»Keshet«, »Hillel«, »Zusammen«, »Studentim«: Exemplarisch stehen diese Vereine und Organisationen für einen sich seit über zehn Jahren abzeichnenden Wandel in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Ob Rechte und Sichtbarkeit von queeren Jüdinnen und Juden (Keshet), Vernetzung sowie religiöse und kulturelle Angebote für jüdische Studierende (Hillel, Studentim) oder Aktivitäten für israelischstämmige, in Deutschland lebende Juden (Zusammen): Die vor allem in Berlin und weiteren Großstädten aktiven Vereinigungen sprechen Themen und Bedürfnisse zumeist junger Erwachsener an, die oft kaum Berücksichtigung im Programm der jüdischen Gemeinden vor Ort finden.
»Es besteht Bedarf, Diversität, Pluralität und auch verschiedene Zugänge zu schaffen«, sagt Anastassia Pletoukhina. Mit Doing Judaism hat die 1986 in Moskau geborene, in Berlin lebende Sozialwissenschaftlerin unlängst eine umfängliche Analyse des ehrenamtlichen Engagements jüdischer junger Erwachsener vorgelegt. Pletoukhina untersucht darin, warum in den vergangenen Jahren immer mehr Organisationen, Projekte und Initiativen für Jüdinnen und Juden im Alter von 18 bis 39 außerhalb der etablierten Gemeindestrukturen entstanden sind. In unterschiedlichen aktiven Rollen ist sie auch selbst ein Teil dieses Phänomens.
»Eine Gemeinde kann nicht sowohl Party machen als auch orthodoxe Gottesdienste anbieten.«
Pletoukhina beobachtet eine Tendenz zur Ausdifferenzierung der Angebote, die von den jüdischen Gemeinden in der gesamten Vielfalt nicht geleistet werden kann: »Eine Organisation kann nicht sowohl Party machen als auch orthodoxe Gottesdienste durchführen und gleichzeitig reformjüdische Betrachtungsweisen heiliger Schriften anbieten.« Ein weiterer Faktor sei das Bedürfnis junger Erwachsener, mit eigenen Strukturen schnell auf Entwicklungen wie die Coronapandemie oder auf Ereignisse wie etwa den Anschlag von Halle oder das Massaker vom 7. Oktober 2023 zu reagieren: »Wir haben unsere Ideen und wollen sie nicht erst mal in eine bürokratische Struktur einbringen und dadurch Zeit verlieren.« Dieses Verständnis von der eigenen Handlungsfähigkeit sei ganz entscheidend, betont Pletoukhina.
Keine lebenslange Bindung an eine Gemeinde
Zudem verstünden viele junge Erwachsene das angestammte Konzept der Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde nicht mehr. Diese Bindung sei ihnen fremd. Die Gemeindemitgliedschaft sei in der jüdischen Gemeinschaft als lebenslanges Modell angelegt, erläutert Karen Körber, Leiterin der jüdischen Gegenwartsforschung am Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden: Man werde in die Mitgliedschaft hineingeboren, und sie ende mit dem Begräbnis auf einem jüdischen Friedhof.
In der nachwachsenden Generation beobachtet Körber – auch außerhalb der jüdischen Gemeinschaft, etwa bezogen auf Kirchenmitgliedschaften oder Gewerkschaften – ein gewandeltes Verständnis von Selbstorganisation und Mitgliedschaftsformen: »Heute haben Sie Formen von Zugehörigkeiten, die im angestammten Begriff der Mitgliedschaft nicht mehr aufgehen, sondern sehr viel mobiler und flexibler sind.« Es gehe viel stärker um die eigenen Interessen der jeweiligen Lebensphase, aber auch der Attraktivität eines Angebotes.
Anspruch auf eine religiöse Pluralisierung und auf individuelle Lebensentwürfe.«
Dass jüdische junge Erwachsene sich organisieren, um auf eigene Interessen und Bedürfnisse zugeschnittene Angebote zu schaffen, sei, so Körber, kein neues Phänomen: »In der sogenannten Zweiten Generation der Nachgeborenen der Schoa-Überlebenden gibt es auch schon solche Aufbruchsbewegungen in der Nachfolge von 1968.« Auch die Fragestellungen der damaligen Initiativen ähnelten durchaus den heutigen: »Der Anspruch auf eine religiöse Pluralisierung und auf individuelle Lebensentwürfe, die sich nicht in ein eher formiertes Gemeindeleben überführen lassen; auch das Bedürfnis danach, vor allem in der eigenen Altersgruppe zusammenzukommen; das Bestreben, darin auch Fragen aufzuwerfen, etwa was jüdisch-nichtjüdische Ehen und den Status der Kinder angeht.«
Zuwanderung aus der Ex-UdSSR
Gleichwohl hätten die in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit aktiven jüdischen Gruppen viel stärker innerhalb der Gemeindestrukturen agiert. Und selbst die Protagonisten der 1980 in Frankfurt gegründeten »Jüdischen Gruppe« um Dan Diner, Micha Brumlik und Cilly Kugelmann seien weiterhin Gemeindemitglieder gewesen. »Die Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden sind zu dieser Zeit so klein, dass die Schaffung von eigenen Räumen jenseits dieser Strukturen erst mal nicht in einem nennenswerten Umfang zu beobachten gewesen wäre«, so Körber. Das habe sich im Verlauf der 2000er-Jahre geändert. Infolge der Einwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion erhielten die bestehenden jüdischen Gemeinden starken Zulauf, einige wurden neu gegründet.
Einwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion beschert jüdischen Gemeinden starken Zulauf.
Ein weiterer Unterschied zu den 1970er und 1980er Jahren ist laut Körber, dass jüdische Organisationen aus den USA und Israel mit ihren Angeboten religiöser und säkularer Gestalt mittlerweile auch in Deutschland aktiv seien: »Sie bieten jüdischen jungen Erwachsenen die Möglichkeit, andere, schon organisierte Selbstverständnisse kennenzulernen und, daran orientiert, entweder etwas Eigenes zu machen, oder innerhalb dieser Organisationen eigene Strukturen oder Gruppen aufzubauen und Themen zu entwickeln.« Beispiele für solche Angebote sind »Nevatim«, ein Programm der Jewish Agency for Israel zur Förderung von Initiativen für jüdische Bildung in Deutschland, die eingangs erwähnte US-amerikanische Studentenorganisation Hillel und die Grassroots-Initiative »Limmud«, die jüdische Lernfestivals organisiert.
Und auch die Rolle der jüdischen Dachverbände, beispielsweise des Zentralrats der Juden in Deutschland, habe sich, so Körber, in den vergangenen 20 Jahren gewandelt: »Es gibt einen strategischen Umgang damit, junge Professionelle aufzubauen – in der jungen Generation also Leute zu finden, die dauerhaft in diesen Organisationen oder neuen Gruppierungen tätig sind und Initiatoren werden, damit sich dort etwas organisieren kann.« Tatsächlich ist der Zentralrat auf diesem Feld vermittelnd und mitgestaltend aktiv. »Wir versuchen immer in unserer Arbeit mit lokalen Gemeinden oder Landesverbänden, diese Gruppen, Vereine und Initiativen miteinander und mit den etablierten Strukturen – den Gemeinden und Landesverbänden – zu verbinden«, erläutert Anja Olejnik den Ansatz. Im Zentralrat der Juden betreut sie das Projekt »Gemeindecoaching«, welches jüdische Gemeinden auf dem Weg zu einer nachhaltigen Organisationsentwicklung berät und begleitet. Jüngst ist unter ihrer Mitarbeit eine Handreichung für Führungskräfte, Mitarbeiter und Ehrenamtliche in Gemeinden, Landesverbänden und anderen jüdischen Organisationen zum Umgang mit jüdischen jungen Erwachsenen entstanden.
Jüdische Gemeinden und Grassroots-Initiativen
Lokale und regionale Kooperationen und eine Anbindung an die Gemeinde seien sehr sinnvoll, sagt Olejnik. Seitens der jüdischen Gemeinden vor Ort müsse allerdings eine Reihe von Dingen vorhanden sein: »Etwa strukturelle Dinge, Ressourcen sowie eine Offenheit für die jungen Menschen und ihre Lebenswelten, Lebensrealitäten und Bedürfnisse.« Auf der anderen Seite seien vor allem Grassroots-Initiativen und Gruppen, die weniger Ressourcen haben, offener für Kooperationen als große, etablierte Organisationen. Von beiden Seiten – Gemeinden und Initiativen – seien zwar eine gewisse Angst und auch ein kleiner Konkurrenzkampf zu beobachten. Ein strikt abgegrenztes Nebeneinander der jeweiligen Angebote sieht Olejnik aber nicht, im Gegenteil: »In den meisten Fällen gibt es irgendeine Art der Kommunikation oder Zusammenarbeit.«
Überhaupt begreift Anja Olejnik die Vereinigungen für jüdische Studierende und junge Erwachsene nicht als Ersatz für die angestammten Gemeinden: »In einem sehr kurzen Zeitraum bieten die Organisationen den jungen Menschen etwas, was sie etwa als Studierende brauchen. Sobald sie aber Kinder bekommen und eine jüdische Kita oder Schule sowie andere Angebote und Dienstleistungen brauchen, ist das außerhalb der Gemeinden nicht vorhanden.«
Generell sei es, so Olejnik, vor allem für kleinere jüdische Gemeinden schwierig, möglichst viele unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen: »Sie haben kaum Kapazitäten, um alle möglichen Interessen und Gruppen zu bedienen.« Auch deshalb seien Kooperationen sehr wichtig. Mancherorts finden zielgruppenspezifische Angebote, etwa für queere Jüdinnen und Juden, bereits Eingang in das Programm der Gemeinden: »In einigen Gemeinden und Synagogen hat Keshet seine Veranstaltungen abgehalten.« Der Verein habe zudem, wie einige weitere Initiativen, Unterstützung vom Zentralrat erhalten, berichtet Olejnik. Im besten Fall könnten Organisationen wie Keshet mithelfen, auch jüdische Menschen anzusprechen, die in Deutschland leben, aber keine Gemeindemitglieder sind: »Sie können eine Brücke sein.« Die Gemeinden müssten diese Chance ergreifen. Generell blickt Anja Olejnik positiv auf die Ausdifferenzierung der Angebote für jüdische Erwachsene: »Ich sehe da nur Potenzial und Chancen.«
»Es ist nicht möglich, alleine jüdisch zu sein.«
Bei aller denkbarer Kritik am Modell »Jüdische Gemeinde« und ihren mitunter starr erscheinenden Strukturen hörte Anastassia Pletoukhina in den Interviews für Doing Judaism vor allem »den Wunsch, dass die Gemeinden funktionieren, sodass sie auch die junge Generation inkludieren«. Die Liebe zur Community sei auch unter jüdischen jungen Erwachsenen ungebrochen. Das liege, so Pletoukhina, auch an einer Eigenart des Judentums: »Es ist nicht möglich, alleine jüdisch zu sein. Die Traditionen sind immer an eine Gemeinschaft gebunden.« Und so werden auch künftige Generationen junger Jüdinnen und Juden nach geeigneten Wegen suchen, um ihre Religion, Kultur und Identität gemeinsam zeitgemäß zu leben – unter dem Dach einer Gemeinde oder in eigenen Strukturen.
Anastassia Pletoukhina: Doing Judaism. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2023, 226 S., 27,90 €.
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