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Olga Martynova, Lyrikerin, Essayistin, 2018 Frankfurter Buchmesse © picture alliance / SvenSimon | Anke Waelischmiller/SVEN SIMON

Aus meinem Tagebuch der Kriegszeit

Olga Martynova, 1962 im sibirischen Dudinka geboren und im damaligen Leningrad aufgewachsen, studierte dort russische Sprache und Literatur. 1991 zog sie zusammen mit ihrem Mann, dem Lyriker Oleg Jurjew (1959–2018) nach Deutschland. Sie wurde unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis (2012) und dem Berliner Literaturpreis (2015) ausgezeichnet. Martynova lebt heute in Frankfurt am Main.

Das Tagebuch hat in ihrem Schreiben einen festen Platz. Ihr zuletzt erschienener Essayband »Über die Dummheit der Stunde« endet mit dem Tagebuch einer Reise auf die Krim. Wir publizieren hier Auszüge aus Tagebuchnotizen, die in den ersten Wochen des Krieges in der Ukraine entstanden sind.

4. März 2022

Aus den Telefonaten mit Russland: Jedes Mal, wenn *** an einem offenen Fenster vorbeiläuft: die Versuchung, sich hinunterzustürzen. Alles, wofür er gelebt hatte, sei sinnlos geworden. *** hat sich immer mit der Geschichte der absurden Poesie beschäftigt. Jetzt ist er vor dem Irrwitz dieses Krieges ratlos. Er weigert sich, das, was gerade geschieht, als möglich wahrzunehmen. Ich sage ihm: Dann habe er die Philosophie des Absurden nie ernst genug genommen.

Kollegen im Westen (nicht alle, eher wenige) sagen manchmal nicht ohne Herablassung, die Russen hätten all das verschuldet, wenn auch, fügen sie hinzu, es natürlich »auch großartige, kluge, tapfere« Russen gibt. Dieser Krieg bedeutet nicht nur für Russland einen Rückschritt, überall neigt man zu neuen Nationalismen, was diese charmante Figur: „… natürlich gibt es auch gute Russen …« bezeugt. Russen, Ukrainer und die ganze Welt sind momentan Geiseln eines Verrückten, dessen Finger über einem roten Knopf zuckt und die ganze Welt zu vernichten droht. Wenn alle 150.000.000 Russen jetzt auf die Barrikaden gehen, wird das nichts ändern.

8. März.

Aus Brechts Arbeitsjournal, 1942, Kalifornien: »hier lyrik zu schreiben, selbst aktuelle, bedeutet: sich in den elfenbeinturm zurückzuziehen. es ist, als schreibe man goldschmiedekunst. das hat etwas schrulliges, kauziges, borniertes. solche lyrik ist flaschenpost. die schlacht von smolensk geht auch um die lyrik.« Ich habe einmal dieses Zitat ins Licht einer anderen Flaschenpost gestellt: Mandelstamm und der ihm folgende Celan sehen ein jedes Gedicht als Flaschenpost, die, so Celan, »aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht.« Also was für Brecht borniert und schrullig ist, ist für Mandelstamm und Celan der Sinn und Zweck. Gedichte schaffen in dem sinnlosen Chaos kleine Inseln der Ordnung. Hoffnungslos.

9. März

… Die Unmöglichkeit, damit zu leben, zu lesen, zu lachen, zu telefonieren, zu schreiben, selbst einfache E-Mails. Und dabei – lebt man, schreibt, lacht, telefoniert, schreibt E-Mails, schreibt.

23. März

Aus den Telefonaten mit Russland: *** kommt zum Psychiater und schildert seinen seit dem 24.2. andauernden Zustand. Der Psychiater sagt: »Sie können entweder anfangen, staatliches Fernsehen zu schauen und sich umprogrammieren zu lassen, oder Antidepressiva nehmen«, und gibt ihm ein Rezept: »Nehmen Sie das, sagen wir, zwei Monate, im Mai werden wir möglicherweise auf einem gewissen Grab zusammen tanzen und singen.« Letzteres spiegelt die Unmöglichkeit, zu glauben, dass dieser Schwachsinn länger andauern kann. *** lebt im äußersten Norden, am Weißen Meer. Er kommt in seinem Dorf in den Friseurladen und fürchtet, dass ihm die Friseurin, von der er vermutet, sie sei eine alte Stalinistin, ein »Z« in den Hinterkopf rasiert.

24. März

Aus den Telefonaten mit Russland: Vor einem Mehrfamilienhaus stehen blaugelbe Mülltonnen. Aus Angst, man könne das als Protest gegen den Angriff auf die Ukraine deuten, ließ der Hausmeister die Mülltonnen neu streichen. Die Bewohner des Hauses, die tatsächlich gegen den Angriff auf die Ukraine sind, verlangen seine Entlassung, unter dem Vorwand, er habe ohne ihre Erlaubnis das Haushaltsgeld für die Farbe ausgegeben. Aber verrückt ist die Welt überall: »Louis Vuitton« (nie gehört, es soll ein Luxus-Label sein) hat eine Schmuckkollektion präsentiert, wo aus des Labels Initialen, »L« und »V«, ein dem »Z« ähnelndes Muster entstanden ist. Kunden sehen darin das »Z« der russischen Propaganda und sind empört (https://www.stylebook.de/fashion/louis-vuitton-schmuck-kritik).

25. März

Aus den Telefonaten mit Russland: Eine Schule in St. Petersburg bekam einen Befehl von der Schulbehörde, einen Propagandafilm zu zeigen. Die Lehrer sagten den Kindern, dass nun in der Aula ein Film laufen werde, der eine der Sichten auf die aktuellen Geschehnisse zeige, alle seien eingeladen, wer Hunger habe, könne allerdings in die Schulkantine gehen. Der Film lief im leeren Saal.

26. März

Die Dummheit dieses Krieges übertrifft alle Vorstellungen vom Möglichen. Ich wüsste keinen anderen Fall in der Geschichte, wo alle Berechnungen eines Staatsoberhaupts so falsch gelegen hätten. Wie in einem Nebenstrang der Geschichte, als wäre der Zweite Weltkrieg wieder ausgebrochen, mit umverteilten Rollen, als hätten Kinder, die noch nicht lesen können, ein Geschichtsbuch in die Hände bekommen und daraus mit Schere und Kleber die heutigen Ereignisse gebastelt.

12. April

Die Rückkehr des Eurozentrismus. Aus den Gesprächen mit Kollegen bei einer Konferenz:

»Auch ich merke, ich beginne zu denken, Russen seien weniger europäisch«, sagt einer in beichtendem Tonfall. Als wäre »europäisch« selbstverständlich besser, menschlicher und gewaltfreier. Damit werden nicht Russen herabgesetzt, die natürlich Europäer sind, mit allen europäischen Macken und Sünden, sondern Asiaten und Afrikaner, denen man einen Mangel an irgendwelchen a priori angenommenen Gefühlsfeinheiten unterstellt.

19. April

Aus den Kommentaren in social media zu meinem Artikel in der Ausgabe 16/2022 von »Die Zeit«, in dem ich davon spreche, dass die allgemeine Stimmung in Russland deprimiert und weit von einer Kriegsbegeisterung entfernt ist und warum man den aktuellen Meinungsumfragen in Russland nicht trauen darf: »Olga kann wieder zur Wolga und da rumquasseln.«

20. April

Was bedeutet »politisches Denken«? Einige meinen, sie würden politisch denken, wenn sie gut geschimpft haben. Emmanuel Lévinas definiert in einem Gespräch das Politische als die Tatsache, »dass wir nicht zu zweit, sondern mindestens zu dritt sind«. Das bedeutet eine Verantwortung vor dem Anderen, den wir nicht einmal kennen, also nicht vor einem direkten Gesprächspartner, sondern vor einem beliebigen Dritten. Das ist für mich die beste Definition des Politischen.

Es wäre richtig, wenn ukrainische, belarussische und russische Schriftsteller miteinander sprächen (»Von den Ukrainern, den Russinnen und den Belarussen zu sprechen, verdeckt aus meiner Sicht das Wesen dieses Krieges. Dies ist ein Krieg einer imperialen Macht gegen die pluralistische, freiheitliche Demokratie. So gesehen sind die Revolution in Belarus, die oppositionellen Proteste in Russland und der Kampf gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine Glieder von ein und derselben Kette. Immer wieder habe ich den Satz gehört: »Wie können wir euch helfen?« Dabei wäre die größte Hilfe, nicht mehr in den Kategorien wir und ihr zu denken«, schreibt die belarussische Übersetzerin deutscher Literatur Iryna Herasimovich: www.republik.ch/2022/03/09/im-dazwischen-von-iryna-herasimovich).

Jetzt kann von keinem gemeinsamen Gespräch die Rede sein. Vielleicht wäre das auch überflüssig, jetzt zu sprechen. Vielleicht sollte man eine große Pause einlegen. Oder nicht. An dieser Stelle weiß ich nicht, was richtiger ist.

Am Vortag des Krieges las ich Günther Anders’ Tagebuch von 1941. Da er in den USA als feindlicher unqualifizierter Ausländer (»enemy alien«, »unskilled worker«) eingestuft wurde, putzt er in einem Hollywood-Magazin Kostüme: von griechischen Sandalen bis zu Nazistiefeln. Ihm fällt ein, dass daraus ein Ersatz-Europa würde, wenn es das eigentliche Europa, dass gerade im Begriff sei, sich zu vernichten, nicht mehr geben würde.

Enemy alien. Adorno, Benjamin, Brecht, alle Manns, Hannah Arendt – ich habe über sie nie unter diesem Blickwinkel nachgedacht. Wie stark war die Feindschaft des Umfeldes?

Jeden Tag wird in Russland mehr verboten, immer mehr elementare Handlungen werden gefährlich. Ukrainische Schriftsteller, die jede gemeinsame Aktion mit den russischen Kollegen ablehnen: Sie lassen ihre Wut auf Putin an russischen Dichtern aus. Das erinnert an ***s Tochter, die sagt: »Mama, wenn Du auf Putin wütend bist, warum schreist du mich an?«

Aber wir hier? Werden wir auf Chauvinismus, Hass und die obsoleten Vorstellungen von Patriotismus, die jetzt aus dem offiziellen Russland kommen, mit den gleichen Ressentiments antworten?

28. April

Walter Benjamin in den 1940 geschriebenen Thesen »Über den Begriff der Geschichte«: »Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches.« Und aus demselben Werk, eine Bemerkung, die mir hilft, mit meiner Unsicherheit in allem, was ich sage und denke, klarzukommen: »Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung.«

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