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Neue Bücher über die USA Aus Vielfalt zur Einfalt

Immer wieder hat Ernst Jünger über den Begriff der »Désinvolture« sinniert, den er sich gelegentlich mit »Unschuld« oder gar »Anmut« der Macht übersetzt hat. Im Allgemeinen bedeutet er schlichtweg Ungezwungenheit oder auch Ungeniertheit. Man könnte solche Haltung einer Macht zuschreiben, die sich ihrer selbst und ihrer eigenen Legitimität so sicher ist, dass sie der Gewalt oder selbst des Gedankens an sie gar nicht bedarf.

Eine gewisse Ungeniertheit der Macht kann man den USA während der Präsidentschaft eines Donald Trump nicht absprechen. Wenn er deren »Greatness« beschwört, fällt einem aber auch das Märchen vom Kaiser ein, der trotz seines Leibes Blöße ungeniert auftritt, weil er nicht weiß oder nicht wissen will, dass er nackt ist. Hier liegt der Unterschied zwischen den oft fälschlich synonym verwendeten Begriffen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, denn letzteres schließt implizit das Wissen um die eigene Fehlbarkeit ein.

Bei der Gründung der Vereinigten Staaten fand beides zusammen: ein durch magisch-religiöse Formeln wie »In God we trust« und »E pluribus unum« (»von der Vielzahl zur Einheit«) bekräftigtes Selbstvertrauen und ein kritisches Selbstbewusstsein, das sich in jenen checks and balances ausdrückt, die trotz der enormen Machtfülle des US-Präsidenten ein Funktionieren der Gewaltenteilung sichern sollen. Es sollte dann noch ein Jahrhundert dauern, bis die Verbindung von Anmut und Großmacht ihre rechte Verkörperung fand: »Am 28. Oktober 1886 fuhr Präsident Grover Cleveland zu einer tränenförmigen Insel im Hafen von New York, um Frankreichs Geschenk der Freiheitsstatue offiziell entgegenzunehmen. Unter bleiernem Himmel und bei leichtem Nebel beendete der Präsident seine Rede mit einer Hommage an die Fackel der in Kupfer gewandeten Dame und an ihre symbolische Kraft: ›Ein Strahl des Lichts soll die Finsternis der Ignoranz und der Unterdrückung des Menschen durchbrechen, bis die Freiheit die Welt erleuchtet‹«, zitiert ihn der Journalist Mitchell Zuckoff in seinem Buch 9/11. Zuckoff liefert eine so genaue wie empathische Darstellung eines der traumatischsten Ereignisse der amerikanischen Geschichte und beweist dabei sein Gespür für die Symbolkraft des Marginalen. »Nine Eleven«, wie man das Datum der Anschläge auf World Trade Center und Pentagon in den USA liest, sei auch die »911«, die landesweit gültige Notrufnummer.

Zu Beginn aber erzählt Zuckoff ein weiteres Detail vom Tag der Übergabe jener Monumentalstatue, die nicht nur am Boden mit Kanonenschüssen, Reden und Blaskapellenmusik, sondern auch hoch oben in den ersten Wolkenkratzern New Yorks gefeiert wurde. Damals kam einem Büroboten in einem der hohen Türme eine verwegene Idee. Er öffnete ein Fenster und warf einige Bahnen des schmalen Papiers hinaus, auf denen normalerweise das trunkene Schwanken der Aktienkurse notiert wurde. Seine Freunde taten es ihm nach. »In kürzester Zeit war die Luft weiß von sich windenden Luftschlangen«, bemerkte ein Reporter der New York Times. »Hunderte davon verfingen sich im Netz der Stromkabel und bildeten ein verschneites Dach, und andere fielen herab und wurden von der Menge aufgefangen.«

115 Jahre lang habe diese Konfettiparade den Aufstieg der USA begleitet. Mehr als 200 Entdecker und Präsidenten, Kriegshelden und Sportler, Astronauten und religiöse Anführer, Berühmtheiten von Albert Einstein bis Nelson Mandela seien unter diesem Papierregen durch den »Canyon of Heroes« gezogen. Dann sei der 11. September 2001 gekommen: »Aufgerissen, in Flammen stehend, von innen immer schwächer werdend, spuckten die Zwillingstürme des World Trade Center Papier aus wie eine verletzte Pulsader Blut. Rechtsurkunden und Mitarbeitereinschätzungen. Gehaltsabrechnungen, Geburtstagskarten, Speisekarten. Zeitpläne und Blaupausen, Fotos und Kalender, Buntstiftzeichnungen und Liebesbriefe. Manches im Ganzen, manches zerrissen, manches brennend. Ein einzelner Fetzen Papier aus dem Südturm, der wie eine Flaschenpost aus einem sinkenden Schiff geworfen wurde, erfasste den Schrecken dieses Tages. Dort stand, neben einem blutigen Fingerabdruck, in hektischer Handschrift geschrieben: »84. Stock Büro West 12 Pers. eingeschlossen«. Danach habe es erst einmal keine solchen Paraden mehr gegeben. Aber nicht für lange: »An Konfetti gemessen, hatte die Rückkehr zum ›Normalzustand‹ nur etwas mehr als zehn Jahre gedauert.«

Zuckoff erreicht hier literarische Qualitäten, indem er das tragisch-pathetische Bild der herabregnenden Lebenszeugnisse am Ende wieder zu Konfetti werden lässt – ein Bild der Vanitas, der Eitelkeit politischer und wirtschaftlicher Macht, das die Attentäter inszeniert hatten, als sie das World Trade Center zu einem ihrer Ziele machten.

Hinter den Papierstürmen, den Rauch- und Aschewolken von 9/11 ist freilich ein Bild von absoluter Macht verschwunden, das mehr als ein Jahrhundert zuvor in den USA erzeugt worden war: »Viele Wissenschaftler des Manhattan-Projekts erschraken vor dem, was sie geschaffen hatten. Ihr Leiter Robert Oppenheimer sagte in den Worten der Hindugottheit Krishna: »Jetzt bin ich der Tod gewor­den, der Zerstörer der Welten«, so schreibt es auch Fred Pearce in seinem Buch Fallout über den Beginn des Atomzeitalters.

Einmal aus der Flasche entwichen, hielt sich der Geist des Atomzeitalters nicht an Landesgrenzen, aber nirgendwo sonst wurde er so gefeiert wie in den USA: »In dem jungen, aufstrebenden Wüstenresort Las Vegas je­doch, weniger als 120 Kilometer vom Testgelände entfernt, waren die Bombenexplosionen eine regelrechte Attraktion für Wochenendtou­risten«, heißt es bei Pearce: »Die Handelskammer vermarktete Las Vegas als ›Atomic City, USA‹ und gab Gratiskalender mit den Zeiten der geplanten Atom­tests heraus. Es war der letzte Schrei, mit Atom-Cocktails die Nächte durchzufeiern und dann den Highway 95 hinunterzufahren, um in der Morgendämmerung die Detonation aus der Nähe zu beobachten. Oder man erlebte den Atompilz und das Beben der Erde vom Hotel­zimmer aus.« So also sah die Anmut einer jungen Atommacht aus. Pearce spricht von Arroganz und Hochmut, aber auch von Paranoia.

Diese hatte sich schon lange zuvor entwickelt. Der Kampf gegen Gewerkschaften, Anarchisten und schließlich vor allem Kommunisten hat die Entwicklung der staatlichen Sicherheitsorgane der USA geprägt. Vom Aufstieg des Kommunistenfressers J. Edgar Hoover zum FBI-Chef nach der ersten »Red Scare« in den 20er Jahren (»Rote Angst« steht hier für die Furcht vor Kommunisten) über die »Second Red Scare« und Kommunistenjagd der McCarthy-Ära in den 50er Jahren gab es eine unselige Entwicklung, die das politische Klima der Vereinigten Staaten vergiftet hat. Damals wurden Formeln wie »politisch engagiert und liberal« gleich »rot« gleich »Staatsfeind« geprägt, wurden der öffentlichen Meinung jene bedingten Reflexe antrainiert, mit denen sich der Volkszorn auf Linke, sprich Demokraten entfesseln lässt. Die »hate speech«, die Thrillerautoren wie James Ellroy in ihren Romanen über jene neue Hexenjagd verwenden, erscheint heute längst wie ein Vorgriff auf die Pöbeleien, die inzwischen in Hassmails und -tweets kursieren.

Der Politikwissenschaftler Torben Lütjen sieht deshalb Amerika im kalten Bürgerkrieg. Sein Buch mit dem Untertitel »Wie ein Land seine Mitte verliert« beschreibt ein Phänomen, das nicht nur die USA betrifft. Exzessive Konfrontation wandert von den extremen Rändern in diese Mitte hinein. Rechte von Minderheiten, die man in liberaleren Zeiten als den Schutz von wenigen gutheißen mochte, erscheinen als Bedrohung, weil die Minderheiten sich vereinigt zu haben scheinen, um die ehemaligen Mehrheiten zu unterdrücken. Lütjen bemüht den Begriff »der ›af­fektiven Polarisierung‹: Gemeint ist eine stark emotional aufgeladene gegenseitige Abneigung der Parteilager, die weit stärker ist, als es die unterschiedlichen inhaltlichen Positionen allein erklären könnten«. In Bezug auf Minderheiten könne man dies so erklären, dass der Eindruck entsteht, dass Minderheiten nicht nur geschützt, sondern durch spezifische Sonderrechte privilegiert würden.

Daniel C. Schmidt beschreibt dazu in seinem Reportageband This is America, wie sich Trumps Kandidat für den Supreme Court, Brett Kavanaugh, gegen den Vorwurf sexueller Belästigung verteidigte. Aus dessen Worten habe »die meritokratische Idee« gesprochen, »dass er diese Position verdiente; egal, was jetzt gesagt wurde, weil er doch all diese herausragenden Schulen besucht und in Yale studiert hatte, weil er sich in den Dienst des Staates gestellt hatte, weil er sich engagiert hatte für Amerika, es jetzt also Zeit war, dass er dafür etwas zurückbekommt«.

Was Schmidt hier beschreibt, ist die Selbstlegitimation der Etablierten: Das haben wir uns verdient! Darin liegt ein Grundfehler nicht nur des amerikanischen Denkens. Eigentum, auch selbst verdientes, verpflichtet, und auch verdiente Privilegien bringen eine Verpflichtung mit sich. Der Streit zwischen viel Habenden und nichts Habenden lässt sich zugunsten der Mächtigeren entscheiden, aber solche Macht hat weder Unschuld noch Anmut.

Das Beispiel USA zeigt die paradoxe Entwicklung, dass Homogenisierung und Dissens Hand in Hand gehen: »Das große Versprechen der Digitalen Revolution war einmal, die Welt und die Menschen näher zusammen­zubringen, und gewiss passiert das tatsächlich jeden Tag. Die Digita­lisierung ermöglicht uns aber vor allem, nur diejenigen Orte zu betre­ten und denjenigen Menschen zu begegnen, die uns gefallen – und das sind fast immer jene, die uns ähnlich sind.« Damit gehe einher, was »der amerikanische Publizist Bill Bishop bereits 2008 als den ›big sort‹ be­zeichnet: die Sortierung Amerikas in politisch-kulturell homogene Räu­me, ausgelöst durch einen sich über Jahrzehnte erstreckenden Prozess der Binnenmigration«.

Ob gewollt oder unbewusst – man darf annehmen, dass bei Gestaltung des eigenen Lebens zunehmend eine Art von digitaler Vorsortierung stattfindet. Man geht oder zieht dorthin, wo Gleichgesinnte zu erwarten sind. Die Maxime »E pluribus unum« – von der Vielzahl zur Einheit – wird verabschiedet. So seien »den USA buchstäblich die Orte abhandengekommen, an de­nen Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten einander noch begegnen«. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die früher Menschen unterschiedlicher Klassenlage und politischer Anschauung zusammengebracht hätten, seien erodiert, schreibt Lütjen. Damit erodiert auch der Grundkonsens, dass aus Wahlen legitime Macht erwächst.

Torben Lütjen: Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert. Theiss, Darmstadt 2020, 224 S., 20 €. – Fred Pearce: Fallout. Das Atomzeitalter – Katastrophen, Lügen und was bleibt. Kunstmann, München 2020, 342 S., 25 €. – Daniel C. Schmidt: This is America. Reisen durch ein Land im Umbruch. Aufbau, Berlin 2020, 252 S., 18 €. – Mitchell Zuckoff: 9/11. Der Tag, an dem die Welt stehen blieb. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020, 704 S., 28 €.

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