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Zum digitalen Wahlkampfauftakt der SPD »Aus Respekt vor Deiner Zukunft«

Das war er also, am 9. Mai der erste digitale Bundesparteitag in der mehr als 150-jährigen Geschichte der SPD. Fast sechs Stunden ein bisschen wie bei den Geisterspielen der Fußball-Bundesliga. Eine in Rottönen gehaltene Inszenierungskulisse im Berliner CityCube, mit Podium, kurzen Abstimmungspausen, Grußworten (DGB-Vorsitzender, portugiesischer Ministerpräsident), Filmeinspielern, auflockernder Soulmusik vor der Kandidatenrede: aber alles ohne Publikum. Mit nur zwei Handvoll negativ Corona-getesteten Akteuren (die engste Parteiführung und das Tagungspräsidium), aber mit fast 600 Delegierten zu Hause an den Bildschirmen und zehntausenden Zuschauerinnen und Zuschauern im Livestream und bei Phönix – so viele hätten natürlich niemals in eine Berliner Halle gepasst.

Das Experiment gelang: das Programm für die künftige Regierungsarbeit digital zu diskutieren und zu beschließen sowie Geschlossenheit hinter dem »gekrönten« Kanzlerkandidaten zu demonstrieren, 96,2 % wählten Olaf Scholz. Doch brauchen die 400.000 SPD-Mitglieder nicht Mobilisierung und Attacke, das Ärmelaufkrempeln, die Lust am politischen Kampf und den Sprung ins Debatten-Getümmel? Klar, dieses Format war wegen der Pandemie alternativlos, aber kann so der Funken überspringen? Wieweit eine fast perfekte virtuelle Präsentation ohne Gemeinschaftserlebnis, ohne Parteiabend und gemeinsames Bier, ohne Ganggespräche und Landesgruppensitzungen, ohne dass der Saal zum Kochen gebracht wurde, ohne rhythmisches Klatschen und Singen zum Abschluss ein mitreißendes Signal des Aufbruchs verbreiten kann, wird man sehen.

Die Menschen sind nicht gegen die SPD, aber sie vertrauen der in den letzten Jahren errungenen Geschlossenheit noch nicht so wirklich. Notwendig war 140 Tage vor der Wahl der Start zur Aufholjagd, nur durch eine erstarkte SPD kann eine Regierung jenseits der Union möglich werden. Selbst von der Maskenaffäre der Union und dem brutalen Machtkampf zwischen Söder und Laschet hatten andere profitiert. Aber da war ja noch kein Wahlkampf und neu ist die Erkenntnis nicht, dass die SPD wenig davon hat, dass sie seit Jahren die treibende und soziale Kraft der Groko ist. Zudem trifft die Unzufriedenheit mit dem Corona-Krisenmanagement beide Regierungsparteien. Verhängnisvoll wäre es, wenn sich das Weiter-so der Union oder die grüne Klimapolitik für ökologische Eliten als die hegemoniale Alternative verfestigen würde. Andererseits ist die Volatilität hoch, ist eine diffuse Wechselstimmung da, jenseits von Angela Merkel wirken die Konservativen programmatisch ausgelaugt, inhaltlich leer, mit unklarem Kurs – welche Rolle werden Friedrich Merz und Hans-Georg Maaßen spielen? Malu Dreyer verbreitete da Mut, Aufholjagd ist möglich, das hat sie im März diesen Jahres in Rheinland-Pfalz gezeigt, sie lag ein paar Wochen zuvor 6 % hinter und am Wahltag schließlich 8 % vor der Union.

Im kurzen Wahlkampf muss die SPD mit ihren Themen durchdringen: Wem traut man am ehesten zu, mit einer entschlossenen Kehrtwende Wirtschaft, Forschung und staatliches Handeln auf notwendige Zukunftsinvestitionen, auch den neuen sozialökologischen Gesellschaftsvertrag, auszurichten? Und wer gestaltet dies so, dass Arbeit und Zusammenhalt im Mittelpunkt stehen – und sich Lebenslagen und Anerkennung der »working class« (der Gering- und Durchschnittsverdiener, der Opfer der COVID-Pandemie) spürbar verbessern? Und welcher Kandidat bzw. welche Kandidatin kann konkrete Zukunftsprogrammatik am besten mit politischer Erfahrung und Durchsetzungskraft verbinden?

Die 20er Jahre sind eine Zeitenwende. Die SPD hat ihr Profil geschärft mit einem Zukunftsprogramm, das realistisch ist und die Gegenwart nicht ausklammert: gegen die wachsende Ungleichheit, gegen den menschengemachten Klimawandel, für sichere Arbeit für morgen, für die Gestaltung des digitalen Wandels, für mehr Zusammenhalt in einer bunten Gesellschaft der Vielfalt. Ist es nicht allein die SPD, die dafür sorgen kann, dass Klimaschutz nicht in Gegensatz zur wirtschaftlichen Stabilität und sozialen Gerechtigkeit gerät, dass die Digitalisierung in Europa so gestaltet wird, dass sie nicht nur den Digitalkonzernen und Paketdiensten nützt? Ihre Leitbegriffe sind: Zukunft sichern, Respekt erneuern, Europa stärken. Dazu wurden vier Zukunftsmissionen konkretisiert: »Klimaneutrales Deutschland, Modernstes Mobilitätssystem Europas, Digitale Souveränität in Deutschland und Europa, Update für die Gesundheit«.

Die programmatische Eintracht ist ehrlich innerparteilich erarbeitet, da sind keine Formelkompromisse mehr. Das wurde auf dem Parteitag auch durch die offene Debatte und die 70:30-Ablehnung zweier Initiativanträge sichtbar: Nina Scheer wollte Klimaneutralität bereits weitere fünf Jahre früher und Franziska Drohsel bewarb noch einmal den im Land Berlin vom Verfassungsgericht gekippten Mietendeckel. Die Schlussabstimmung des Zukunftsprogramms brachte die einmütigen 99,39 % Zustimmung. Tatsächlich war das Programm seit dem Herbst breit debattiert worden, in den sozialen Medien, in einem digitalen Debattencamp, in Diskussionen mit Verbänden, ja »mit Beiträgen von Tausenden von Mitgliedern«, wie Generalsekretär Lars Klingbeil betonte.

In den dreiminütigen Redebeiträgen der Delegierten wurde die ganze Breite des Programms entfaltet: von der Juso-Vorsitzenden Jessica Rosenthal, die sich darüber freute, dass knapp 80 Jusos (also SPD-Mitglieder unter 35) für den Bundestag kandidieren, über den hessischen Landtagsabgeordneten Stephan Grüger, der daran erinnerte, wie der Sozialdemokrat Hermann Scheer (und nicht die Grünen) das Solarzeitalter vorgedacht hatte, über die Landesministerin aus Mecklenburg-Vorpommern Bettina Martin, die die Förderung der ostdeutschen Wissenschaftspolitik unterstrich, über die Bundestagsabgeordnete Heike Behrens, die zur Bürgerversicherung und umfassenden Pflegereform sprach, über den Wirtschaftsprofessor Gustav Horn, der die Vision eines digitalen Zeitalters mit ökologisch-nachhaltiger Produktion entwarf, bis hin zum Wuppertaler Bundestagsabgeordneten Helge Lindh, der die rechte Gefahr beschwor: »Ich bin eine Art Versuchslabor für die ›Hater‹ dieser Republik«.

Klar, dass damit nur auf ein knappes Zehntel der Wortmeldungen hingewiesen werden konnte. Zudem ist der 9. Mai auch »Europatag«, ein willkommener Anlass im letzten Teil der Debatte zu verdeutlichen, wie sehr immer mehr Problemlösungen – vom Klima über das Digitale bis zur Pandemie – auf gemeinsamer Europapolitik basieren (was für die SPD eigentlich seit 1925, dem Heidelberger Programm, klar ist). Und gerade Olaf Scholz steht ja in den letzten Jahren für den Abschied von Austeritätspolitik und Bevormundung und für die gemeinsame europäische Geldaufnahme.

In seiner wichtigen Rede erläuterte der Kandidat, nach einem ungewohnt emotionalen Einstieg zum »historischen Einschnitt« der Corona-Pandemie, seinen Bundeskanzler-Plan, er versah das verabschiedete Zukunftsprogramm mit seinen besonderen Akzenten. Zwar habe die SPD als Koalitionspartner mitregiert, »und das Land steht besser da, als wenn wir das nicht getan hätten«. Doch er sei es leid, »dass wir nur dafür sorgen, dass es nicht so schlimm kommt«. Er wolle keine Politik »des Zauderns, des Zögerns, des Verhinderns« mehr, sondern wie es früher hieß (allerdings bei Helmut Kohl, d. A.): »Auf den Kanzler kommt es an«. »Wir müssen uns wieder was vornehmen, wir müssen wieder in Gang kommen«. Dafür will Scholz als Kanzler kämpfen – »mit Leib und Seele, mit Herz und Verstand«.

Schlüsselbegriffe der Rede und des Wahlkampfes sind Respekt, Fortschritt, Aufbruch. Dabei ist eine »Gesellschaft des Respekts« Scholz’ »Leitbild für Deutschland«, es geht um Zusammenhalt und Anerkennung, darum, die Gesellschaft »auf Augenhöhe zusammenzubringen«, wieder mehr Vertrauen zueinander zu haben. Die SPD ist für die Menschen da, dass in den anstehenden großen Veränderungen der kommenden zehn Jahre »das Leben für alle besser werde«. Es geht besonders um Respekt vor jeder Arbeit, um gute Arbeitsplätze, um gerechte Besteuerung (Entlastung für viele und mehr Belastung für die oberen 5 %), Deutschland müsse »zu einem der besten Sozialstaaten der Welt werden«. Olaf Scholz verspricht noch im ersten Jahr als Bundeskanzler die Einführung des erhöhten Mindestlohns von zwölf Euro, was für etwa zehn Millionen Beschäftigte in Deutschland mehr Geld bedeuten würde. Auch die Versorgung im Alter müsse besser werden, Löhne in Westdeutschland und Ostdeutschland sollen angeglichen und mehr Tariflöhne eingeführt werden. Künftig müsse »jedes Pflegeheim nach Tarif bezahlen, das werden wir gesetzlich regeln«. Auf der Agenda des Kanzlerkandidaten stehen auch bessere Bildungschancen und die Kindergrundsicherung. Und ein Mietenmoratorium überall dort, wo extreme Wohnungsknappheit herrscht, sowie ein »neuer Aufbruch für das Bauen«, mit künftig mindestens 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr.

Scholz erläuterte seinen »präzisen Plan für den Weg in die Zukunft«, im Zentrum stehen eine »breite Fortschrittsallianz«, modernste Technologien und das Infrastrukturprogramm der vier Zukunftsmissionen. Die Mobilität muss moderner werden, etwa durch den Ausbau des Schienennetzes und des öffentlichen Nahverkehrs. Und mit einer »Automobilindustrie des 21. Jahrhunderts«, weg vom Verbrenner hin zu mehr E-Mobilität. Natürlich bekennt sich Scholz klar zum Pariser Klimaabkommen, die Bundesregierung war ja gerade nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil dem Vorschlag von Scholz und Bundesumweltministerin Svenja Schulze gefolgt, bereits bis 2045 Klimaneutralität anzustreben, was folglich auch so im Zukunftsprogramm festgehalten ist. Der Weg zu einem besseren Klima führe vor allem über mehr erneuerbare Energien. Doch der saubere Strom müsse auch kostengünstiger werden. Darum werde die SPD die Bürger vollständig von der EEG-Umlage befreien. In der Digitalisierung geht es besonders um den zügigen Breitbandausbau – und zwar überall, auch in Bayern, wo das Bild der Delegierten erkennbar oft ruckelte. Doch auch das Bildungssystem brauche eine funktionierende Digitalisierung. Gerade die Corona-Pandemie habe aufgezeigt, wie groß hier noch manche Funklöcher sind. Nicht nur in den Schulen zeigten sich große Probleme, teils hatten Gesundheitsämter ihre Daten noch per Fax verschicken müssen. Für das Gesundheitssystem habe gerade die Pandemie einen deutlichen Nachholbedarf offenbart. Die SPD wolle dafür sorgen, »dass uns so eine Lage nie wieder überrollen wird«. Doch nicht nur für Pandemien müsse das Gesundheitssystem besser gerüstet werden, es brauche eine bessere ambulante Versorgung, eine bessere Ausstattung des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Und endlich soll die Bürgerversicherung Realität werden, »in die alle einzahlen und von der alle profitieren«. Nicht zu vergessen der Punkt »faire Globalisierung«, denn europäisch und mit Joe Biden habe die gerechtere Besteuerung der großen internationalen Konzerne, wofür Scholz sich seit Langem einsetzt, neue Chancen.

Nicht der »konservative Fortschrittsstau«, einfach alles mehr oder weniger laufen zu lassen, als ob der Markt die Dinge von alleine zum Besseren regele, nicht bloße »Träume«, ohne diese mit politischem Handeln zu verbinden, ohne diese in praktischen Fortschritt umzusetzen und durch Infrastrukturmaßnahmen durchzusetzen: Das markiert gewissermaßen den dritten Weg der »handfesten Lösung für alle Menschen, die Deutschlands Stärke ausmachen« – und der nun zur Wahl steht. Am Ende gab es großen Applaus für Olaf Scholz, allerdings aus dem Gefängnis der digitalen Kacheln heraus. Wieweit man sich aus diesem wird befreien können, wird für die Dynamik des Wahlkampfes bedeutsam sein. Das entscheidende Spiel, in dem es aufwärts gehen sollte, ist eröffnet.

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