Der Begriff »Ethnie« hat einen schillernd-oszillierenden Charakter, der Unterton des primitiven, traditionalen, ursprünglichen ist bis heute unverkennbar, die Gleichsetzung mit Volk, häufig unterhalb der nationalen Ebene, durchaus verbreitet. In den 60er und 70er Jahren trat der Begriff »Ethnie« zunehmend an die Stelle von »Stamm«, aber das Fehlen eindeutiger, objektiver Kriterien der Abgrenzung, der präzisen Definition, das die Krise des empirischen Stammesbegriffes bewirkte, gilt in ähnlicher Weise auch für den Terminus »Ethnie«. Zwar gibt es unbestreitbar Merkmale wie etwa Sprache, Kultur, Religion, Brauchtum, Geschichte, Wirtschaftsweise, Siedlungsgebiet, die aber angesichts der Flexibilität des Konzeptes trotzdem nicht für eine eindeutige Definition ausreichen.

Max Weber entsprechend lässt sich eine ethnische Gruppe nicht durch objektive, d. h. durch feststellbare Eigenschaften bestimmen (zumindest nicht ausschließlich), sondern nur anhand der subjektiven Einstellung der einzelnen Mitglieder: die »ethnische Gemeinsamkeit … (ist) an sich nur (geglaubte) Gemeinsamkeit«. Das Gleiche gilt laut Weber auch für die »Nation«. Diese grundsätzlich »subjektive« Definition ethnischer Phänomene aber hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Sozialanthropologie und Ethnosoziologie weitgehend durchgesetzt. Dabei spielen durchaus auch objektiv vorhandene Merkmale eine Rolle, aber wesentlich sind zugeschriebene Kriterien, die zur Markierung und Abtrennung der eigenen Gruppe von anderen herangezogen werden. Dass dabei Wert- und Vorurteile, Verallgemeinerungen und Verzerrungen, Fehlinterpretationen, Unterstellungen und Übertreibungen bis hin zu Verleumdungen, Hass und Verachtung eine größere Dichotomie suggerieren können als empirisch nachweisbar, trägt zur Dynamik bei.

Ethnizität tritt im Wesentlichen in drei interaktiven Dimensionen in Erscheinung: als ursprüngliche und emotional bestimmte Gruppenzugehörigkeit, als instrumentelle Maske in der alltäglichen politischen und sozialen Interaktion und für die Durchsetzung materieller Interessen sowie als identitätsschaffendes soziales Konstrukt kollektiver Beziehungen.

Ethnische Gruppen sind damit flexibel, sie können sich in neuen Situationen auch neu konstituieren und wieder verlieren. Je nach Gewichtung und Ausrichtung konstituieren sich »ethno-nationalistische« Bewegungen mit politisch-territorialem Anspruch oder als politische Parteien, »Ethno-Religionen«, die religiöse Merkmale für Abtrennung und Gegnerschaft nutzen (z. B. Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, in der Reinform Gruppierungen wie die Jesiden mit endogamen Heiratsregeln) oder »ethno-soziale« Gruppen oder Bewegungen (wie Solidargemeinschaften, Selbsthilfebewegungen oder Fußballfangruppen).

Ethnische Kategorien sind damit zwar »subjektive« Phänomene in dem Sinne, dass sie allein im Bewusstsein der Menschen existieren, sind zugleich aber auch »nicht-subjektiv«, da keine Person sie sich nach eigenen Wünschen ausdenken kann. Sie sind »real«: Sie bestimmen die Wahrnehmung und das Handeln. Als festgefügte, gemeinsame Überzeugungen einer Vielzahl von Menschen sind sie »objektiv«, denn sie existieren unabhängig von den Entscheidungen des einzelnen Individuums – jedoch nicht abgehoben von den Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Konstitution, durch die sie vermittelt werden. Sie haben damit eine eigene Dynamik, deren Vehemenz in Wettbewerbs- und Konfliktsituationen, bei Ressourcenkonflikten, aufbricht, wie sie Migrations- und Urbanisierungsprozesse entstehen lassen.

Es gibt Beispiele, dass Ethnien (hier im eher traditionellen Sinne gebraucht) lange in friedlicher Koexistenz oder kooperativem Austausch nebeneinander leben, Veränderungen in den Rahmenbedingungen (Bevölkerungsdruck, Konflikte um Wasser oder Land, um die Verteilung staatlicher Mittel, den Einfluss auf der nationalen Ebene u.ä.) aber konfliktauslösend wirken und sich diese verstetigen.

Interaktionen und Konflikte

Es würde Sinn machen, eine Weltgeschichte als Geschichte der Migration zu konzipieren. Migration hat wesentlich zur Kulturentwicklung und zum Fortschritt beigetragen, aber es gab auch massive Konflikte bis hin zu Pogromen und Mord (etwa im Sommer 2015 in Südafrika). Wir kennen Jahrzehnte anhaltende Spannungen und Diskriminierungen (wie etwa in Malaysia zwischen Malaien, vor langer Zeit zugewanderten Chinesen und aus Indien angeworbenen Plantagenarbeitern) und andauernde Segregation und Separation, ungleiche Lebenschancen bis hin zu latentem oder blankem Rassismus (wie in den USA).

Andererseits gibt es Beispiele der positiven ethnischen Interaktion und Solidarisierung in sozialen Umbrüchen und Urbanisierungsprozessen, gegenseitige Hilfe und Unterstützung bis hin zu Schulen und zur Gesundheitsversorgung. Es ist aber vor diesem Hintergrund bizarr, wenn einerseits die Reste von »Deutschtum« im Ausland, z. B. Vereine, Trachtengruppen und Oktoberfeste, als positiv wahrgenommen werden und deutsche Schulen staatliche Förderung erhalten, während andererseits von Neuzuwanderern hierzulande die völlige Integration bis hin zur kulturellen Selbstaufgabe erwartet wird. Der Erwerb der deutschen Sprache und die positive Akzeptanz von Demokratie und Rechtsordnung sind allerdings selbstverständliche Voraussetzungen einer dauerhaften Aufnahme und Beteiligung.

Es sind vor allem zwei Faktoren und Dynamiken, die, in der Genese ethnischer Konflikte bzw. in der Wahrnehmung und Interpretation konflikthafter Entwicklungen als ethnisch verursacht, eine zentrale Bedeutung gewinnen. Erstens: Ressourcen- und Verteilungskonflikte, Wettbewerb um Jobs und Einkommen, Wohnungen, Lebenschancen, Anerkennung, Beteiligung. Ethnische Konflikte haben selten mit Tradition zu tun, sie sind »modern«, Ausdruck der wachsenden Konkurrenz von Bevölkerungsgruppen, deren Lebensbedingungen sich unter den Bedingungen der Wettbewerbswirtschaft verändern und häufig auch verschlechtern. Oft ist dies ein objektiver Tatbestand, manchmal reicht aber auch allein die Wahrnehmung.

In den Entwicklungsländern etwa sind viele junge Menschen auf der Suche nach Arbeit und Einkommen, manche trotz guter Qualifikation chancenlos, andere völlig entwurzelt, ein tagtäglicher Kampf ums Überleben in absoluter Unsicherheit, unter verbreiteter Kriminalität und Gewalt. Es sind die Wenigsten, bei denen das mancherorts errechnete Wirtschaftswachstum und der ökonomische Fortschritt ankommt.

Zweitens: Die Instrumentalisierung und Nutzung ethnischer Beziehungen im politischen Wettbewerb und als Ressource der Mobilisierung. Hierfür gibt es zahllose Belege, bei massiven ethnischen Konflikten oder Gewaltausbrüchen sind sie eher die Regel als die Ausnahme. Selbstverständlich gibt es eine Wechselwirkung, ein »Sich-Aufschaukeln« in einer dialektischen Eskalation, es müssen innergesellschaftliche Voraussetzungen für die Weckung und Nutzung ethnischer Mobilisierung vorhanden sein. In manchen Fällen reichen Symbole (wie das Kopftuch) oder Verhaltensunterschiede als Ansatzpunkte. Verbreitet ist die Selbstwahrnehmung als »ausgewählter« oder »besonderer« Ethnie oder Nation bei gleichzeitigem Gefühl, »Opfer« oder »Verlierer« zu sein. Der sich in den 90er Jahren beschleunigende Prozess der Demokratisierung in einer Reihe von Weltregionen (der in vielen Fällen zum Erliegen gekommen ist) hat zur Genese ethno-nationalistischer oder ethno-religiöser Bewegungen und Parteien wesentlich beigetragen und damit die Risiken von Konflikten und Gewalt verstärkt, bis hin zu Bürgerkrieg und Staatsverfall. Die »sektiererische« Politik im Irak ist ein Beispiel für das ethno-religiöse Scheitern von Demokratie, in Syrien zersplittert eine potenziell demokratische Bewegung unter der repressiven Gewalt eines diktatorischen Regimes und interessegeleiteten Interventionen von außen in militante, ethno-religiöse Segmente, die auch für die Zukunft nichts Gutes erwarten lassen.

Lange Zeit wurde Ethno-Politik als Problem zurückgebliebener, primitiver, wenig entwickelter Gesellschaften eingeordnet und abgetan, inzwischen aber hat sie sich auch tief in westlich-demokratische Gesellschaften hineingefressen und eine eigene Dynamik gewonnen. Das reicht vom »plumpen Nationalismus« (z. B. America First) über offen national-populistische Regierungen und Parteien oder sezessionistische Bestrebungen in EU-Mitgliedsstaaten bis hin zu der Behauptung »einer völkisch-ethnischen Einheit« bei der Neuen Rechten und der AfD. Dass vor diesem Hintergrund besonders in Deutschland weiterhin eine hohe Bereitschaft vorhanden ist, Flüchtlingen zu helfen, ist durchaus bemerkenswert – und wird auch von außen so wahrgenommen.

Es gibt für die mit der »Flüchtlingskrise« einhergehenden politischen Verwerfungen ein Bündel an Ursachen und für Analyse und Verständnis noch andere sozialwissenschaftliche Ansätze, aber wenn an der Diagnose etwas dran ist, dass die »ethnische Saat« in allen Gesellschaften vorhanden ist, es in allen Gesellschaften weltweit einen Kern an Rassismus gibt, und diese Saat zunehmend auf fruchtbaren Boden fällt, dann bieten sich eher düstere Szenarien.

 

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